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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Musikalische Auslegungskunst

und als ein mit erstaunlichem Verständnis tobender und tadelnder Kritiker
bewährt er sich da, wo er nicht aus fremden Quellen schöpft, sondern von
seinem eignen Urteil und seinem eignen Geschmacke geleitet wird. Der Teil
seines Werkes, der sich mit dem Wagnerschen Musikdrama beschäftigt, entzieht
sich meiner Beurteilung, da ich bei allem Gefallen, das ich an den allgemein
verstündlichen Schöpfungen des Meisters finde, das von diesem ersehnte natio¬
nale Musikdrama nicht als das einzig zu erstrebende Ziel unsrer musikalischen
Entwicklung ansehe; wo Martersteig dagegen zum Beispiel auf Kleist, Immer-
mann, Grillparzer, Anzengruber, Ibsen und Hauptmann zu sprechen kommt,
erscheint mir sein oft in ein glänzendes, farbenprächtiges Gewand gekleidetes
Urteil von überraschender Schärfe und dabei von einer jedem in Frage
kommenden Umstände Rechnung tragenden Sachlichkeit und Unparteilichkeit,
die dem Verfasser das Vertrauen des Lesers von Seite zu Seite mehr ge¬
winnen. So ist auch was er über Maeterlinck sagt, sehr lesenswert, und ich
bedaure lebhaft, daß mir der der Natur der Sache nach begrenzte Raum einer
solchen Besprechung nicht erlaubt, den Leser durch ausführlichere Proben mit
der Anschauungs- und Darstellungsweise des Verfassers bekannt zu machen.
Sein Buch kann jedermann warm empfohlen werden. Um dessen Benutzung als
Nachschlagewerk zu erleichtern, sind ein Literaturverzeichnis und ein Personen-
und Sachregister beigegeben, denen ich, soweit die von mir damit gemachten Er¬
fahrungen reichen, das Lob lückenloser Vollständigkeit erteilen kann.




Musikalische Auslegungskunst
von Walter Niemann

>le Musik ist die Kunst, die sich am meisten an das Gemüt und
das Herz des Menschen wendet. Sie setzt ein Mitempfinden, ein
Mit- und Nachschaffen bei ihrem Vortrag oder Studium voraus,
sie rechnet auf ein williges, vorurteilsloses Ohr und auf ein
I poetisches Empfinden des, der ihrer oft so zart sich verschließenden
Sprache bis in die dämmernden Tiefen verständnisvoll nachgeht. Sie flieht
und zieht sich scheu zurück vor dem erbarmungslos zerpflückenden, kalten Ver¬
stände, sie verschließt ihre eigentlichen Schönheiten vor den gleichgiltigen Blicken
der Oberflächlichkeit. Sie will zuerst empfunden, vom Herzen willkommen ge¬
heißen und dann erst auch vom Verstände begriffen sein.

Wir leben heute in der Zeit einer alles umfassenden, wissenschaftlichen
Gründlichkeit. Unsre Dichter und Romanschriftsteller möchten wir am liebsten
nur in kommentierten Ausgaben lesen, ja wir glauben, ohne solche Kommentare,
lange Einführungen usw. an sie nicht herangehn zu dürfen, geschweige sie völlig
verstehn zu können- In der bildenden Kunst stehn wir im Zeitalter der
"führenden" Kataloge, der Kunstgeschichten und der Spezialarbeiten in wahr¬
haft beängstigend anwachsender Fülle. In der Musik nehmen wir ganz die-


Musikalische Auslegungskunst

und als ein mit erstaunlichem Verständnis tobender und tadelnder Kritiker
bewährt er sich da, wo er nicht aus fremden Quellen schöpft, sondern von
seinem eignen Urteil und seinem eignen Geschmacke geleitet wird. Der Teil
seines Werkes, der sich mit dem Wagnerschen Musikdrama beschäftigt, entzieht
sich meiner Beurteilung, da ich bei allem Gefallen, das ich an den allgemein
verstündlichen Schöpfungen des Meisters finde, das von diesem ersehnte natio¬
nale Musikdrama nicht als das einzig zu erstrebende Ziel unsrer musikalischen
Entwicklung ansehe; wo Martersteig dagegen zum Beispiel auf Kleist, Immer-
mann, Grillparzer, Anzengruber, Ibsen und Hauptmann zu sprechen kommt,
erscheint mir sein oft in ein glänzendes, farbenprächtiges Gewand gekleidetes
Urteil von überraschender Schärfe und dabei von einer jedem in Frage
kommenden Umstände Rechnung tragenden Sachlichkeit und Unparteilichkeit,
die dem Verfasser das Vertrauen des Lesers von Seite zu Seite mehr ge¬
winnen. So ist auch was er über Maeterlinck sagt, sehr lesenswert, und ich
bedaure lebhaft, daß mir der der Natur der Sache nach begrenzte Raum einer
solchen Besprechung nicht erlaubt, den Leser durch ausführlichere Proben mit
der Anschauungs- und Darstellungsweise des Verfassers bekannt zu machen.
Sein Buch kann jedermann warm empfohlen werden. Um dessen Benutzung als
Nachschlagewerk zu erleichtern, sind ein Literaturverzeichnis und ein Personen-
und Sachregister beigegeben, denen ich, soweit die von mir damit gemachten Er¬
fahrungen reichen, das Lob lückenloser Vollständigkeit erteilen kann.




Musikalische Auslegungskunst
von Walter Niemann

>le Musik ist die Kunst, die sich am meisten an das Gemüt und
das Herz des Menschen wendet. Sie setzt ein Mitempfinden, ein
Mit- und Nachschaffen bei ihrem Vortrag oder Studium voraus,
sie rechnet auf ein williges, vorurteilsloses Ohr und auf ein
I poetisches Empfinden des, der ihrer oft so zart sich verschließenden
Sprache bis in die dämmernden Tiefen verständnisvoll nachgeht. Sie flieht
und zieht sich scheu zurück vor dem erbarmungslos zerpflückenden, kalten Ver¬
stände, sie verschließt ihre eigentlichen Schönheiten vor den gleichgiltigen Blicken
der Oberflächlichkeit. Sie will zuerst empfunden, vom Herzen willkommen ge¬
heißen und dann erst auch vom Verstände begriffen sein.

Wir leben heute in der Zeit einer alles umfassenden, wissenschaftlichen
Gründlichkeit. Unsre Dichter und Romanschriftsteller möchten wir am liebsten
nur in kommentierten Ausgaben lesen, ja wir glauben, ohne solche Kommentare,
lange Einführungen usw. an sie nicht herangehn zu dürfen, geschweige sie völlig
verstehn zu können- In der bildenden Kunst stehn wir im Zeitalter der
„führenden" Kataloge, der Kunstgeschichten und der Spezialarbeiten in wahr¬
haft beängstigend anwachsender Fülle. In der Musik nehmen wir ganz die-


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[0262] Musikalische Auslegungskunst und als ein mit erstaunlichem Verständnis tobender und tadelnder Kritiker bewährt er sich da, wo er nicht aus fremden Quellen schöpft, sondern von seinem eignen Urteil und seinem eignen Geschmacke geleitet wird. Der Teil seines Werkes, der sich mit dem Wagnerschen Musikdrama beschäftigt, entzieht sich meiner Beurteilung, da ich bei allem Gefallen, das ich an den allgemein verstündlichen Schöpfungen des Meisters finde, das von diesem ersehnte natio¬ nale Musikdrama nicht als das einzig zu erstrebende Ziel unsrer musikalischen Entwicklung ansehe; wo Martersteig dagegen zum Beispiel auf Kleist, Immer- mann, Grillparzer, Anzengruber, Ibsen und Hauptmann zu sprechen kommt, erscheint mir sein oft in ein glänzendes, farbenprächtiges Gewand gekleidetes Urteil von überraschender Schärfe und dabei von einer jedem in Frage kommenden Umstände Rechnung tragenden Sachlichkeit und Unparteilichkeit, die dem Verfasser das Vertrauen des Lesers von Seite zu Seite mehr ge¬ winnen. So ist auch was er über Maeterlinck sagt, sehr lesenswert, und ich bedaure lebhaft, daß mir der der Natur der Sache nach begrenzte Raum einer solchen Besprechung nicht erlaubt, den Leser durch ausführlichere Proben mit der Anschauungs- und Darstellungsweise des Verfassers bekannt zu machen. Sein Buch kann jedermann warm empfohlen werden. Um dessen Benutzung als Nachschlagewerk zu erleichtern, sind ein Literaturverzeichnis und ein Personen- und Sachregister beigegeben, denen ich, soweit die von mir damit gemachten Er¬ fahrungen reichen, das Lob lückenloser Vollständigkeit erteilen kann. Musikalische Auslegungskunst von Walter Niemann >le Musik ist die Kunst, die sich am meisten an das Gemüt und das Herz des Menschen wendet. Sie setzt ein Mitempfinden, ein Mit- und Nachschaffen bei ihrem Vortrag oder Studium voraus, sie rechnet auf ein williges, vorurteilsloses Ohr und auf ein I poetisches Empfinden des, der ihrer oft so zart sich verschließenden Sprache bis in die dämmernden Tiefen verständnisvoll nachgeht. Sie flieht und zieht sich scheu zurück vor dem erbarmungslos zerpflückenden, kalten Ver¬ stände, sie verschließt ihre eigentlichen Schönheiten vor den gleichgiltigen Blicken der Oberflächlichkeit. Sie will zuerst empfunden, vom Herzen willkommen ge¬ heißen und dann erst auch vom Verstände begriffen sein. Wir leben heute in der Zeit einer alles umfassenden, wissenschaftlichen Gründlichkeit. Unsre Dichter und Romanschriftsteller möchten wir am liebsten nur in kommentierten Ausgaben lesen, ja wir glauben, ohne solche Kommentare, lange Einführungen usw. an sie nicht herangehn zu dürfen, geschweige sie völlig verstehn zu können- In der bildenden Kunst stehn wir im Zeitalter der „führenden" Kataloge, der Kunstgeschichten und der Spezialarbeiten in wahr¬ haft beängstigend anwachsender Fülle. In der Musik nehmen wir ganz die-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/262>, abgerufen am 27.09.2024.