Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.Herrenmenschen geworden, so ein Abend wie draußen, ganz schön, aber sinkende Sonne, und alles Die Zeit war gekommen, wo er es wagen konnte, sein Boot für Madüe aus¬ Er blieb entsetzt stehn. Seine Gesichtsfarbe war leichenfahl geworden, seine Es war spät in der Nacht, als er nach langem Suchen gefunden und nach In derselben Nacht saßen Heinemann und Kvndrot im Gefängnis, ohne schlafen Hören Sie auf zu heulen, rief Heinemann unwillig. Damit macht man nicht Heinemann, erwiderte Kondrot, lästern Sie nicht. Es gibt einen Weg rück¬ Blödsinn! sagte Heinemann. Buße hilft mir nicht aus diesem Loche heraus. Man hörte Tritte über den Köpfen der Gefangnen. Lehm bröckelte herab, Vater! rief eine halblaute Stimme. Es war Jurgis, der als Knabe oft genug Herrenmenschen geworden, so ein Abend wie draußen, ganz schön, aber sinkende Sonne, und alles Die Zeit war gekommen, wo er es wagen konnte, sein Boot für Madüe aus¬ Er blieb entsetzt stehn. Seine Gesichtsfarbe war leichenfahl geworden, seine Es war spät in der Nacht, als er nach langem Suchen gefunden und nach In derselben Nacht saßen Heinemann und Kvndrot im Gefängnis, ohne schlafen Hören Sie auf zu heulen, rief Heinemann unwillig. Damit macht man nicht Heinemann, erwiderte Kondrot, lästern Sie nicht. Es gibt einen Weg rück¬ Blödsinn! sagte Heinemann. Buße hilft mir nicht aus diesem Loche heraus. Man hörte Tritte über den Köpfen der Gefangnen. Lehm bröckelte herab, Vater! rief eine halblaute Stimme. Es war Jurgis, der als Knabe oft genug <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0328" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297847"/> <fw type="header" place="top"> Herrenmenschen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1515" prev="#ID_1514"> geworden, so ein Abend wie draußen, ganz schön, aber sinkende Sonne, und alles<lb/> mit Asche bestreut. Wenn er seine Flete geheiratet hätte, der Tag wäre vielleicht<lb/> weniger schön, aber der Abend wäre schöner geworden. Oder wenn er Tauenden<lb/> geheiratet hätte! Vorausgesetzt, daß ihn diese gewollt hätte!</p><lb/> <p xml:id="ID_1516"> Die Zeit war gekommen, wo er es wagen konnte, sein Boot für Madüe aus¬<lb/> zurüsten. Er holte Mast und Segel aus dem Stall und trug beides, um die<lb/> Scheune herumgehend, hinab nach dem Strande. Er füllte ein Faß mit Wasser<lb/> und rüstete einen Korb mit Proviant und trug alles hinab. Noch fehlte ein<lb/> Kompaß und ein Legitimationspapier. Er holte den Kompaß und stellte eine<lb/> Legitimation aus, die er vorsichtigerweise einige Wochen zurückdatierte, und trug auch<lb/> das hinab. Als er an den Bäumen vorbeikam, die auf dem Lande zwischen Scheune<lb/> und Strand standen, geriet er in eine Wolke von Mücken. Er war gezwungen<lb/> den Kopf zu senken und die Augen zu schließen und so halb blind seinen Weg zu<lb/> suchen. So kam er in der Nähe des Schiffs an und schaute auf. Da stand vor<lb/> ihm wie aus der Erde gewachsen eine weiße Frauengestalt. Er erkannte es in dem<lb/> dämmernden Lichte des Abends genau, es war Frau Mary. Nicht die vergrämte<lb/> und verzweifelte Mary, die er gequält und in den Tod getrieben hatte, sondern<lb/> jung und froh, als käme sie aus dem Jenseits zurück. Und der Mann, der ihr<lb/> folgte, hatte gerade so einen Bart und trug gerade so einen Panamahut, wie ihn<lb/> einst Van Term getragen hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1517"> Er blieb entsetzt stehn. Seine Gesichtsfarbe war leichenfahl geworden, seine<lb/> Augen schienen aus ihren Höhlungen treten zu wollen, sein Mund war geöffnet,<lb/> und seine Hände ließen kraftlos fallen, was sie trugen. Und so blieb er stehn,<lb/> nachdem die Erscheinung, die ihm den tödlichen Schreck eingeflößt hatte, verschwunden<lb/> war — blieb stehn im Dämmerlichte des scheidenden Tages, umgeben von einem<lb/> dichten Schwarm von Haffmücken, ohne den Gesichtsausdruck zu ändern und ohne<lb/> ein Glied zu rühren. Dann kam er ins Wanken und fiel schwer und leblos nieder,<lb/> indem er sich im Fallen in eins der am Strande hängenden Netze verwickelte und<lb/> es urit sich zu Boden riß.</p><lb/> <p xml:id="ID_1518"> Es war spät in der Nacht, als er nach langem Suchen gefunden und nach<lb/> Hause gebracht wurde. Er war einseitig gelähmt, und die eine Hälfte des Gesichts<lb/> hatte den entsetzten Ausdruck beibehalten, den seine Mienen angenommen hatten,<lb/></p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_1519"> In derselben Nacht saßen Heinemann und Kvndrot im Gefängnis, ohne schlafen<lb/> zu können. Kondrot betete, und Heinemann fluchte und lästerte. Ach, Herr Gott,<lb/> betete Kondrot, aus der Tiefe, aus der Tiefe rufe ich zu dir. Was habe ich getan,<lb/> daß du mich so tief verstößt? Unter die Betrüger und Meuchelmörder! Was habe<lb/> ich getan? — er unterbrach sein Gebet. Eine Erinnerung tauchte in ihm auf. Die<lb/> Nacht, wo er Van Term den Revolver in die Manteltasche gesteckt hatte, mit dem<lb/> dieser sich erschoß. Er hatte es aus Mitleid getan. Er hatte sich später dieser<lb/> Tat vor sich selber gerühmt, nun aber erschien sie ihm in anderen, blutigrotem Lichte.<lb/> War seine Tat nicht ebenso schlimm, als wenn er selbst den Revolver auf Van Terens<lb/> Brust gerichtet hätte? Er stöhnte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1520"> Hören Sie auf zu heulen, rief Heinemann unwillig. Damit macht man nicht<lb/> gut, was man getan hat. Immer vorwärts! Gibt es keinen Weg rückwärts, gibts<lb/> einen vorwarf — in die Hölle!</p><lb/> <p xml:id="ID_1521"> Heinemann, erwiderte Kondrot, lästern Sie nicht. Es gibt einen Weg rück¬<lb/> wärts, die Buße.</p><lb/> <p xml:id="ID_1522"> Blödsinn! sagte Heinemann. Buße hilft mir nicht aus diesem Loche heraus.</p><lb/> <p xml:id="ID_1523"> Man hörte Tritte über den Köpfen der Gefangnen. Lehm bröckelte herab,<lb/> und eine Bohle der Decke wurde hochgehoben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1524" next="#ID_1525"> Vater! rief eine halblaute Stimme. Es war Jurgis, der als Knabe oft genug<lb/> erprobt hatte, wie man bei Benutzung eines Zaunes und eines Baumes auf den</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0328]
Herrenmenschen
geworden, so ein Abend wie draußen, ganz schön, aber sinkende Sonne, und alles
mit Asche bestreut. Wenn er seine Flete geheiratet hätte, der Tag wäre vielleicht
weniger schön, aber der Abend wäre schöner geworden. Oder wenn er Tauenden
geheiratet hätte! Vorausgesetzt, daß ihn diese gewollt hätte!
Die Zeit war gekommen, wo er es wagen konnte, sein Boot für Madüe aus¬
zurüsten. Er holte Mast und Segel aus dem Stall und trug beides, um die
Scheune herumgehend, hinab nach dem Strande. Er füllte ein Faß mit Wasser
und rüstete einen Korb mit Proviant und trug alles hinab. Noch fehlte ein
Kompaß und ein Legitimationspapier. Er holte den Kompaß und stellte eine
Legitimation aus, die er vorsichtigerweise einige Wochen zurückdatierte, und trug auch
das hinab. Als er an den Bäumen vorbeikam, die auf dem Lande zwischen Scheune
und Strand standen, geriet er in eine Wolke von Mücken. Er war gezwungen
den Kopf zu senken und die Augen zu schließen und so halb blind seinen Weg zu
suchen. So kam er in der Nähe des Schiffs an und schaute auf. Da stand vor
ihm wie aus der Erde gewachsen eine weiße Frauengestalt. Er erkannte es in dem
dämmernden Lichte des Abends genau, es war Frau Mary. Nicht die vergrämte
und verzweifelte Mary, die er gequält und in den Tod getrieben hatte, sondern
jung und froh, als käme sie aus dem Jenseits zurück. Und der Mann, der ihr
folgte, hatte gerade so einen Bart und trug gerade so einen Panamahut, wie ihn
einst Van Term getragen hatte.
Er blieb entsetzt stehn. Seine Gesichtsfarbe war leichenfahl geworden, seine
Augen schienen aus ihren Höhlungen treten zu wollen, sein Mund war geöffnet,
und seine Hände ließen kraftlos fallen, was sie trugen. Und so blieb er stehn,
nachdem die Erscheinung, die ihm den tödlichen Schreck eingeflößt hatte, verschwunden
war — blieb stehn im Dämmerlichte des scheidenden Tages, umgeben von einem
dichten Schwarm von Haffmücken, ohne den Gesichtsausdruck zu ändern und ohne
ein Glied zu rühren. Dann kam er ins Wanken und fiel schwer und leblos nieder,
indem er sich im Fallen in eins der am Strande hängenden Netze verwickelte und
es urit sich zu Boden riß.
Es war spät in der Nacht, als er nach langem Suchen gefunden und nach
Hause gebracht wurde. Er war einseitig gelähmt, und die eine Hälfte des Gesichts
hatte den entsetzten Ausdruck beibehalten, den seine Mienen angenommen hatten,
In derselben Nacht saßen Heinemann und Kvndrot im Gefängnis, ohne schlafen
zu können. Kondrot betete, und Heinemann fluchte und lästerte. Ach, Herr Gott,
betete Kondrot, aus der Tiefe, aus der Tiefe rufe ich zu dir. Was habe ich getan,
daß du mich so tief verstößt? Unter die Betrüger und Meuchelmörder! Was habe
ich getan? — er unterbrach sein Gebet. Eine Erinnerung tauchte in ihm auf. Die
Nacht, wo er Van Term den Revolver in die Manteltasche gesteckt hatte, mit dem
dieser sich erschoß. Er hatte es aus Mitleid getan. Er hatte sich später dieser
Tat vor sich selber gerühmt, nun aber erschien sie ihm in anderen, blutigrotem Lichte.
War seine Tat nicht ebenso schlimm, als wenn er selbst den Revolver auf Van Terens
Brust gerichtet hätte? Er stöhnte.
Hören Sie auf zu heulen, rief Heinemann unwillig. Damit macht man nicht
gut, was man getan hat. Immer vorwärts! Gibt es keinen Weg rückwärts, gibts
einen vorwarf — in die Hölle!
Heinemann, erwiderte Kondrot, lästern Sie nicht. Es gibt einen Weg rück¬
wärts, die Buße.
Blödsinn! sagte Heinemann. Buße hilft mir nicht aus diesem Loche heraus.
Man hörte Tritte über den Köpfen der Gefangnen. Lehm bröckelte herab,
und eine Bohle der Decke wurde hochgehoben.
Vater! rief eine halblaute Stimme. Es war Jurgis, der als Knabe oft genug
erprobt hatte, wie man bei Benutzung eines Zaunes und eines Baumes auf den
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