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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Brügge

Auch mit seinen Beamten, die übrigens in der Tat ein sehr weites Ge¬
wissen haben, pflegt der Emir nicht besonders glimpflich zu verfahren. Am
25. Mai 1899 wurde der Zahlmeister samt seinen drei nächsten Unterbeamten
mit einem Geschütz erschossen, am 11. Januar 1900 wurde ein höherer Beamter
nebst zwei Häftlingen aufgeknüpft. Diese hatten zu entfliehen versucht, waren
aber sogleich gefangen worden. ^




Brügge

n Nordeuropa ist der Zahn der Zeit zu eifrig am Werke ge¬
wesen, als daß viele Städte in dem Zustand einer entlegnen
Vergangenheit auf uns Hütten kommen können. Während die
Mittelmeerländer an Verkehr, Wohlstand und politischer Be¬
deutung hinabsanken, kam Nordeuropa empor. Dort konnte vieles
erhalten bleiben, was hier verschlungen wurde und Neuem Platz machte. Wohl
blieben Kirchen und Schlösser, aber die Masse der Bürgerhäuser verschwand.
Man sagt wohl, daß Nürnberg, Lübeck und Hildesheim in wesentlichen Teilen
das Mittelalter auf unsre Zeit gebracht hätten. Das ist aber eine starke
Übertreibung. Nur von der hansischen Gründung Wisby auf der schwedischen
Insel Gotland kann man es sagen, und wenn auch nicht mit ganz demselben
Recht von Flanderns Hauptstadt, von Brügge. Ehedem eine blühende Gro߬
stadt, die zu den Zeiten der burgundischen Herzöge beinahe mit London und Paris
wetteifern konnte, ist es heute nur noch eine Stadt von fünfundvierzigtausend
Einwohnern. Es ist vor vierhundert Jahren in Schlaf verfallen und verharrt
noch heute darin, bis eben jetzt die Wiedererweckung vor sich gehn soll.
Brügge ist nicht nur überreich an Kirchen und stattlichen Profanbauten aus
dem Mittelalter, es enthält noch ganze Straßen, an denen seit vierhundert,
vielleicht fünfhundert Jahren kaum ein Neubau entstanden ist. Wenn man
an den stillen Kannten, die die ganze Stadt durchzieh", entlang wandert,
wenn unser von den Wänden widerhallender Schritt zuweilen das Einzige
ist, was die Ruhe unterbricht, so wähnt man sich ins Mittelalter zurückversetzt,
mit der einzigen, allerdings höchst bedeutsamen Ausnahme, daß das brausende
Leben von damals fehlt, das Leben, das in dem benachbarten Gent den
Warnungsruf an die Kinder erzeugte, schnell ins Haus zu kommen, sie seien
in Lebensgefahr, denn die Weber gingen zum Mittagessen.

Brügge ist im Gegensatz zur Industriestadt Gent die Seehandelsstadt ge¬
wesen. Wenn man die Gegend von einer Kirchturmspitze überschaut, und soweit
das Auge reicht, nichts als Kuhweiden sieht, wenn man auf der Karte aus¬
mißt, daß Brügge wenigstens zwölf Kilometer von der See und mehr alK
doppelt so weit von der Scheide entfernt liegt, so sucht man befremdet
nach der Seeverbindung. Die Sache erklärt sich dadurch, daß das große
gemeinsame Delta der Schelde, der Maas und des Rheins, das heute noch


Brügge

Auch mit seinen Beamten, die übrigens in der Tat ein sehr weites Ge¬
wissen haben, pflegt der Emir nicht besonders glimpflich zu verfahren. Am
25. Mai 1899 wurde der Zahlmeister samt seinen drei nächsten Unterbeamten
mit einem Geschütz erschossen, am 11. Januar 1900 wurde ein höherer Beamter
nebst zwei Häftlingen aufgeknüpft. Diese hatten zu entfliehen versucht, waren
aber sogleich gefangen worden. ^




Brügge

n Nordeuropa ist der Zahn der Zeit zu eifrig am Werke ge¬
wesen, als daß viele Städte in dem Zustand einer entlegnen
Vergangenheit auf uns Hütten kommen können. Während die
Mittelmeerländer an Verkehr, Wohlstand und politischer Be¬
deutung hinabsanken, kam Nordeuropa empor. Dort konnte vieles
erhalten bleiben, was hier verschlungen wurde und Neuem Platz machte. Wohl
blieben Kirchen und Schlösser, aber die Masse der Bürgerhäuser verschwand.
Man sagt wohl, daß Nürnberg, Lübeck und Hildesheim in wesentlichen Teilen
das Mittelalter auf unsre Zeit gebracht hätten. Das ist aber eine starke
Übertreibung. Nur von der hansischen Gründung Wisby auf der schwedischen
Insel Gotland kann man es sagen, und wenn auch nicht mit ganz demselben
Recht von Flanderns Hauptstadt, von Brügge. Ehedem eine blühende Gro߬
stadt, die zu den Zeiten der burgundischen Herzöge beinahe mit London und Paris
wetteifern konnte, ist es heute nur noch eine Stadt von fünfundvierzigtausend
Einwohnern. Es ist vor vierhundert Jahren in Schlaf verfallen und verharrt
noch heute darin, bis eben jetzt die Wiedererweckung vor sich gehn soll.
Brügge ist nicht nur überreich an Kirchen und stattlichen Profanbauten aus
dem Mittelalter, es enthält noch ganze Straßen, an denen seit vierhundert,
vielleicht fünfhundert Jahren kaum ein Neubau entstanden ist. Wenn man
an den stillen Kannten, die die ganze Stadt durchzieh», entlang wandert,
wenn unser von den Wänden widerhallender Schritt zuweilen das Einzige
ist, was die Ruhe unterbricht, so wähnt man sich ins Mittelalter zurückversetzt,
mit der einzigen, allerdings höchst bedeutsamen Ausnahme, daß das brausende
Leben von damals fehlt, das Leben, das in dem benachbarten Gent den
Warnungsruf an die Kinder erzeugte, schnell ins Haus zu kommen, sie seien
in Lebensgefahr, denn die Weber gingen zum Mittagessen.

Brügge ist im Gegensatz zur Industriestadt Gent die Seehandelsstadt ge¬
wesen. Wenn man die Gegend von einer Kirchturmspitze überschaut, und soweit
das Auge reicht, nichts als Kuhweiden sieht, wenn man auf der Karte aus¬
mißt, daß Brügge wenigstens zwölf Kilometer von der See und mehr alK
doppelt so weit von der Scheide entfernt liegt, so sucht man befremdet
nach der Seeverbindung. Die Sache erklärt sich dadurch, daß das große
gemeinsame Delta der Schelde, der Maas und des Rheins, das heute noch


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[0365] Brügge Auch mit seinen Beamten, die übrigens in der Tat ein sehr weites Ge¬ wissen haben, pflegt der Emir nicht besonders glimpflich zu verfahren. Am 25. Mai 1899 wurde der Zahlmeister samt seinen drei nächsten Unterbeamten mit einem Geschütz erschossen, am 11. Januar 1900 wurde ein höherer Beamter nebst zwei Häftlingen aufgeknüpft. Diese hatten zu entfliehen versucht, waren aber sogleich gefangen worden. ^ Brügge n Nordeuropa ist der Zahn der Zeit zu eifrig am Werke ge¬ wesen, als daß viele Städte in dem Zustand einer entlegnen Vergangenheit auf uns Hütten kommen können. Während die Mittelmeerländer an Verkehr, Wohlstand und politischer Be¬ deutung hinabsanken, kam Nordeuropa empor. Dort konnte vieles erhalten bleiben, was hier verschlungen wurde und Neuem Platz machte. Wohl blieben Kirchen und Schlösser, aber die Masse der Bürgerhäuser verschwand. Man sagt wohl, daß Nürnberg, Lübeck und Hildesheim in wesentlichen Teilen das Mittelalter auf unsre Zeit gebracht hätten. Das ist aber eine starke Übertreibung. Nur von der hansischen Gründung Wisby auf der schwedischen Insel Gotland kann man es sagen, und wenn auch nicht mit ganz demselben Recht von Flanderns Hauptstadt, von Brügge. Ehedem eine blühende Gro߬ stadt, die zu den Zeiten der burgundischen Herzöge beinahe mit London und Paris wetteifern konnte, ist es heute nur noch eine Stadt von fünfundvierzigtausend Einwohnern. Es ist vor vierhundert Jahren in Schlaf verfallen und verharrt noch heute darin, bis eben jetzt die Wiedererweckung vor sich gehn soll. Brügge ist nicht nur überreich an Kirchen und stattlichen Profanbauten aus dem Mittelalter, es enthält noch ganze Straßen, an denen seit vierhundert, vielleicht fünfhundert Jahren kaum ein Neubau entstanden ist. Wenn man an den stillen Kannten, die die ganze Stadt durchzieh», entlang wandert, wenn unser von den Wänden widerhallender Schritt zuweilen das Einzige ist, was die Ruhe unterbricht, so wähnt man sich ins Mittelalter zurückversetzt, mit der einzigen, allerdings höchst bedeutsamen Ausnahme, daß das brausende Leben von damals fehlt, das Leben, das in dem benachbarten Gent den Warnungsruf an die Kinder erzeugte, schnell ins Haus zu kommen, sie seien in Lebensgefahr, denn die Weber gingen zum Mittagessen. Brügge ist im Gegensatz zur Industriestadt Gent die Seehandelsstadt ge¬ wesen. Wenn man die Gegend von einer Kirchturmspitze überschaut, und soweit das Auge reicht, nichts als Kuhweiden sieht, wenn man auf der Karte aus¬ mißt, daß Brügge wenigstens zwölf Kilometer von der See und mehr alK doppelt so weit von der Scheide entfernt liegt, so sucht man befremdet nach der Seeverbindung. Die Sache erklärt sich dadurch, daß das große gemeinsame Delta der Schelde, der Maas und des Rheins, das heute noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/365>, abgerufen am 27.09.2024.