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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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vom deutschen Theater

Höfe, der mit Theaterleitungen betrauten Kavaliere und der italienischen Oper
zusammengebrachte Material trotz seiner Lückenhaftigkeit nicht zu einseitigen
Urteilen hat verführen können. Seine Erbitterung gegen den durch die Gunst
des kursächsischen Hofes zu Ansehen und Vermögen gelangten Kastraten Sorlisi
würde sogar etwas Komisches haben, wenn man sich nicht sagen müßte, daß
die Sache auch ihre ernste Seite habe, und daß ein den ungebildeten Volks¬
klassen besonders ans Herz gewachsnes Vorurteil nicht recht in den idealem
Anschauungskreis eines Kunstästheten passen will. Es ist offenbar zweierlei,
ob man eine uns heutzutage unbegreiflich erscheinende musikalische Modetor¬
heit mit Recht als barbarisch verurteilt, oder ob man, wie Martersteig, weiter
geht und mit sittlicher Entrüstung nicht bloß gegen die Teilnehmer daran,
sondern auch gegen deren Opfer zu Felde zieht. Daß man sich auch am Hofe
des "Hauptes der Christenheit" mit orientalischer Verachtung von Menschen¬
würde und Menschenrechten für das Fehlen der Frauenstimmen, zunächst im
Kirchenchore, schadlos zu halten und der Kurzlebigkeit mit Kunst und Mühe
geschulter Knabenstimmen in tölpischer Weise abzuhelfen suchte, ist leider Tat¬
sache; auch den hemmenden Einfluß, den die Vorliebe der Großen für italienische
Oper und Gesangskunst auf die Entwicklung des deutschen Theaters gehabt
hat, kann man nicht in Abrede stellen. Nur den Maßstab unsrer inzwischen
fortgeschrittnen Erkenntnis und Kultur soll man nicht ohne weiteres an jene
längst vergangnen Zustände anlegen, weil man damit dieselbe Unbilligkeit
begeht, deren sich in zwei- bis dreihundert Jahren ein Forscher schuldig macheu
würde, der das heutige Duellwesen nach den geläuterten Begriffen dieser
künftigen vorurteilsfreiern Weltbürger beurteilen wollte. Das Duell wird
ihnen ebensowenig beweiskräftig und darum ebenso anstößig erscheinen wie
uns die Ordalien, aber wenn sie billig sein wollen, werden sie in Betracht
Ziehn müssen, was es leider für uns heutzutage noch ist: ein Notbehelf. Wenn
man sich in Rom wie durch ein Wunder mit einemmal von dem Vorurteile
hätte frei machen können, daß weiblicher Kirchengesang mit der Weihe des
Gottesdienstes unvereinbar sei, würden die Diskantvirtuosen der Sixtina sofort
entbehrlich geworden sein. Schade nur, daß kein Geschlecht und keine In¬
stitution einen Luftsprung aus dem Gebiete des Vorurteils in das der Wahr¬
heit zu tun vermag, und daß man deshalb, wenn man das Richten durchaus
nicht lassen kann, nicht den seinem Vorurteil gemäß handelnden um dieses
willen, sondern die göttliche Vorsehung wegen der uns versagten Springfähig¬
keit verantwortlich machen müßte.

Was in dem Buche über die Theaterleitung des Dresdner General¬
intendanten von Lüttichau und besonders über dessen Verhalten gegenüber Karl
Maria von Weber gesagt ist, lasse ich fürs erste unerörtert: ich denke, es wird
sich in kurzem Gelegenheit finden, alles in dieses persönliche Kapitel Ein¬
schlagende an der Hand von kaum zu beanstandendem Beweismaterial zu be¬
sprechen.

Eine Auseinandersetzung als Rettungsbeitrag für die in dem Buche ziem¬
lich hart beurteilte italienische Musik und für die womöglich noch schlechter
wegkommende "Gesellschaft" des achtzehnten Jahrhunderts ist hier nicht am


vom deutschen Theater

Höfe, der mit Theaterleitungen betrauten Kavaliere und der italienischen Oper
zusammengebrachte Material trotz seiner Lückenhaftigkeit nicht zu einseitigen
Urteilen hat verführen können. Seine Erbitterung gegen den durch die Gunst
des kursächsischen Hofes zu Ansehen und Vermögen gelangten Kastraten Sorlisi
würde sogar etwas Komisches haben, wenn man sich nicht sagen müßte, daß
die Sache auch ihre ernste Seite habe, und daß ein den ungebildeten Volks¬
klassen besonders ans Herz gewachsnes Vorurteil nicht recht in den idealem
Anschauungskreis eines Kunstästheten passen will. Es ist offenbar zweierlei,
ob man eine uns heutzutage unbegreiflich erscheinende musikalische Modetor¬
heit mit Recht als barbarisch verurteilt, oder ob man, wie Martersteig, weiter
geht und mit sittlicher Entrüstung nicht bloß gegen die Teilnehmer daran,
sondern auch gegen deren Opfer zu Felde zieht. Daß man sich auch am Hofe
des „Hauptes der Christenheit" mit orientalischer Verachtung von Menschen¬
würde und Menschenrechten für das Fehlen der Frauenstimmen, zunächst im
Kirchenchore, schadlos zu halten und der Kurzlebigkeit mit Kunst und Mühe
geschulter Knabenstimmen in tölpischer Weise abzuhelfen suchte, ist leider Tat¬
sache; auch den hemmenden Einfluß, den die Vorliebe der Großen für italienische
Oper und Gesangskunst auf die Entwicklung des deutschen Theaters gehabt
hat, kann man nicht in Abrede stellen. Nur den Maßstab unsrer inzwischen
fortgeschrittnen Erkenntnis und Kultur soll man nicht ohne weiteres an jene
längst vergangnen Zustände anlegen, weil man damit dieselbe Unbilligkeit
begeht, deren sich in zwei- bis dreihundert Jahren ein Forscher schuldig macheu
würde, der das heutige Duellwesen nach den geläuterten Begriffen dieser
künftigen vorurteilsfreiern Weltbürger beurteilen wollte. Das Duell wird
ihnen ebensowenig beweiskräftig und darum ebenso anstößig erscheinen wie
uns die Ordalien, aber wenn sie billig sein wollen, werden sie in Betracht
Ziehn müssen, was es leider für uns heutzutage noch ist: ein Notbehelf. Wenn
man sich in Rom wie durch ein Wunder mit einemmal von dem Vorurteile
hätte frei machen können, daß weiblicher Kirchengesang mit der Weihe des
Gottesdienstes unvereinbar sei, würden die Diskantvirtuosen der Sixtina sofort
entbehrlich geworden sein. Schade nur, daß kein Geschlecht und keine In¬
stitution einen Luftsprung aus dem Gebiete des Vorurteils in das der Wahr¬
heit zu tun vermag, und daß man deshalb, wenn man das Richten durchaus
nicht lassen kann, nicht den seinem Vorurteil gemäß handelnden um dieses
willen, sondern die göttliche Vorsehung wegen der uns versagten Springfähig¬
keit verantwortlich machen müßte.

Was in dem Buche über die Theaterleitung des Dresdner General¬
intendanten von Lüttichau und besonders über dessen Verhalten gegenüber Karl
Maria von Weber gesagt ist, lasse ich fürs erste unerörtert: ich denke, es wird
sich in kurzem Gelegenheit finden, alles in dieses persönliche Kapitel Ein¬
schlagende an der Hand von kaum zu beanstandendem Beweismaterial zu be¬
sprechen.

Eine Auseinandersetzung als Rettungsbeitrag für die in dem Buche ziem¬
lich hart beurteilte italienische Musik und für die womöglich noch schlechter
wegkommende „Gesellschaft" des achtzehnten Jahrhunderts ist hier nicht am


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[0259] vom deutschen Theater Höfe, der mit Theaterleitungen betrauten Kavaliere und der italienischen Oper zusammengebrachte Material trotz seiner Lückenhaftigkeit nicht zu einseitigen Urteilen hat verführen können. Seine Erbitterung gegen den durch die Gunst des kursächsischen Hofes zu Ansehen und Vermögen gelangten Kastraten Sorlisi würde sogar etwas Komisches haben, wenn man sich nicht sagen müßte, daß die Sache auch ihre ernste Seite habe, und daß ein den ungebildeten Volks¬ klassen besonders ans Herz gewachsnes Vorurteil nicht recht in den idealem Anschauungskreis eines Kunstästheten passen will. Es ist offenbar zweierlei, ob man eine uns heutzutage unbegreiflich erscheinende musikalische Modetor¬ heit mit Recht als barbarisch verurteilt, oder ob man, wie Martersteig, weiter geht und mit sittlicher Entrüstung nicht bloß gegen die Teilnehmer daran, sondern auch gegen deren Opfer zu Felde zieht. Daß man sich auch am Hofe des „Hauptes der Christenheit" mit orientalischer Verachtung von Menschen¬ würde und Menschenrechten für das Fehlen der Frauenstimmen, zunächst im Kirchenchore, schadlos zu halten und der Kurzlebigkeit mit Kunst und Mühe geschulter Knabenstimmen in tölpischer Weise abzuhelfen suchte, ist leider Tat¬ sache; auch den hemmenden Einfluß, den die Vorliebe der Großen für italienische Oper und Gesangskunst auf die Entwicklung des deutschen Theaters gehabt hat, kann man nicht in Abrede stellen. Nur den Maßstab unsrer inzwischen fortgeschrittnen Erkenntnis und Kultur soll man nicht ohne weiteres an jene längst vergangnen Zustände anlegen, weil man damit dieselbe Unbilligkeit begeht, deren sich in zwei- bis dreihundert Jahren ein Forscher schuldig macheu würde, der das heutige Duellwesen nach den geläuterten Begriffen dieser künftigen vorurteilsfreiern Weltbürger beurteilen wollte. Das Duell wird ihnen ebensowenig beweiskräftig und darum ebenso anstößig erscheinen wie uns die Ordalien, aber wenn sie billig sein wollen, werden sie in Betracht Ziehn müssen, was es leider für uns heutzutage noch ist: ein Notbehelf. Wenn man sich in Rom wie durch ein Wunder mit einemmal von dem Vorurteile hätte frei machen können, daß weiblicher Kirchengesang mit der Weihe des Gottesdienstes unvereinbar sei, würden die Diskantvirtuosen der Sixtina sofort entbehrlich geworden sein. Schade nur, daß kein Geschlecht und keine In¬ stitution einen Luftsprung aus dem Gebiete des Vorurteils in das der Wahr¬ heit zu tun vermag, und daß man deshalb, wenn man das Richten durchaus nicht lassen kann, nicht den seinem Vorurteil gemäß handelnden um dieses willen, sondern die göttliche Vorsehung wegen der uns versagten Springfähig¬ keit verantwortlich machen müßte. Was in dem Buche über die Theaterleitung des Dresdner General¬ intendanten von Lüttichau und besonders über dessen Verhalten gegenüber Karl Maria von Weber gesagt ist, lasse ich fürs erste unerörtert: ich denke, es wird sich in kurzem Gelegenheit finden, alles in dieses persönliche Kapitel Ein¬ schlagende an der Hand von kaum zu beanstandendem Beweismaterial zu be¬ sprechen. Eine Auseinandersetzung als Rettungsbeitrag für die in dem Buche ziem¬ lich hart beurteilte italienische Musik und für die womöglich noch schlechter wegkommende „Gesellschaft" des achtzehnten Jahrhunderts ist hier nicht am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/259>, abgerufen am 27.09.2024.