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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli

lische Bewegung in Nußland bleibt unter Berücksichtigung der oben kurz
skizzierten Regierungspolitik in den letzten fünfundzwanzig Jahren dennoch ein
Kind der allerjüngsten Geschichte, modern wie ihre Träger, die sogar mit der
Bewegung der sechziger Jahre nur lose Verbindung haben.

Worauf diese Verbindung beruht, soll -- soweit sie für die Gegenwart
von Interesse ist -- später im einzelnen ausgeführt werde".*) Im allgemeinen
können wir uns darauf beschränken, mit den achtziger Jahren zu beginnen,
weil damals nach der Bankrotterklärung des russischen slawophilen Kommu¬
nismus die älteste der heutigen oppositionellen Parteien öffentlich hervortrat:
in der Schweiz begründete sich aus den geflüchteten Überbleibseln der Nihilisten
und Narodniki die sozialrevolutionäre Partei.


2. Die revolutionären Gruppen

Die Sozialrevolutionäre waren und sind "Bodenreformer." Was sie
wollen, läßt sich ausdrücken mit den Worten, die Thomas Spence im Jahre
1796 in seiner Schrift Ins inöriäig,n sun ol libsrt^ niedergeschrieben hat:
"Das Land mit allem Zubehör wird in jedem Gemeindebezirk Eigentum der
Körperschaft oder der Gemeinde mit eben derselben freien Befugnis zum Ver¬
pachten, Wiederhersteller oder zur Veränderung des Ganzen oder eines Teils,
wie sie der Gutsherr genießt; aber das Recht, auch nur das kleinste Stück, in
welcher Art es auch sei, aus dem Gemeindebesitz zu veräußern, wird für jetzt
und immer versagt." Einen Nutzen am Boden soll nur der haben, der ihn
selbst bearbeitet. In einer von den Sozialrevolutionären verfaßten und von
hundertundvierunddreißig Chersoner Bauern im April 1905 unterschriebnen
Petition lautet Punkt 9: "Unsre Vertreter werden dafür Sorge tragen, daß
nach und nach den Gutsbesitzern alles Land abgenommen und uns zugeteilt
wird durch Übergabe an die Gemeinden, damit nur der das Land besitze, der
es auch tatsächlich bearbeitet." Das Gebaren dieser Partei ist eben so töricht
wie gefährlich und erinnert lebhaft an das Treiben der Anhänger Spences.
Sie will, ebenso wie es die Narodniki wollten, die Verteilung des Gutslandes
an die Bauern durch den Bauernaufstand erreichen. In einem Lande, wo so
wenig Bildung herrscht wie in Rußland, muß ihre Tätigkeit auch dann staats¬
gefährlich sein, wenn es eine Republik auf der breitesten demokratischen Grund¬
lage wäre. Ihre Taktik besteht im Betrüge des Volks, da ihre Anhänger
anders Gefahr laufen, von denselben Leuten aufgehängt zu werden, die sie
mit ihren Ideen beglücken wollen. So erreichten sie im Jahre 1902 in
Poltawa, wo tatsächlich von Landmangel bei den Bauern gesprochen werden
darf -- das Gouvernement ist ebenso dicht bevölkert wie Belgien --, nur
dadurch eine Bauernrevolte, daß einer von ihnen in der Uniform des Kreis¬
chefs ein mit goldnen Buchstaben geschriebnes, angeblich vom Zaren unter¬
zeichnetes Manifest verlas, worin den Bauern bekannt gegeben wurde, das
Land der und der benachbarten Großgrundbesitzer gehöre ihnen. In jedem



Interessenten seien auf das ausgezeichnete Buch: "Geschichte der revolutionären Be¬
wegung in Rußland" von A. Thun aufmerksam gemacht. Verlag von Duncker und Humblot,
Leipzig, 1883.
Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli

lische Bewegung in Nußland bleibt unter Berücksichtigung der oben kurz
skizzierten Regierungspolitik in den letzten fünfundzwanzig Jahren dennoch ein
Kind der allerjüngsten Geschichte, modern wie ihre Träger, die sogar mit der
Bewegung der sechziger Jahre nur lose Verbindung haben.

Worauf diese Verbindung beruht, soll — soweit sie für die Gegenwart
von Interesse ist — später im einzelnen ausgeführt werde».*) Im allgemeinen
können wir uns darauf beschränken, mit den achtziger Jahren zu beginnen,
weil damals nach der Bankrotterklärung des russischen slawophilen Kommu¬
nismus die älteste der heutigen oppositionellen Parteien öffentlich hervortrat:
in der Schweiz begründete sich aus den geflüchteten Überbleibseln der Nihilisten
und Narodniki die sozialrevolutionäre Partei.


2. Die revolutionären Gruppen

Die Sozialrevolutionäre waren und sind „Bodenreformer." Was sie
wollen, läßt sich ausdrücken mit den Worten, die Thomas Spence im Jahre
1796 in seiner Schrift Ins inöriäig,n sun ol libsrt^ niedergeschrieben hat:
„Das Land mit allem Zubehör wird in jedem Gemeindebezirk Eigentum der
Körperschaft oder der Gemeinde mit eben derselben freien Befugnis zum Ver¬
pachten, Wiederhersteller oder zur Veränderung des Ganzen oder eines Teils,
wie sie der Gutsherr genießt; aber das Recht, auch nur das kleinste Stück, in
welcher Art es auch sei, aus dem Gemeindebesitz zu veräußern, wird für jetzt
und immer versagt." Einen Nutzen am Boden soll nur der haben, der ihn
selbst bearbeitet. In einer von den Sozialrevolutionären verfaßten und von
hundertundvierunddreißig Chersoner Bauern im April 1905 unterschriebnen
Petition lautet Punkt 9: „Unsre Vertreter werden dafür Sorge tragen, daß
nach und nach den Gutsbesitzern alles Land abgenommen und uns zugeteilt
wird durch Übergabe an die Gemeinden, damit nur der das Land besitze, der
es auch tatsächlich bearbeitet." Das Gebaren dieser Partei ist eben so töricht
wie gefährlich und erinnert lebhaft an das Treiben der Anhänger Spences.
Sie will, ebenso wie es die Narodniki wollten, die Verteilung des Gutslandes
an die Bauern durch den Bauernaufstand erreichen. In einem Lande, wo so
wenig Bildung herrscht wie in Rußland, muß ihre Tätigkeit auch dann staats¬
gefährlich sein, wenn es eine Republik auf der breitesten demokratischen Grund¬
lage wäre. Ihre Taktik besteht im Betrüge des Volks, da ihre Anhänger
anders Gefahr laufen, von denselben Leuten aufgehängt zu werden, die sie
mit ihren Ideen beglücken wollen. So erreichten sie im Jahre 1902 in
Poltawa, wo tatsächlich von Landmangel bei den Bauern gesprochen werden
darf — das Gouvernement ist ebenso dicht bevölkert wie Belgien —, nur
dadurch eine Bauernrevolte, daß einer von ihnen in der Uniform des Kreis¬
chefs ein mit goldnen Buchstaben geschriebnes, angeblich vom Zaren unter¬
zeichnetes Manifest verlas, worin den Bauern bekannt gegeben wurde, das
Land der und der benachbarten Großgrundbesitzer gehöre ihnen. In jedem



Interessenten seien auf das ausgezeichnete Buch: „Geschichte der revolutionären Be¬
wegung in Rußland" von A. Thun aufmerksam gemacht. Verlag von Duncker und Humblot,
Leipzig, 1883.
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[0460] Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli lische Bewegung in Nußland bleibt unter Berücksichtigung der oben kurz skizzierten Regierungspolitik in den letzten fünfundzwanzig Jahren dennoch ein Kind der allerjüngsten Geschichte, modern wie ihre Träger, die sogar mit der Bewegung der sechziger Jahre nur lose Verbindung haben. Worauf diese Verbindung beruht, soll — soweit sie für die Gegenwart von Interesse ist — später im einzelnen ausgeführt werde».*) Im allgemeinen können wir uns darauf beschränken, mit den achtziger Jahren zu beginnen, weil damals nach der Bankrotterklärung des russischen slawophilen Kommu¬ nismus die älteste der heutigen oppositionellen Parteien öffentlich hervortrat: in der Schweiz begründete sich aus den geflüchteten Überbleibseln der Nihilisten und Narodniki die sozialrevolutionäre Partei. 2. Die revolutionären Gruppen Die Sozialrevolutionäre waren und sind „Bodenreformer." Was sie wollen, läßt sich ausdrücken mit den Worten, die Thomas Spence im Jahre 1796 in seiner Schrift Ins inöriäig,n sun ol libsrt^ niedergeschrieben hat: „Das Land mit allem Zubehör wird in jedem Gemeindebezirk Eigentum der Körperschaft oder der Gemeinde mit eben derselben freien Befugnis zum Ver¬ pachten, Wiederhersteller oder zur Veränderung des Ganzen oder eines Teils, wie sie der Gutsherr genießt; aber das Recht, auch nur das kleinste Stück, in welcher Art es auch sei, aus dem Gemeindebesitz zu veräußern, wird für jetzt und immer versagt." Einen Nutzen am Boden soll nur der haben, der ihn selbst bearbeitet. In einer von den Sozialrevolutionären verfaßten und von hundertundvierunddreißig Chersoner Bauern im April 1905 unterschriebnen Petition lautet Punkt 9: „Unsre Vertreter werden dafür Sorge tragen, daß nach und nach den Gutsbesitzern alles Land abgenommen und uns zugeteilt wird durch Übergabe an die Gemeinden, damit nur der das Land besitze, der es auch tatsächlich bearbeitet." Das Gebaren dieser Partei ist eben so töricht wie gefährlich und erinnert lebhaft an das Treiben der Anhänger Spences. Sie will, ebenso wie es die Narodniki wollten, die Verteilung des Gutslandes an die Bauern durch den Bauernaufstand erreichen. In einem Lande, wo so wenig Bildung herrscht wie in Rußland, muß ihre Tätigkeit auch dann staats¬ gefährlich sein, wenn es eine Republik auf der breitesten demokratischen Grund¬ lage wäre. Ihre Taktik besteht im Betrüge des Volks, da ihre Anhänger anders Gefahr laufen, von denselben Leuten aufgehängt zu werden, die sie mit ihren Ideen beglücken wollen. So erreichten sie im Jahre 1902 in Poltawa, wo tatsächlich von Landmangel bei den Bauern gesprochen werden darf — das Gouvernement ist ebenso dicht bevölkert wie Belgien —, nur dadurch eine Bauernrevolte, daß einer von ihnen in der Uniform des Kreis¬ chefs ein mit goldnen Buchstaben geschriebnes, angeblich vom Zaren unter¬ zeichnetes Manifest verlas, worin den Bauern bekannt gegeben wurde, das Land der und der benachbarten Großgrundbesitzer gehöre ihnen. In jedem Interessenten seien auf das ausgezeichnete Buch: „Geschichte der revolutionären Be¬ wegung in Rußland" von A. Thun aufmerksam gemacht. Verlag von Duncker und Humblot, Leipzig, 1883.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/460>, abgerufen am 19.10.2024.