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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die hohen Fleischpreise

undneunzigjühriger Greis, am 20. Juli 1903 verschied, hat er das Bewußtsein
mit sich nehmen können, daß er das Papsttum, das sein Vorgänger mit aller
Welt in Gegensatz gebracht hatte, der modernen Welt angenähert und zu einer
anerkannten geistigen Weltmacht erhoben habe, ein Sieg des Universalismus
und zugleich ein Beweis mehr dafür, daß wir in ein Zeitalter gebundner Welt¬
anschauung eingetreten sind. Das mögen die einen beklagen, die andern freudig
begrüßen, dem Historiker ziemt es, diese Wendung zu verstehn, dem Staats¬
mann, danach zu handeln.




Die hohen Aeischpreise
Hugo Böttger von

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ST?me an sich wirtschaftliche Frage, die nicht aus den Marktbe¬
richten und dem Handelsteil der Zeitung herausfällt, die Frage
der hohen Fleischpreise rückt jedesmal dann an die leitende
Stelle der öffentlichen Meinung und wird zur politischen An¬
gelegenheit ersten Ranges, wenn die Preishöhe so extravagant
wird, daß es sich für die Agrarier lohnt, auf den Zwischenhandel zu schelten,
für die Fleischer aber, den Agrariern und der Regierung zu Leibe zu gehn
und die Änderung unsrer Veterinärabkommen mit den übrigen Vieh produ¬
zierenden Staaten stürmisch zu verlangen, und daß es schließlich für die Sozial¬
demokraten eine Genugtuung ist, zwei der lebensfähigsten Teile des Mittel¬
standes: Fleischer und Viehzüchter noch mehr aufeinander zu Hetzen. Die
Sozialdemokratie behält schließlich den Trumpf in der Hand, daß die "kapi¬
talistische Regierung" durch Zoll und Veterinärpolitik die breite Masse des
konsumierenden Volkes abwechselnd dem Zwischenhandel oder dem Produzenten
zur Auspowerung ausliefere. Das ist der regelmäßige Gang der Debatten bei
den von Zeit zu Zeit eintretenden Fleischteuerungen.

Ohne Frage haben wir gegenwärtig höchst unerfreuliche Fleischpreise, und
nicht nur der Arbeiterhaushalt verspürt die Kalamität der Nahrungsmittel¬
versorgung des deutschen Volkes. Auch die Hausfrauen des Mittelstandes
kommen mit dem alten Monatsbudget nicht mehr aus und machen Nach-
forderungen geltend. Man hat zu derselben Zeit im vorigen Jahre ge¬
wöhnliches Schweine- und Rindfleisch um 20 bis 30 Pfennige für das
Pfund billiger haben können als jetzt, und die Marktnotierungen für Rinder,
Ochsen, Kühe gehn über die des Notjahres 1902 noch um ein Beträcht¬
liches hinaus, die Preise für Schweine sind ebenfalls etwa 2 Prozent über
die von 1902 derselben Jahreszeit gestiegen. Also muß der Ausnahme¬
charakter der gegenwärtigen Preisbildung ohne Einschränkung zugegeben werden.
Der politische Streit erhebt sich erst bei der Ergründung der Ursachen und
bei den Abhilfevorschlägen. Was sind die Ursachen? Die Einen erklären,
die Unzulänglichkeit der deutschen Viehproduktion im Verhältnis zum Bedarf


Die hohen Fleischpreise

undneunzigjühriger Greis, am 20. Juli 1903 verschied, hat er das Bewußtsein
mit sich nehmen können, daß er das Papsttum, das sein Vorgänger mit aller
Welt in Gegensatz gebracht hatte, der modernen Welt angenähert und zu einer
anerkannten geistigen Weltmacht erhoben habe, ein Sieg des Universalismus
und zugleich ein Beweis mehr dafür, daß wir in ein Zeitalter gebundner Welt¬
anschauung eingetreten sind. Das mögen die einen beklagen, die andern freudig
begrüßen, dem Historiker ziemt es, diese Wendung zu verstehn, dem Staats¬
mann, danach zu handeln.




Die hohen Aeischpreise
Hugo Böttger von

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ST?me an sich wirtschaftliche Frage, die nicht aus den Marktbe¬
richten und dem Handelsteil der Zeitung herausfällt, die Frage
der hohen Fleischpreise rückt jedesmal dann an die leitende
Stelle der öffentlichen Meinung und wird zur politischen An¬
gelegenheit ersten Ranges, wenn die Preishöhe so extravagant
wird, daß es sich für die Agrarier lohnt, auf den Zwischenhandel zu schelten,
für die Fleischer aber, den Agrariern und der Regierung zu Leibe zu gehn
und die Änderung unsrer Veterinärabkommen mit den übrigen Vieh produ¬
zierenden Staaten stürmisch zu verlangen, und daß es schließlich für die Sozial¬
demokraten eine Genugtuung ist, zwei der lebensfähigsten Teile des Mittel¬
standes: Fleischer und Viehzüchter noch mehr aufeinander zu Hetzen. Die
Sozialdemokratie behält schließlich den Trumpf in der Hand, daß die „kapi¬
talistische Regierung" durch Zoll und Veterinärpolitik die breite Masse des
konsumierenden Volkes abwechselnd dem Zwischenhandel oder dem Produzenten
zur Auspowerung ausliefere. Das ist der regelmäßige Gang der Debatten bei
den von Zeit zu Zeit eintretenden Fleischteuerungen.

Ohne Frage haben wir gegenwärtig höchst unerfreuliche Fleischpreise, und
nicht nur der Arbeiterhaushalt verspürt die Kalamität der Nahrungsmittel¬
versorgung des deutschen Volkes. Auch die Hausfrauen des Mittelstandes
kommen mit dem alten Monatsbudget nicht mehr aus und machen Nach-
forderungen geltend. Man hat zu derselben Zeit im vorigen Jahre ge¬
wöhnliches Schweine- und Rindfleisch um 20 bis 30 Pfennige für das
Pfund billiger haben können als jetzt, und die Marktnotierungen für Rinder,
Ochsen, Kühe gehn über die des Notjahres 1902 noch um ein Beträcht¬
liches hinaus, die Preise für Schweine sind ebenfalls etwa 2 Prozent über
die von 1902 derselben Jahreszeit gestiegen. Also muß der Ausnahme¬
charakter der gegenwärtigen Preisbildung ohne Einschränkung zugegeben werden.
Der politische Streit erhebt sich erst bei der Ergründung der Ursachen und
bei den Abhilfevorschlägen. Was sind die Ursachen? Die Einen erklären,
die Unzulänglichkeit der deutschen Viehproduktion im Verhältnis zum Bedarf


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[0302] Die hohen Fleischpreise undneunzigjühriger Greis, am 20. Juli 1903 verschied, hat er das Bewußtsein mit sich nehmen können, daß er das Papsttum, das sein Vorgänger mit aller Welt in Gegensatz gebracht hatte, der modernen Welt angenähert und zu einer anerkannten geistigen Weltmacht erhoben habe, ein Sieg des Universalismus und zugleich ein Beweis mehr dafür, daß wir in ein Zeitalter gebundner Welt¬ anschauung eingetreten sind. Das mögen die einen beklagen, die andern freudig begrüßen, dem Historiker ziemt es, diese Wendung zu verstehn, dem Staats¬ mann, danach zu handeln. Die hohen Aeischpreise Hugo Böttger von vUß> (iM^?e ST?me an sich wirtschaftliche Frage, die nicht aus den Marktbe¬ richten und dem Handelsteil der Zeitung herausfällt, die Frage der hohen Fleischpreise rückt jedesmal dann an die leitende Stelle der öffentlichen Meinung und wird zur politischen An¬ gelegenheit ersten Ranges, wenn die Preishöhe so extravagant wird, daß es sich für die Agrarier lohnt, auf den Zwischenhandel zu schelten, für die Fleischer aber, den Agrariern und der Regierung zu Leibe zu gehn und die Änderung unsrer Veterinärabkommen mit den übrigen Vieh produ¬ zierenden Staaten stürmisch zu verlangen, und daß es schließlich für die Sozial¬ demokraten eine Genugtuung ist, zwei der lebensfähigsten Teile des Mittel¬ standes: Fleischer und Viehzüchter noch mehr aufeinander zu Hetzen. Die Sozialdemokratie behält schließlich den Trumpf in der Hand, daß die „kapi¬ talistische Regierung" durch Zoll und Veterinärpolitik die breite Masse des konsumierenden Volkes abwechselnd dem Zwischenhandel oder dem Produzenten zur Auspowerung ausliefere. Das ist der regelmäßige Gang der Debatten bei den von Zeit zu Zeit eintretenden Fleischteuerungen. Ohne Frage haben wir gegenwärtig höchst unerfreuliche Fleischpreise, und nicht nur der Arbeiterhaushalt verspürt die Kalamität der Nahrungsmittel¬ versorgung des deutschen Volkes. Auch die Hausfrauen des Mittelstandes kommen mit dem alten Monatsbudget nicht mehr aus und machen Nach- forderungen geltend. Man hat zu derselben Zeit im vorigen Jahre ge¬ wöhnliches Schweine- und Rindfleisch um 20 bis 30 Pfennige für das Pfund billiger haben können als jetzt, und die Marktnotierungen für Rinder, Ochsen, Kühe gehn über die des Notjahres 1902 noch um ein Beträcht¬ liches hinaus, die Preise für Schweine sind ebenfalls etwa 2 Prozent über die von 1902 derselben Jahreszeit gestiegen. Also muß der Ausnahme¬ charakter der gegenwärtigen Preisbildung ohne Einschränkung zugegeben werden. Der politische Streit erhebt sich erst bei der Ergründung der Ursachen und bei den Abhilfevorschlägen. Was sind die Ursachen? Die Einen erklären, die Unzulänglichkeit der deutschen Viehproduktion im Verhältnis zum Bedarf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/302>, abgerufen am 27.09.2024.