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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die deutsche Socialdemokratie und die sozialpolitische
Gesetzgebung
i

>n einer Beurteilung der deutschen Sozialdemokratie und ihrer
positiven Leistungen für Gegenwart und Zukunft dürfte es von
Nutzen sein, an der Hand einer objektiven Darstellung festzu¬
legen, wie sich die parlamentarische Vertretung dieser Partei gegen¬
über der sozialpolitischen Gesetzgebung des Deutschen Reichs von
Anbeginn an verhalten hat. Wenn es unzweifelhaft richtig ist, daß jedes
sozialpolitische Gesetz, mag es auch noch so verbesserungsfähig sein, eine Ver-
vesserung der davon betroffnen Vevölkerungsteile gegenüber ihrer bisherigen
Lage bedeutet, so hätte folgerichtig die deutsche Sozialdemokratie für jedes dieser
Gesetze stimmen müssen, soweit nicht direkt politische Vorgänge in Frage kamen,
mit dem Vorbehalt, sich die Verbesserung dieses unzureichenden Gesetzes durch
immer von neuem wiederkehrende sachliche Vorschläge angelegen sein zu lassen.
Da die Möglichkeit nicht bestand und nicht besteht, den "heutigen Klassenstaat"
an einem Tage einzureihen, so hätte es für eine richtig operierende soziale Partei
in der Natur der Dinge gelegen, sich mit Abschlagszahlungen, auch mit den
kleinsten, zu begnügen und sie immer wieder zum Ausgangspunkt weiterer Be¬
strebungen zu machen. Tritt man von dieser Erwägung ausgehend der Frage
näher: Wie hat die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags zu allen den
Gesetzen usw. gestimmt, die seit der Errichtung des Norddeutschen Bundes und
des Deutschen Reichs in sozialpolitischer Beziehung zum Wohle der wirtschaft¬
lich schwachen erlassen worden sind? -- so bekommt man bei objektiver Prüfung
doch ein recht eigentümliches Bild von der legislativen Betätigung der sozial¬
demokratischen Partei. Es sind im ganzen vom Jahre 1867 an bis zum
Schlüsse des Jahres 1904 einhundertfünfundzwanzig sozialpolitische Gesetze
erlassen worden, eine Zahl, die an sich Bände spricht, und die man sich gegen¬
wärtig halten muß bei dem Ausspruche des Staatssekretärs Grafen Posa-
dowsky, daß unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung der Unterbau fehle. In allen
übrigen europäischen Kulturländern wird man es wahrscheinlich kaum für
möglich halten, daß ein nicht einmal einheitlicher, sondern bundesstaatlicher
Organismus wie das Deutsche Reich binnen siebenunddreißig Jahren, innerhalb


Grenzboten IH 1906 43


Die deutsche Socialdemokratie und die sozialpolitische
Gesetzgebung
i

>n einer Beurteilung der deutschen Sozialdemokratie und ihrer
positiven Leistungen für Gegenwart und Zukunft dürfte es von
Nutzen sein, an der Hand einer objektiven Darstellung festzu¬
legen, wie sich die parlamentarische Vertretung dieser Partei gegen¬
über der sozialpolitischen Gesetzgebung des Deutschen Reichs von
Anbeginn an verhalten hat. Wenn es unzweifelhaft richtig ist, daß jedes
sozialpolitische Gesetz, mag es auch noch so verbesserungsfähig sein, eine Ver-
vesserung der davon betroffnen Vevölkerungsteile gegenüber ihrer bisherigen
Lage bedeutet, so hätte folgerichtig die deutsche Sozialdemokratie für jedes dieser
Gesetze stimmen müssen, soweit nicht direkt politische Vorgänge in Frage kamen,
mit dem Vorbehalt, sich die Verbesserung dieses unzureichenden Gesetzes durch
immer von neuem wiederkehrende sachliche Vorschläge angelegen sein zu lassen.
Da die Möglichkeit nicht bestand und nicht besteht, den „heutigen Klassenstaat"
an einem Tage einzureihen, so hätte es für eine richtig operierende soziale Partei
in der Natur der Dinge gelegen, sich mit Abschlagszahlungen, auch mit den
kleinsten, zu begnügen und sie immer wieder zum Ausgangspunkt weiterer Be¬
strebungen zu machen. Tritt man von dieser Erwägung ausgehend der Frage
näher: Wie hat die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags zu allen den
Gesetzen usw. gestimmt, die seit der Errichtung des Norddeutschen Bundes und
des Deutschen Reichs in sozialpolitischer Beziehung zum Wohle der wirtschaft¬
lich schwachen erlassen worden sind? — so bekommt man bei objektiver Prüfung
doch ein recht eigentümliches Bild von der legislativen Betätigung der sozial¬
demokratischen Partei. Es sind im ganzen vom Jahre 1867 an bis zum
Schlüsse des Jahres 1904 einhundertfünfundzwanzig sozialpolitische Gesetze
erlassen worden, eine Zahl, die an sich Bände spricht, und die man sich gegen¬
wärtig halten muß bei dem Ausspruche des Staatssekretärs Grafen Posa-
dowsky, daß unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung der Unterbau fehle. In allen
übrigen europäischen Kulturländern wird man es wahrscheinlich kaum für
möglich halten, daß ein nicht einmal einheitlicher, sondern bundesstaatlicher
Organismus wie das Deutsche Reich binnen siebenunddreißig Jahren, innerhalb


Grenzboten IH 1906 43
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[0345] [Abbildung] Die deutsche Socialdemokratie und die sozialpolitische Gesetzgebung i >n einer Beurteilung der deutschen Sozialdemokratie und ihrer positiven Leistungen für Gegenwart und Zukunft dürfte es von Nutzen sein, an der Hand einer objektiven Darstellung festzu¬ legen, wie sich die parlamentarische Vertretung dieser Partei gegen¬ über der sozialpolitischen Gesetzgebung des Deutschen Reichs von Anbeginn an verhalten hat. Wenn es unzweifelhaft richtig ist, daß jedes sozialpolitische Gesetz, mag es auch noch so verbesserungsfähig sein, eine Ver- vesserung der davon betroffnen Vevölkerungsteile gegenüber ihrer bisherigen Lage bedeutet, so hätte folgerichtig die deutsche Sozialdemokratie für jedes dieser Gesetze stimmen müssen, soweit nicht direkt politische Vorgänge in Frage kamen, mit dem Vorbehalt, sich die Verbesserung dieses unzureichenden Gesetzes durch immer von neuem wiederkehrende sachliche Vorschläge angelegen sein zu lassen. Da die Möglichkeit nicht bestand und nicht besteht, den „heutigen Klassenstaat" an einem Tage einzureihen, so hätte es für eine richtig operierende soziale Partei in der Natur der Dinge gelegen, sich mit Abschlagszahlungen, auch mit den kleinsten, zu begnügen und sie immer wieder zum Ausgangspunkt weiterer Be¬ strebungen zu machen. Tritt man von dieser Erwägung ausgehend der Frage näher: Wie hat die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags zu allen den Gesetzen usw. gestimmt, die seit der Errichtung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reichs in sozialpolitischer Beziehung zum Wohle der wirtschaft¬ lich schwachen erlassen worden sind? — so bekommt man bei objektiver Prüfung doch ein recht eigentümliches Bild von der legislativen Betätigung der sozial¬ demokratischen Partei. Es sind im ganzen vom Jahre 1867 an bis zum Schlüsse des Jahres 1904 einhundertfünfundzwanzig sozialpolitische Gesetze erlassen worden, eine Zahl, die an sich Bände spricht, und die man sich gegen¬ wärtig halten muß bei dem Ausspruche des Staatssekretärs Grafen Posa- dowsky, daß unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung der Unterbau fehle. In allen übrigen europäischen Kulturländern wird man es wahrscheinlich kaum für möglich halten, daß ein nicht einmal einheitlicher, sondern bundesstaatlicher Organismus wie das Deutsche Reich binnen siebenunddreißig Jahren, innerhalb Grenzboten IH 1906 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/345>, abgerufen am 19.10.2024.