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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Herrenmenschen

Und doch war sein Himmel nicht ganz wolkenlos. Es war etwas dabei, was
ihm fast unbewußt ein gewisses Mißbehagen verursachte, gleich einem leichten Mißton
in einem schönen Konzert, etwas, was ihn zwang, zu denken, statt sich einem vollen,
nicht reflektierenden Glücke hinzugeben. "Jetzt bist du mein," hatte sie am Strande
gerufen, als sie sich mit ihm Verlobte. Sie sich mit ihm! Er hätte das Wort
längst wieder vergessen, wenn nicht ab und zu etwas daran angeklungen hätte,
und wenn ihn Eva nicht wirklich manchmal behandelt hätte, als wenn er ihr Eigen¬
tum wäre. Sie hatte ihn gerufen und geschickt, gut und schlecht behandelt, als ob
sie die Prinzessin und er ein begünstigter Ritter, und als ob ein Verlöbnis statt
einer zweiseitigen eine einseitige Sache wäre. War das Wohl das richtige Ver¬
hältnis, wenn sich die Braut den Bräutigam nimmt und sagt: So, jetzt bist du
mein? Hatte er selbst nicht mindestens dasselbe Recht? Durfte ein Mädchen, auch
ein solches, das von freiem Geist und herrischem Willen ist, sich ihren Mann nehmen
und sagen: Jetzt bist du mein? -- Er hatte früher die Gleichberechtigung des
Frauenwillens neben dem des Mannes mit großer Freudigkeit als eine Forderung
moderner Kultur, als einen Ausdruck seines philosophischen Denkens vertreten. Er
hatte dienende, gehorchende, schüchterne Frauen für Wesen niedriger Gattung an¬
gesehen, die des Mannes, wie er sein soll, des Herrenmenschen, nicht würdig seien;
aber ist das Verhältnis nicht noch unwürdiger, wenn die Frau sich herausnimmt,
der Herrenmensch zu sein, und der Mann duckt und sichs gefallen läßt? Der
Wohlverdieute Spott der Jahrhunderte richtet sich gegen den weibischen Mann.
Ist es denn denkbar, daß zwei Willen, die ihren Antrieb nur in sich selbst finden,
ein ganzes Leben lang nebeneinander herlaufen, ohne zu kollidieren? Es wäre
ein Kunststück, größer als das der zwei Uhren Karls des Fünften. Wenn aber
nicht, was dann?

Es ist merkwürdig, wie die Dinge ihre Gestalt verändern, je nachdem man
sie von fern oder so nahe betrachtet, daß man ihre Wirkung am eignen Leibe spürt.
Über ferne Dinge kann man sehr klug reden, gegen so nahe und wirksame Dinge
hilft papierne Weisheit nichts.

Dies alles stellte sich dem Doktor nicht als ein Unglück oder als einen Zweifel
an der Zukunft dar, sondern als ein leichtes Hemmnis, das durch die Zeit, durch das
Zusammenleben und durch die Liebe überwunden werden mußte. Durch die Liebe?
Hin! Was ist eigentlich Liebe? Und welchen Wert hat sie gegenüber dem wissen¬
schaftlichen Axiom, und welche Kraft hat sie gegenüber dem souveränen Eigenwillen?

Es gibt zwei Formen des menschlichen Lebenslaufs. Nach der einen beginnt
man mit Juchhe, und der ganze Himmel hängt voll Geigen. Aber dann kommt
man auf den absteigenden Ast. und es geht durch das ganze Leben langsam aber
sicher bergab. So wie eine Rakete, die zischend aufsteigt und in verlöschenden
Funken langsam zur Erde zurückkehrt. Der andre Lebenslauf hat keinen glänzenden
Aufschwung. Es geht langsam bergauf, jedoch so, daß mit jeder Wegwendung die
Aussicht freier wird, und daß die Hoffnung lebendig bleibt, das Schönere liege
noch vorn. Dem Doktor schien die erste Form für seinen Lebenslauf nicht beschieden
zu sein. Seine Rakete wollte nicht glatt steigen. Zu der Zeit seines Brautstandes
hing ihm der Himmel nicht voll Geigen, vielmehr folgte ein Verdruß dem andern.

Eine heruntergekommne Wirtschaft zu heben ist, wenn man nicht in einen
großen Geldbeutel greifen kann, eine mühsame Sache, besonders wenn einem von
allen Seiten Steine in den Weg geworfen werden, und wenn man mit so heil¬
losen Schlendrian und so alteingewurzelten Vorurteilen zu kämpfen hat, wie dem
Doktor mit seinen Litauern zu tun oblag. Vor der Drillmaschine, "dem roten
Satan," fürchteten sich nicht allein die Pferde, sondern auch die Knechte. Es war
nicht möglich, einen von ihnen dazu zu bringen, daß er die Maschine bediente; und
so mußte der Doktor, wenn der Inspektor anderweit zu tun hatte, den ganzen Tag
hinter der Maschine gehn, was eine zwar gesunde, aber anstrengende und keines¬
wegs geistvolle Tätigkeit war. Wozu tue ich das? sagte der Doktor zu sich, wenn


Herrenmenschen

Und doch war sein Himmel nicht ganz wolkenlos. Es war etwas dabei, was
ihm fast unbewußt ein gewisses Mißbehagen verursachte, gleich einem leichten Mißton
in einem schönen Konzert, etwas, was ihn zwang, zu denken, statt sich einem vollen,
nicht reflektierenden Glücke hinzugeben. „Jetzt bist du mein," hatte sie am Strande
gerufen, als sie sich mit ihm Verlobte. Sie sich mit ihm! Er hätte das Wort
längst wieder vergessen, wenn nicht ab und zu etwas daran angeklungen hätte,
und wenn ihn Eva nicht wirklich manchmal behandelt hätte, als wenn er ihr Eigen¬
tum wäre. Sie hatte ihn gerufen und geschickt, gut und schlecht behandelt, als ob
sie die Prinzessin und er ein begünstigter Ritter, und als ob ein Verlöbnis statt
einer zweiseitigen eine einseitige Sache wäre. War das Wohl das richtige Ver¬
hältnis, wenn sich die Braut den Bräutigam nimmt und sagt: So, jetzt bist du
mein? Hatte er selbst nicht mindestens dasselbe Recht? Durfte ein Mädchen, auch
ein solches, das von freiem Geist und herrischem Willen ist, sich ihren Mann nehmen
und sagen: Jetzt bist du mein? — Er hatte früher die Gleichberechtigung des
Frauenwillens neben dem des Mannes mit großer Freudigkeit als eine Forderung
moderner Kultur, als einen Ausdruck seines philosophischen Denkens vertreten. Er
hatte dienende, gehorchende, schüchterne Frauen für Wesen niedriger Gattung an¬
gesehen, die des Mannes, wie er sein soll, des Herrenmenschen, nicht würdig seien;
aber ist das Verhältnis nicht noch unwürdiger, wenn die Frau sich herausnimmt,
der Herrenmensch zu sein, und der Mann duckt und sichs gefallen läßt? Der
Wohlverdieute Spott der Jahrhunderte richtet sich gegen den weibischen Mann.
Ist es denn denkbar, daß zwei Willen, die ihren Antrieb nur in sich selbst finden,
ein ganzes Leben lang nebeneinander herlaufen, ohne zu kollidieren? Es wäre
ein Kunststück, größer als das der zwei Uhren Karls des Fünften. Wenn aber
nicht, was dann?

Es ist merkwürdig, wie die Dinge ihre Gestalt verändern, je nachdem man
sie von fern oder so nahe betrachtet, daß man ihre Wirkung am eignen Leibe spürt.
Über ferne Dinge kann man sehr klug reden, gegen so nahe und wirksame Dinge
hilft papierne Weisheit nichts.

Dies alles stellte sich dem Doktor nicht als ein Unglück oder als einen Zweifel
an der Zukunft dar, sondern als ein leichtes Hemmnis, das durch die Zeit, durch das
Zusammenleben und durch die Liebe überwunden werden mußte. Durch die Liebe?
Hin! Was ist eigentlich Liebe? Und welchen Wert hat sie gegenüber dem wissen¬
schaftlichen Axiom, und welche Kraft hat sie gegenüber dem souveränen Eigenwillen?

Es gibt zwei Formen des menschlichen Lebenslaufs. Nach der einen beginnt
man mit Juchhe, und der ganze Himmel hängt voll Geigen. Aber dann kommt
man auf den absteigenden Ast. und es geht durch das ganze Leben langsam aber
sicher bergab. So wie eine Rakete, die zischend aufsteigt und in verlöschenden
Funken langsam zur Erde zurückkehrt. Der andre Lebenslauf hat keinen glänzenden
Aufschwung. Es geht langsam bergauf, jedoch so, daß mit jeder Wegwendung die
Aussicht freier wird, und daß die Hoffnung lebendig bleibt, das Schönere liege
noch vorn. Dem Doktor schien die erste Form für seinen Lebenslauf nicht beschieden
zu sein. Seine Rakete wollte nicht glatt steigen. Zu der Zeit seines Brautstandes
hing ihm der Himmel nicht voll Geigen, vielmehr folgte ein Verdruß dem andern.

Eine heruntergekommne Wirtschaft zu heben ist, wenn man nicht in einen
großen Geldbeutel greifen kann, eine mühsame Sache, besonders wenn einem von
allen Seiten Steine in den Weg geworfen werden, und wenn man mit so heil¬
losen Schlendrian und so alteingewurzelten Vorurteilen zu kämpfen hat, wie dem
Doktor mit seinen Litauern zu tun oblag. Vor der Drillmaschine, „dem roten
Satan," fürchteten sich nicht allein die Pferde, sondern auch die Knechte. Es war
nicht möglich, einen von ihnen dazu zu bringen, daß er die Maschine bediente; und
so mußte der Doktor, wenn der Inspektor anderweit zu tun hatte, den ganzen Tag
hinter der Maschine gehn, was eine zwar gesunde, aber anstrengende und keines¬
wegs geistvolle Tätigkeit war. Wozu tue ich das? sagte der Doktor zu sich, wenn


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[0046] Herrenmenschen Und doch war sein Himmel nicht ganz wolkenlos. Es war etwas dabei, was ihm fast unbewußt ein gewisses Mißbehagen verursachte, gleich einem leichten Mißton in einem schönen Konzert, etwas, was ihn zwang, zu denken, statt sich einem vollen, nicht reflektierenden Glücke hinzugeben. „Jetzt bist du mein," hatte sie am Strande gerufen, als sie sich mit ihm Verlobte. Sie sich mit ihm! Er hätte das Wort längst wieder vergessen, wenn nicht ab und zu etwas daran angeklungen hätte, und wenn ihn Eva nicht wirklich manchmal behandelt hätte, als wenn er ihr Eigen¬ tum wäre. Sie hatte ihn gerufen und geschickt, gut und schlecht behandelt, als ob sie die Prinzessin und er ein begünstigter Ritter, und als ob ein Verlöbnis statt einer zweiseitigen eine einseitige Sache wäre. War das Wohl das richtige Ver¬ hältnis, wenn sich die Braut den Bräutigam nimmt und sagt: So, jetzt bist du mein? Hatte er selbst nicht mindestens dasselbe Recht? Durfte ein Mädchen, auch ein solches, das von freiem Geist und herrischem Willen ist, sich ihren Mann nehmen und sagen: Jetzt bist du mein? — Er hatte früher die Gleichberechtigung des Frauenwillens neben dem des Mannes mit großer Freudigkeit als eine Forderung moderner Kultur, als einen Ausdruck seines philosophischen Denkens vertreten. Er hatte dienende, gehorchende, schüchterne Frauen für Wesen niedriger Gattung an¬ gesehen, die des Mannes, wie er sein soll, des Herrenmenschen, nicht würdig seien; aber ist das Verhältnis nicht noch unwürdiger, wenn die Frau sich herausnimmt, der Herrenmensch zu sein, und der Mann duckt und sichs gefallen läßt? Der Wohlverdieute Spott der Jahrhunderte richtet sich gegen den weibischen Mann. Ist es denn denkbar, daß zwei Willen, die ihren Antrieb nur in sich selbst finden, ein ganzes Leben lang nebeneinander herlaufen, ohne zu kollidieren? Es wäre ein Kunststück, größer als das der zwei Uhren Karls des Fünften. Wenn aber nicht, was dann? Es ist merkwürdig, wie die Dinge ihre Gestalt verändern, je nachdem man sie von fern oder so nahe betrachtet, daß man ihre Wirkung am eignen Leibe spürt. Über ferne Dinge kann man sehr klug reden, gegen so nahe und wirksame Dinge hilft papierne Weisheit nichts. Dies alles stellte sich dem Doktor nicht als ein Unglück oder als einen Zweifel an der Zukunft dar, sondern als ein leichtes Hemmnis, das durch die Zeit, durch das Zusammenleben und durch die Liebe überwunden werden mußte. Durch die Liebe? Hin! Was ist eigentlich Liebe? Und welchen Wert hat sie gegenüber dem wissen¬ schaftlichen Axiom, und welche Kraft hat sie gegenüber dem souveränen Eigenwillen? Es gibt zwei Formen des menschlichen Lebenslaufs. Nach der einen beginnt man mit Juchhe, und der ganze Himmel hängt voll Geigen. Aber dann kommt man auf den absteigenden Ast. und es geht durch das ganze Leben langsam aber sicher bergab. So wie eine Rakete, die zischend aufsteigt und in verlöschenden Funken langsam zur Erde zurückkehrt. Der andre Lebenslauf hat keinen glänzenden Aufschwung. Es geht langsam bergauf, jedoch so, daß mit jeder Wegwendung die Aussicht freier wird, und daß die Hoffnung lebendig bleibt, das Schönere liege noch vorn. Dem Doktor schien die erste Form für seinen Lebenslauf nicht beschieden zu sein. Seine Rakete wollte nicht glatt steigen. Zu der Zeit seines Brautstandes hing ihm der Himmel nicht voll Geigen, vielmehr folgte ein Verdruß dem andern. Eine heruntergekommne Wirtschaft zu heben ist, wenn man nicht in einen großen Geldbeutel greifen kann, eine mühsame Sache, besonders wenn einem von allen Seiten Steine in den Weg geworfen werden, und wenn man mit so heil¬ losen Schlendrian und so alteingewurzelten Vorurteilen zu kämpfen hat, wie dem Doktor mit seinen Litauern zu tun oblag. Vor der Drillmaschine, „dem roten Satan," fürchteten sich nicht allein die Pferde, sondern auch die Knechte. Es war nicht möglich, einen von ihnen dazu zu bringen, daß er die Maschine bediente; und so mußte der Doktor, wenn der Inspektor anderweit zu tun hatte, den ganzen Tag hinter der Maschine gehn, was eine zwar gesunde, aber anstrengende und keines¬ wegs geistvolle Tätigkeit war. Wozu tue ich das? sagte der Doktor zu sich, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/46>, abgerufen am 27.09.2024.