Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Unter Kunden, Aomödianten und wilden Tieren Meister ging darauf ein, und so hatten wir in diesem Jahre mit der Ernte ver¬ In diesem Jahre war die Kartoffelernte besonders groß, sodaß insgesamt Meine Lehrzeit näherte sich dem Ende, und der Tag kam heran, wo sich Ich muß noch nachtragen, daß ich in meinem letzten Lehrjahr auf Veranlassung Unter Kunden, Aomödianten und wilden Tieren Meister ging darauf ein, und so hatten wir in diesem Jahre mit der Ernte ver¬ In diesem Jahre war die Kartoffelernte besonders groß, sodaß insgesamt Meine Lehrzeit näherte sich dem Ende, und der Tag kam heran, wo sich Ich muß noch nachtragen, daß ich in meinem letzten Lehrjahr auf Veranlassung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0498" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296877"/> <fw type="header" place="top"> Unter Kunden, Aomödianten und wilden Tieren</fw><lb/> <p xml:id="ID_2249" prev="#ID_2248"> Meister ging darauf ein, und so hatten wir in diesem Jahre mit der Ernte ver¬<lb/> mehrte Arbeit. Als wir gerade mit dem Grummethauen beschäftigt waren — es<lb/> mochte Nachmittags gegen vier sein —, hörten wir einen Knall wie den Donner<lb/> einer Kanone und sahen, wie in der Ferne eine Rauchwolke aufstieg. In der Gar¬<lb/> dinenfabrik von Ernst Wenzel, die neben der Spinnerei lag, worin mein Vater als<lb/> Feuermann tätig war, war das Dampffaß zum Bleichen der Gardinen explodiert,<lb/> da der Aufseher in der Vesperpause vergessen hatte, den Dampf abzustellen. Der<lb/> Deckel des Fasses flog samt dem Inhalt an Gardinen durch das Dach in die Luft,<lb/> sodaß wir später die Gardinen an dem Schornstein hängen sahen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2250"> In diesem Jahre war die Kartoffelernte besonders groß, sodaß insgesamt<lb/> vierzig Personen dabei beschäftigt waren; diese zu beköstigen war keine leichte Auf¬<lb/> gabe und forderte umfassende Veranstaltungen. Wie üblich gab es am Donnerstag<lb/> rohe Kartoffelklöße, und so mußten denn schon am Mittwoch Abend drei Frauen<lb/> mit dem Schälen und Reiben der Kartoffeln beginnen, aus denen dann am andern<lb/> Vormittag hundertundsechzig stattliche Klöße geformt wurden, wozu es Sauerbraten<lb/> gab. Wir waren im Zweifel, wie wir dieses umfangreiche Mittagmahl zubereiten<lb/> und auf das Feld schaffen sollten, und entschlossen uns dazu, die Klöße im Wasch¬<lb/> kessel zu kochen und auf einem Wagen, den ich mit einer Kuh bespannte, samt den<lb/> schon im voraus zerschnittnen Fleischratiouen auf das Feld hinauszufahren.</p><lb/> <p xml:id="ID_2251"> Meine Lehrzeit näherte sich dem Ende, und der Tag kam heran, wo sich<lb/> die Innung wieder beim Obermeister versammelte, und ich in feierlicher Weise los¬<lb/> gesprochen werden sollte. Ein paar Tage vorher kam der alte Meister Müller<lb/> — derselbe, bei dem ich als dreijähriges Kind meine Weißbroteinkäufe zu machen<lb/> pflegte — zu meinem Meister. Dieser fragte ihn, ob er auch zur Versammlung<lb/> der Innung erscheinen werde. Der alte Müller erwiderte in seiner langsamen<lb/> Art: „Ja, wenn ich dazu gefodert werde." Dieser Müller war ein Original, er<lb/> hatte viermal geheiratet und im ganzen sechsunddreißig Kinder, von denen damals<lb/> noch sechzehn oder siebzehn am Leben sein mochten. Bet dieser kopfreichen Familie<lb/> war er auf keinen grünen Zweig gekommen, hatte im hohen Alter die Bäckerei<lb/> aufgegeben und beschäftigte sich nun damit, den ganzen Tag über Strümpfe zu<lb/> stricken, womit er seinen Unterhalt verdiente. An dem festgesetzten Tage begab ich<lb/> mich mit demselben Lehrling, mit dem ich seinerzeit aufgedungen worden war, in<lb/> die Backstube des neuen Obermeisters, wo die Meister schon versammelt waren.<lb/> Der Obermeister hielt eine Ansprache an uns und fragte die Meister, ob sie gegen<lb/> unsre Lossprechung etwas einzuwenden hätten; als diese hierauf nichts erwiderten,<lb/> sprach er uns los, worauf wir jedem Meister die Hand gaben und seinen Glück¬<lb/> wunsch empfingen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2252" next="#ID_2253"> Ich muß noch nachtragen, daß ich in meinem letzten Lehrjahr auf Veranlassung<lb/> der Meisterin zweimal in der Woche Tanzstunde und ebenfalls zweimal in der<lb/> Woche Turnstunde nehmen mußte, da sie körperliche Gewandtheit als ein un¬<lb/> umgängliches Erfordernis für einen jungen Mann betrachtete. Die Turnstunde<lb/> dauerte von acht bis zehn Uhr Abends, wurde aber durch die damit verbundne<lb/> Kneiperei noch etwas ausgedehnt, sodaß ich, da ich anfangs keinen Hausschlüssel<lb/> hatte, beim Heimweg über die Planke klettern mußte. Der Weg bis in den Hof<lb/> war verhältnismäßig leicht, schwieriger aber war es, vom Hof in das erste Stock¬<lb/> werk zu gelangen. Ich stellte zu diesem Zweck eine schwere Leiter an die Haus¬<lb/> wart und schlüpfte durch das Klosettfenster hinein. Das ging ganz gut, wenn der<lb/> Mond schien und die Hauswart beleuchtete, in dunkeln Nächten aber passierte es<lb/> mir wiederholt, daß ich ans der Suche nach dem Fenster mit der Leiter die Scheiben<lb/> einstieß und dann genötigt war, das beschädigte Fenster in aller Frühe zum Glaser<lb/> zu tragen, der den Schaden schleunigst reparieren mußte. Eines Tags beschlossen<lb/> die Meisterin und das Dienstmädchen, die hinter meine Schliche gekommen waren,<lb/> mir einen Streich zu spielen und mir den Rückweg in die Kammer abzuschneiden.<lb/> Ich hörte zufällig, wie sie darüber sprachen, daß sie am nächsten Abend das Klosett</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0498]
Unter Kunden, Aomödianten und wilden Tieren
Meister ging darauf ein, und so hatten wir in diesem Jahre mit der Ernte ver¬
mehrte Arbeit. Als wir gerade mit dem Grummethauen beschäftigt waren — es
mochte Nachmittags gegen vier sein —, hörten wir einen Knall wie den Donner
einer Kanone und sahen, wie in der Ferne eine Rauchwolke aufstieg. In der Gar¬
dinenfabrik von Ernst Wenzel, die neben der Spinnerei lag, worin mein Vater als
Feuermann tätig war, war das Dampffaß zum Bleichen der Gardinen explodiert,
da der Aufseher in der Vesperpause vergessen hatte, den Dampf abzustellen. Der
Deckel des Fasses flog samt dem Inhalt an Gardinen durch das Dach in die Luft,
sodaß wir später die Gardinen an dem Schornstein hängen sahen.
In diesem Jahre war die Kartoffelernte besonders groß, sodaß insgesamt
vierzig Personen dabei beschäftigt waren; diese zu beköstigen war keine leichte Auf¬
gabe und forderte umfassende Veranstaltungen. Wie üblich gab es am Donnerstag
rohe Kartoffelklöße, und so mußten denn schon am Mittwoch Abend drei Frauen
mit dem Schälen und Reiben der Kartoffeln beginnen, aus denen dann am andern
Vormittag hundertundsechzig stattliche Klöße geformt wurden, wozu es Sauerbraten
gab. Wir waren im Zweifel, wie wir dieses umfangreiche Mittagmahl zubereiten
und auf das Feld schaffen sollten, und entschlossen uns dazu, die Klöße im Wasch¬
kessel zu kochen und auf einem Wagen, den ich mit einer Kuh bespannte, samt den
schon im voraus zerschnittnen Fleischratiouen auf das Feld hinauszufahren.
Meine Lehrzeit näherte sich dem Ende, und der Tag kam heran, wo sich
die Innung wieder beim Obermeister versammelte, und ich in feierlicher Weise los¬
gesprochen werden sollte. Ein paar Tage vorher kam der alte Meister Müller
— derselbe, bei dem ich als dreijähriges Kind meine Weißbroteinkäufe zu machen
pflegte — zu meinem Meister. Dieser fragte ihn, ob er auch zur Versammlung
der Innung erscheinen werde. Der alte Müller erwiderte in seiner langsamen
Art: „Ja, wenn ich dazu gefodert werde." Dieser Müller war ein Original, er
hatte viermal geheiratet und im ganzen sechsunddreißig Kinder, von denen damals
noch sechzehn oder siebzehn am Leben sein mochten. Bet dieser kopfreichen Familie
war er auf keinen grünen Zweig gekommen, hatte im hohen Alter die Bäckerei
aufgegeben und beschäftigte sich nun damit, den ganzen Tag über Strümpfe zu
stricken, womit er seinen Unterhalt verdiente. An dem festgesetzten Tage begab ich
mich mit demselben Lehrling, mit dem ich seinerzeit aufgedungen worden war, in
die Backstube des neuen Obermeisters, wo die Meister schon versammelt waren.
Der Obermeister hielt eine Ansprache an uns und fragte die Meister, ob sie gegen
unsre Lossprechung etwas einzuwenden hätten; als diese hierauf nichts erwiderten,
sprach er uns los, worauf wir jedem Meister die Hand gaben und seinen Glück¬
wunsch empfingen.
Ich muß noch nachtragen, daß ich in meinem letzten Lehrjahr auf Veranlassung
der Meisterin zweimal in der Woche Tanzstunde und ebenfalls zweimal in der
Woche Turnstunde nehmen mußte, da sie körperliche Gewandtheit als ein un¬
umgängliches Erfordernis für einen jungen Mann betrachtete. Die Turnstunde
dauerte von acht bis zehn Uhr Abends, wurde aber durch die damit verbundne
Kneiperei noch etwas ausgedehnt, sodaß ich, da ich anfangs keinen Hausschlüssel
hatte, beim Heimweg über die Planke klettern mußte. Der Weg bis in den Hof
war verhältnismäßig leicht, schwieriger aber war es, vom Hof in das erste Stock¬
werk zu gelangen. Ich stellte zu diesem Zweck eine schwere Leiter an die Haus¬
wart und schlüpfte durch das Klosettfenster hinein. Das ging ganz gut, wenn der
Mond schien und die Hauswart beleuchtete, in dunkeln Nächten aber passierte es
mir wiederholt, daß ich ans der Suche nach dem Fenster mit der Leiter die Scheiben
einstieß und dann genötigt war, das beschädigte Fenster in aller Frühe zum Glaser
zu tragen, der den Schaden schleunigst reparieren mußte. Eines Tags beschlossen
die Meisterin und das Dienstmädchen, die hinter meine Schliche gekommen waren,
mir einen Streich zu spielen und mir den Rückweg in die Kammer abzuschneiden.
Ich hörte zufällig, wie sie darüber sprachen, daß sie am nächsten Abend das Klosett
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