Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches zum Beispiel eine umfassende Neichsfinanzreform sicherlich mit Leichtigkeit zu er¬ Und nun die Vermögensbestände der einzelnen Versicherungszweige: das Ver¬ Diese gewaltige Steuer, die sich das Reich und die besitzenden Klassen frei¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches zum Beispiel eine umfassende Neichsfinanzreform sicherlich mit Leichtigkeit zu er¬ Und nun die Vermögensbestände der einzelnen Versicherungszweige: das Ver¬ Diese gewaltige Steuer, die sich das Reich und die besitzenden Klassen frei¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0510" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/298029"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2619" prev="#ID_2618"> zum Beispiel eine umfassende Neichsfinanzreform sicherlich mit Leichtigkeit zu er¬<lb/> ledigen; der blöde Fraktionsgeist, der nur nach seinen eignen Interessen sieht, ist<lb/> es, der das verhindert. Und doch hätten gerade die Parteien, die sich mit Vor¬<lb/> liebe als Vertreter der Massen geben, am allermeisten Grund, eine ausgiebige<lb/> Reichsfinanzreform ins Leben zu rufen, weil die Verpflichtungen, die das Reich<lb/> durch seine Arbeiterfürsorgegesetzgebung übernommen hat, bei der es Lasten trägt,<lb/> wie sie keine andre Nation auf sich hat, ganz wesentlich dazu beitragen, die<lb/> Finanzreform ebenso dringend wie unabweislich zu machen. Wer sich darüber be¬<lb/> lehren will, mag das neuste Heft des Reichsarbeitsblatts zur Hand nehmen. Allein<lb/> der Zuschuß des Reichs zur Invalidenversicherung beläuft sich in den zwanzig Jahren<lb/> von 1885 bis 1905 auf weit über drei Milliarden Mark! Für die Kranken¬<lb/> versicherung sind in diesem Zeitraum ebenfalls bald drei Milliarden Mark be¬<lb/> ansprucht worden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2620"> Und nun die Vermögensbestände der einzelnen Versicherungszweige: das Ver¬<lb/> mögen der Arbeiterversicherung nähert sich der zweiten Milliarde, nachdem es im<lb/> Jahre 1899, also nach vierzehn Jahren, schon die erste Milliarde überschritten<lb/> hatte. Die von der Arbeiterversicherung geleisteten Entschädigungen, d. h. die<lb/> Summe dessen, was den Versicherten und deren Angehörigen entweder bar gezahlt<lb/> worden oder ihnen mittelbar und unmittelbar in Gestalt von Heilbehandlung usw.<lb/> zugute gekommen ist, hat ebenfalls den Betrag von vier Milliarden Mark weit<lb/> überschritten. Von allen diesen enormen Milliardenzahlen haben die Massen, zu deren<lb/> Gunsten sie aufgewandt worden sind, keine Ahnung mit Ausnahme der wenigen<lb/> Einsichtigen unter ihnen, die im Parlament oder aus den Zeitungen davon erfahren,<lb/> aber „im Parteiinteresse" darüber schweigen. Sollte es da nicht im dringendsten<lb/> Staatsinteresse liegen, den breiten Schichten klar zu machen, daß in zwanzig Jahren<lb/> für die Arbeiterversicherungen weit über sechs Milliarden aufgewandt worden sind?<lb/> Wäre es nicht von der größten Wichtigkeit, diese Zahlen endlich einmal auf alle<lb/> Quittungskarten der Alters- und Invalidenversicherung auszudrücken und jeden<lb/> Neudruck mit dem neusten Rechnungsabschluß zu versehen? Jetzt sind es vielleicht<lb/> noch nicht dreitausend Personen im ganzen Deutschen Reiche, die Behörden mit ein¬<lb/> gerechnet, die von diesen Summen erfahren; was die Zeitungen davon bringen,<lb/> bleibt als „langweiliger Zahlenkram" bei den meisten Lesern unbeachtet.</p><lb/> <p xml:id="ID_2621" next="#ID_2622"> Diese gewaltige Steuer, die sich das Reich und die besitzenden Klassen frei¬<lb/> willig zugunsten der unbemittelten auferlegt haben, findet sich — von schwachen<lb/> Anfängen abgesehen — in keinem andern Lande. Ein um so größeres Interesse<lb/> haben diese unbemittelten Schichten daran, das Reich leistungsfähig zu erhalten<lb/> und namentlich den besitzenden Klassen, insbesondre der dem scharfen Wettbewerb<lb/> auf dem Weltmarkt ausgesetzten Industrie, das weitere und dauernde Tragen dieser<lb/> Lasten zu ermöglichen. Das kann nur noch durch eine ergiebige Reichsfinanzreform<lb/> geschehen, die für die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Reichs zugunsten der<lb/> Gesamtheit seiner nationalen Aufgaben die nötigen Bürgschaften bietet. Wenn die<lb/> Sozialdemokraten eine wirkliche Arbeiterpartei wären, müßte ihnen das vor allem<lb/> am Herzen liegen, aber sie kämpfen mit großen Worten für allerlei phantastische<lb/> Ideen, nicht für das wirtschaftliche Gedeihen der deutschen Arbeiter. Alle diese Auf¬<lb/> wendungen der deutschen Versicherungsgesetzgebung, die mehr als alle durch Arbeits¬<lb/> einstellungen erreichten Lohnerhöhungen dazu beigetragen haben, die deutschen Arbeiter¬<lb/> familien bei Krankheiten und Unfällen von Not und Elend zu bewahren, die dem alten<lb/> oder invaliden Arbeiter die Existenzmöglichkeit wenn nicht sichern, so doch wesent¬<lb/> lich erleichtern — sind nur gegen die Stimmen der Sozialdemokratie möglich ge¬<lb/> wesen, denn sie hat im Reichstage gegen die gesamte Versicherungsgesetz¬<lb/> gebung der Reihe nach gestimmt. Ginge es also nach den Sozialdemokraten, so<lb/> wäre die Aufwendung von sechs Milliarden für unsre Arbeiterbevölkerung nicht<lb/> geschehen, wäre jetzt nicht ein Vermögen von mehr als anderthalb Milliarden<lb/> in den Versicherungsanstalten als Deckung künftiger Ansprüche angesammelt. Ist<lb/> es nicht geradezu widersinnig, daß gegen einen staatlichen Organismus, der</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0510]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
zum Beispiel eine umfassende Neichsfinanzreform sicherlich mit Leichtigkeit zu er¬
ledigen; der blöde Fraktionsgeist, der nur nach seinen eignen Interessen sieht, ist
es, der das verhindert. Und doch hätten gerade die Parteien, die sich mit Vor¬
liebe als Vertreter der Massen geben, am allermeisten Grund, eine ausgiebige
Reichsfinanzreform ins Leben zu rufen, weil die Verpflichtungen, die das Reich
durch seine Arbeiterfürsorgegesetzgebung übernommen hat, bei der es Lasten trägt,
wie sie keine andre Nation auf sich hat, ganz wesentlich dazu beitragen, die
Finanzreform ebenso dringend wie unabweislich zu machen. Wer sich darüber be¬
lehren will, mag das neuste Heft des Reichsarbeitsblatts zur Hand nehmen. Allein
der Zuschuß des Reichs zur Invalidenversicherung beläuft sich in den zwanzig Jahren
von 1885 bis 1905 auf weit über drei Milliarden Mark! Für die Kranken¬
versicherung sind in diesem Zeitraum ebenfalls bald drei Milliarden Mark be¬
ansprucht worden.
Und nun die Vermögensbestände der einzelnen Versicherungszweige: das Ver¬
mögen der Arbeiterversicherung nähert sich der zweiten Milliarde, nachdem es im
Jahre 1899, also nach vierzehn Jahren, schon die erste Milliarde überschritten
hatte. Die von der Arbeiterversicherung geleisteten Entschädigungen, d. h. die
Summe dessen, was den Versicherten und deren Angehörigen entweder bar gezahlt
worden oder ihnen mittelbar und unmittelbar in Gestalt von Heilbehandlung usw.
zugute gekommen ist, hat ebenfalls den Betrag von vier Milliarden Mark weit
überschritten. Von allen diesen enormen Milliardenzahlen haben die Massen, zu deren
Gunsten sie aufgewandt worden sind, keine Ahnung mit Ausnahme der wenigen
Einsichtigen unter ihnen, die im Parlament oder aus den Zeitungen davon erfahren,
aber „im Parteiinteresse" darüber schweigen. Sollte es da nicht im dringendsten
Staatsinteresse liegen, den breiten Schichten klar zu machen, daß in zwanzig Jahren
für die Arbeiterversicherungen weit über sechs Milliarden aufgewandt worden sind?
Wäre es nicht von der größten Wichtigkeit, diese Zahlen endlich einmal auf alle
Quittungskarten der Alters- und Invalidenversicherung auszudrücken und jeden
Neudruck mit dem neusten Rechnungsabschluß zu versehen? Jetzt sind es vielleicht
noch nicht dreitausend Personen im ganzen Deutschen Reiche, die Behörden mit ein¬
gerechnet, die von diesen Summen erfahren; was die Zeitungen davon bringen,
bleibt als „langweiliger Zahlenkram" bei den meisten Lesern unbeachtet.
Diese gewaltige Steuer, die sich das Reich und die besitzenden Klassen frei¬
willig zugunsten der unbemittelten auferlegt haben, findet sich — von schwachen
Anfängen abgesehen — in keinem andern Lande. Ein um so größeres Interesse
haben diese unbemittelten Schichten daran, das Reich leistungsfähig zu erhalten
und namentlich den besitzenden Klassen, insbesondre der dem scharfen Wettbewerb
auf dem Weltmarkt ausgesetzten Industrie, das weitere und dauernde Tragen dieser
Lasten zu ermöglichen. Das kann nur noch durch eine ergiebige Reichsfinanzreform
geschehen, die für die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Reichs zugunsten der
Gesamtheit seiner nationalen Aufgaben die nötigen Bürgschaften bietet. Wenn die
Sozialdemokraten eine wirkliche Arbeiterpartei wären, müßte ihnen das vor allem
am Herzen liegen, aber sie kämpfen mit großen Worten für allerlei phantastische
Ideen, nicht für das wirtschaftliche Gedeihen der deutschen Arbeiter. Alle diese Auf¬
wendungen der deutschen Versicherungsgesetzgebung, die mehr als alle durch Arbeits¬
einstellungen erreichten Lohnerhöhungen dazu beigetragen haben, die deutschen Arbeiter¬
familien bei Krankheiten und Unfällen von Not und Elend zu bewahren, die dem alten
oder invaliden Arbeiter die Existenzmöglichkeit wenn nicht sichern, so doch wesent¬
lich erleichtern — sind nur gegen die Stimmen der Sozialdemokratie möglich ge¬
wesen, denn sie hat im Reichstage gegen die gesamte Versicherungsgesetz¬
gebung der Reihe nach gestimmt. Ginge es also nach den Sozialdemokraten, so
wäre die Aufwendung von sechs Milliarden für unsre Arbeiterbevölkerung nicht
geschehen, wäre jetzt nicht ein Vermögen von mehr als anderthalb Milliarden
in den Versicherungsanstalten als Deckung künftiger Ansprüche angesammelt. Ist
es nicht geradezu widersinnig, daß gegen einen staatlichen Organismus, der
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