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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

verlassen ihre Geister -- denn auch an ein Fortleben nach dem Tode glaubte
man -- das Haus, nur die Seele der Mutter kann sich von der Stätte ihres
segensreichen Wirkens nicht trennen, sie schwebt als Schnhgeist über der Schwelle
des Hauses. Wenn also jemand noch so allein und vereinsamt, verlassen von allen
ihm im Tode vorangegangnen Lieben, daheim weilt, ganz allein ist er nicht, die
Seele der Mutter umschwebt ihn unsichtbar, er ist mutterseelenallein, ein so schöner
Ausdruck, den wir aus jenen Tagen bis heute bewahrt haben.

Daß wie den Eltern, ebenso den Geschwistern gegenüber die Liebe und be¬
sonders die Treue, diese herrlichste aller Gcrmanentugenden, als heilig galt, klingt
noch am Schlüsse des Nibelungenliedes nach; denn wenn Krimhild schon durch die
Ermordung Hagens, eines Recken, der so mutig und treu für seine Herren gekämpft
hat und nun wehrlos dnrch die Hand eines Weibes fällt, eine große Schuld auf
sich geladen hat, so vergrößert sich diese noch dadurch, daß sie ihrem Bruder hat
das Haupt abschlagen lassen. Das ist es hauptsächlich, was dem alten Hildebrand
das Schwert in die Hand drängt und ihn zu Krimhilds Ermordung treibt.

Wehe darum der Menschheit, wenn einst Pietätlosigkeit gegen die Familie
und die Sippe eingebrochen und allgemein geworden ist; dann kann und darf sie
nicht mehr bestehn, sie ist dem Untergänge geweiht, und wenn von diesem Frevel
auch die Götterwelt Untergriffen ist, dann droht anch ihr der Untergang, die
Götterdämmerung bricht an. Die altgermanische Mythologie drückt diesen hohen
Gedanken in der ihr eigentümlichen Großartigkeit aus: Von dem Blute der infolge
der menschlichen Frevel gegen Familie und Sippe Erschlagnen haben sich Lokis
Kinder, der Fenrirwolf und die Midgardschlange, so gemästet, daß ihre Fesseln
zerspringen, und die Unholde selbst ihrer Bande ledig werden ("der Teufel ist
los"). Nun beginnt der Fimbulwinter, der Kampf der Dämonen und Ungeheuer
gegen die Götter; jene verschlingen die Sonne und den Mond, und zuletzt bricht
der alles zerstörende Weltenbrand aus. Aber auch hier sind mit den schrecklichen
Phantasien auch schöne und erhabne Gedanken verknüpft, so vom Schiff Naglfar
und von Widars Lederschuh. Jenes nämlich führt alle die unheimlichen Gestalten
herbei, die den Kampf gegen die Götter führen und ihren Untergang beabsichtigen;
daß nun seine Größe möglichst beeinträchtigt und seine Ankunft möglichst verzögert
werde, dazu können und sollen die Menschen, soviel an ihnen ist, beitragen, sie
werden also für würdig erklärt, Mitkämpfer und Genossen der Götter zu sein, um
das Nahen des unheilvollen Schiffes hinzuhalten. Da nun das Material aus den
nicht abgeschnittnen Nägeln der Verstorbnen besteht, so sollen die Menschen den
Ihrigen, die der Tod dahingerafft hat, vor dem Begraben oder Verbrennen die
Nägel beschneiden, d. h. sie sollen den Toten die ihnen gebührende Pietät erweisen.
Wird diese vernachlässigt, so tragen sie zum schneller" Fertigwerden des Naglfar
bei und beschleunigen selbst ihren und der Welt Untergang. So findet sich der
schöne Gedanke des vierten Gebotes, daß die Dauer des eignen Lebens von der
Achtung gegen die Eltern abhängt (auf daß dirs wohl gehe und dn lange lebest
auf Erden), auch in der altgermanischen Mythologie darin ausgedrückt, daß das
Bestehn der Welt als abhängig gedacht wird von der Pietät gegen die Toten.

Voll Wut und Gier sperrt der Fenrirwolf seinen Nachen weit anf, um
Sonne, Mond und die Götterwohnung Asgard zu verschlingen; ihm tritt im
Kampfe Widar, der Gott der Erneuerung, entgegen und steckt ihm seinen Leder¬
schuh in den Nachen. Da dieser Schuh aus den von den Menschen weggewvrfneu,
von den Armen zu ihrem Gebrauch ausgehöhlten Lederstücken gefertigt ist, so sollen
die Menschen die für sie selbst überflüssig gewordnen Lederstreifen nicht geizig auf¬
bewahren, sondern sie den Armen überlassen, bis sie dann, anch von diesen nicht
mehr bemüht, zur Bildung dieses Schuhes verwandt werden, d. h. dnrch edles
Wohltun halten die Menschen den Untergang der Welt hin; wenn aber auch diese
Tugend aus ihren Gedanken und Taten geschwunden ist, dann naht unaufhaltsam
das Unheil heran, der Weltenuntergang beginnt.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

verlassen ihre Geister — denn auch an ein Fortleben nach dem Tode glaubte
man — das Haus, nur die Seele der Mutter kann sich von der Stätte ihres
segensreichen Wirkens nicht trennen, sie schwebt als Schnhgeist über der Schwelle
des Hauses. Wenn also jemand noch so allein und vereinsamt, verlassen von allen
ihm im Tode vorangegangnen Lieben, daheim weilt, ganz allein ist er nicht, die
Seele der Mutter umschwebt ihn unsichtbar, er ist mutterseelenallein, ein so schöner
Ausdruck, den wir aus jenen Tagen bis heute bewahrt haben.

Daß wie den Eltern, ebenso den Geschwistern gegenüber die Liebe und be¬
sonders die Treue, diese herrlichste aller Gcrmanentugenden, als heilig galt, klingt
noch am Schlüsse des Nibelungenliedes nach; denn wenn Krimhild schon durch die
Ermordung Hagens, eines Recken, der so mutig und treu für seine Herren gekämpft
hat und nun wehrlos dnrch die Hand eines Weibes fällt, eine große Schuld auf
sich geladen hat, so vergrößert sich diese noch dadurch, daß sie ihrem Bruder hat
das Haupt abschlagen lassen. Das ist es hauptsächlich, was dem alten Hildebrand
das Schwert in die Hand drängt und ihn zu Krimhilds Ermordung treibt.

Wehe darum der Menschheit, wenn einst Pietätlosigkeit gegen die Familie
und die Sippe eingebrochen und allgemein geworden ist; dann kann und darf sie
nicht mehr bestehn, sie ist dem Untergänge geweiht, und wenn von diesem Frevel
auch die Götterwelt Untergriffen ist, dann droht anch ihr der Untergang, die
Götterdämmerung bricht an. Die altgermanische Mythologie drückt diesen hohen
Gedanken in der ihr eigentümlichen Großartigkeit aus: Von dem Blute der infolge
der menschlichen Frevel gegen Familie und Sippe Erschlagnen haben sich Lokis
Kinder, der Fenrirwolf und die Midgardschlange, so gemästet, daß ihre Fesseln
zerspringen, und die Unholde selbst ihrer Bande ledig werden („der Teufel ist
los"). Nun beginnt der Fimbulwinter, der Kampf der Dämonen und Ungeheuer
gegen die Götter; jene verschlingen die Sonne und den Mond, und zuletzt bricht
der alles zerstörende Weltenbrand aus. Aber auch hier sind mit den schrecklichen
Phantasien auch schöne und erhabne Gedanken verknüpft, so vom Schiff Naglfar
und von Widars Lederschuh. Jenes nämlich führt alle die unheimlichen Gestalten
herbei, die den Kampf gegen die Götter führen und ihren Untergang beabsichtigen;
daß nun seine Größe möglichst beeinträchtigt und seine Ankunft möglichst verzögert
werde, dazu können und sollen die Menschen, soviel an ihnen ist, beitragen, sie
werden also für würdig erklärt, Mitkämpfer und Genossen der Götter zu sein, um
das Nahen des unheilvollen Schiffes hinzuhalten. Da nun das Material aus den
nicht abgeschnittnen Nägeln der Verstorbnen besteht, so sollen die Menschen den
Ihrigen, die der Tod dahingerafft hat, vor dem Begraben oder Verbrennen die
Nägel beschneiden, d. h. sie sollen den Toten die ihnen gebührende Pietät erweisen.
Wird diese vernachlässigt, so tragen sie zum schneller» Fertigwerden des Naglfar
bei und beschleunigen selbst ihren und der Welt Untergang. So findet sich der
schöne Gedanke des vierten Gebotes, daß die Dauer des eignen Lebens von der
Achtung gegen die Eltern abhängt (auf daß dirs wohl gehe und dn lange lebest
auf Erden), auch in der altgermanischen Mythologie darin ausgedrückt, daß das
Bestehn der Welt als abhängig gedacht wird von der Pietät gegen die Toten.

Voll Wut und Gier sperrt der Fenrirwolf seinen Nachen weit anf, um
Sonne, Mond und die Götterwohnung Asgard zu verschlingen; ihm tritt im
Kampfe Widar, der Gott der Erneuerung, entgegen und steckt ihm seinen Leder¬
schuh in den Nachen. Da dieser Schuh aus den von den Menschen weggewvrfneu,
von den Armen zu ihrem Gebrauch ausgehöhlten Lederstücken gefertigt ist, so sollen
die Menschen die für sie selbst überflüssig gewordnen Lederstreifen nicht geizig auf¬
bewahren, sondern sie den Armen überlassen, bis sie dann, anch von diesen nicht
mehr bemüht, zur Bildung dieses Schuhes verwandt werden, d. h. dnrch edles
Wohltun halten die Menschen den Untergang der Welt hin; wenn aber auch diese
Tugend aus ihren Gedanken und Taten geschwunden ist, dann naht unaufhaltsam
das Unheil heran, der Weltenuntergang beginnt.


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[0066] Maßgebliches und Unmaßgebliches verlassen ihre Geister — denn auch an ein Fortleben nach dem Tode glaubte man — das Haus, nur die Seele der Mutter kann sich von der Stätte ihres segensreichen Wirkens nicht trennen, sie schwebt als Schnhgeist über der Schwelle des Hauses. Wenn also jemand noch so allein und vereinsamt, verlassen von allen ihm im Tode vorangegangnen Lieben, daheim weilt, ganz allein ist er nicht, die Seele der Mutter umschwebt ihn unsichtbar, er ist mutterseelenallein, ein so schöner Ausdruck, den wir aus jenen Tagen bis heute bewahrt haben. Daß wie den Eltern, ebenso den Geschwistern gegenüber die Liebe und be¬ sonders die Treue, diese herrlichste aller Gcrmanentugenden, als heilig galt, klingt noch am Schlüsse des Nibelungenliedes nach; denn wenn Krimhild schon durch die Ermordung Hagens, eines Recken, der so mutig und treu für seine Herren gekämpft hat und nun wehrlos dnrch die Hand eines Weibes fällt, eine große Schuld auf sich geladen hat, so vergrößert sich diese noch dadurch, daß sie ihrem Bruder hat das Haupt abschlagen lassen. Das ist es hauptsächlich, was dem alten Hildebrand das Schwert in die Hand drängt und ihn zu Krimhilds Ermordung treibt. Wehe darum der Menschheit, wenn einst Pietätlosigkeit gegen die Familie und die Sippe eingebrochen und allgemein geworden ist; dann kann und darf sie nicht mehr bestehn, sie ist dem Untergänge geweiht, und wenn von diesem Frevel auch die Götterwelt Untergriffen ist, dann droht anch ihr der Untergang, die Götterdämmerung bricht an. Die altgermanische Mythologie drückt diesen hohen Gedanken in der ihr eigentümlichen Großartigkeit aus: Von dem Blute der infolge der menschlichen Frevel gegen Familie und Sippe Erschlagnen haben sich Lokis Kinder, der Fenrirwolf und die Midgardschlange, so gemästet, daß ihre Fesseln zerspringen, und die Unholde selbst ihrer Bande ledig werden („der Teufel ist los"). Nun beginnt der Fimbulwinter, der Kampf der Dämonen und Ungeheuer gegen die Götter; jene verschlingen die Sonne und den Mond, und zuletzt bricht der alles zerstörende Weltenbrand aus. Aber auch hier sind mit den schrecklichen Phantasien auch schöne und erhabne Gedanken verknüpft, so vom Schiff Naglfar und von Widars Lederschuh. Jenes nämlich führt alle die unheimlichen Gestalten herbei, die den Kampf gegen die Götter führen und ihren Untergang beabsichtigen; daß nun seine Größe möglichst beeinträchtigt und seine Ankunft möglichst verzögert werde, dazu können und sollen die Menschen, soviel an ihnen ist, beitragen, sie werden also für würdig erklärt, Mitkämpfer und Genossen der Götter zu sein, um das Nahen des unheilvollen Schiffes hinzuhalten. Da nun das Material aus den nicht abgeschnittnen Nägeln der Verstorbnen besteht, so sollen die Menschen den Ihrigen, die der Tod dahingerafft hat, vor dem Begraben oder Verbrennen die Nägel beschneiden, d. h. sie sollen den Toten die ihnen gebührende Pietät erweisen. Wird diese vernachlässigt, so tragen sie zum schneller» Fertigwerden des Naglfar bei und beschleunigen selbst ihren und der Welt Untergang. So findet sich der schöne Gedanke des vierten Gebotes, daß die Dauer des eignen Lebens von der Achtung gegen die Eltern abhängt (auf daß dirs wohl gehe und dn lange lebest auf Erden), auch in der altgermanischen Mythologie darin ausgedrückt, daß das Bestehn der Welt als abhängig gedacht wird von der Pietät gegen die Toten. Voll Wut und Gier sperrt der Fenrirwolf seinen Nachen weit anf, um Sonne, Mond und die Götterwohnung Asgard zu verschlingen; ihm tritt im Kampfe Widar, der Gott der Erneuerung, entgegen und steckt ihm seinen Leder¬ schuh in den Nachen. Da dieser Schuh aus den von den Menschen weggewvrfneu, von den Armen zu ihrem Gebrauch ausgehöhlten Lederstücken gefertigt ist, so sollen die Menschen die für sie selbst überflüssig gewordnen Lederstreifen nicht geizig auf¬ bewahren, sondern sie den Armen überlassen, bis sie dann, anch von diesen nicht mehr bemüht, zur Bildung dieses Schuhes verwandt werden, d. h. dnrch edles Wohltun halten die Menschen den Untergang der Welt hin; wenn aber auch diese Tugend aus ihren Gedanken und Taten geschwunden ist, dann naht unaufhaltsam das Unheil heran, der Weltenuntergang beginnt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/66>, abgerufen am 05.02.2025.