Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Volkswohlfahrtspflege für die Gesunden kann an bestehende Vereine anknüpfen, kann althergebrachte Lokalfeste zweck¬ Da aber hapert es. Man redet soviel von der "Gleichberechtigung" der Es gibt Leute der höhern und der höchsten Gesellschaftskreise, die sich an Volkswohlfahrtspflege für die Gesunden kann an bestehende Vereine anknüpfen, kann althergebrachte Lokalfeste zweck¬ Da aber hapert es. Man redet soviel von der „Gleichberechtigung" der Es gibt Leute der höhern und der höchsten Gesellschaftskreise, die sich an <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0475" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296854"/> <fw type="header" place="top"> Volkswohlfahrtspflege für die Gesunden</fw><lb/> <p xml:id="ID_2166" prev="#ID_2165"> kann an bestehende Vereine anknüpfen, kann althergebrachte Lokalfeste zweck¬<lb/> mäßig benutzen, man kann mit und ohne neue Vereinsbildung dem Publikum<lb/> bessere Vergnügungen, insbesondre geistige Genüsse, zugänglich machen. Die<lb/> Hauptsache ist nur — und das kann nicht nachdrücklich genug betont werden —,<lb/> daß sich die sozial Höherstehenden nicht zu gut dazu dünken, diese Arbeit auf<lb/> sich zu nehmen, und sich mit den andern in ungezwungner Gemeinsamkeit des<lb/> Genusses zu freuen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2167"> Da aber hapert es. Man redet soviel von der „Gleichberechtigung" der<lb/> Arbeiter. Aber wie viele von denen, die in Büchern und Zeitungen, auf der<lb/> parlamentarischen Tribüne und in Versammlungen aller Art so begeistert und<lb/> überzeugend über dieses Thema zu deklamieren wissen, sind bereit, sich — und<lb/> etwa noch ihre Familien dazu! — mit dem „kleinen Manne" zusammenzusetzen<lb/> wie Mensch zu Mensch, durch ein gemeinsames Gefühl des Wohlbefindens mit<lb/> ihm verbunden zu sein? Es sei denn, daß gerade die Neichstagswahlen nahe<lb/> bevorstünden! Nur eine vollständige Verkennung des wahren Empfindens der<lb/> untern Schichten kann wähnen, ihren Anspruch auf Menschenwürde mit dem<lb/> ewigen Ruf nach Vermehrung der Rechte der Arbeiter gegenüber dem Arbeit¬<lb/> geber Genüge zu tun. Der Hetzmethode einer gewissen Richtung wird damit<lb/> allerdings Vorschub geleistet; aber die Mehrheit der Arbeiter ist noch immer<lb/> verständig genug, über die Erfüllbarkeit der Versprechungen dieser Richtung<lb/> höchst mißtrauisch zu denken. Mit wirklicher Bitterkeit dagegen empfindet es<lb/> die breite Masse ohne Unterschied, in den rein menschlichen Beziehungen wie<lb/> eine untergeordnete Rasse behandelt zu werden. Da recht eigentlich ist der<lb/> Punkt, wo angesetzt werden muß, wenn man zu einem ersprießlichen Ausgleich<lb/> der sozialen Gegensätze gelangen will.</p><lb/> <p xml:id="ID_2168" next="#ID_2169"> Es gibt Leute der höhern und der höchsten Gesellschaftskreise, die sich an<lb/> ihrem Schreibtisch mit heißem Bemühen den Kopf zerbrechen über das „kon¬<lb/> stitutionelle System," das sie im Arbeitsverhältnis durchgeführt sehen möchten,<lb/> die aber, auch wenn sie es wollten, außerstande sind, mit dem Arbeiter gesellig<lb/> zu verkehren. Und andrerseits kann jeder, der sich im wirklichen Leben unbe¬<lb/> fangen umsieht, nicht selten den Fall beobachten, daß ein Arbeitgeber, der in<lb/> seinem Betriebe mit aller Strenge auf die Wahrung seines, wie man das heute<lb/> so gehässig nennt, „Herrenstandpunkts" bedacht ist, außerhalb des Betriebs mit<lb/> dem Arbeiter wie gleich zu gleich umgeht, an seinen Vergnügungen, ohne der<lb/> eignen Würde etwas zu vergeben, teilnimmt, in allen Lagen sich als seinen<lb/> Freund erweist. Auf welcher Seite ist da wohl das größere Verdienst um das<lb/> wahre Wohl des Arbeiters? Es handelt sich nicht um die Wiederherstellung<lb/> des „patriarchalischen Systems," wohl aber um die Pflicht der höher Gebildeten,<lb/> die untern Schichten zu sich herauszuziehn. Gewiß ist die Aufgabe nicht leicht.<lb/> Unter dem Einflüsse der planmäßig betriebnen Verschärfung des Klassengegen¬<lb/> satzes stehn diese Schichten den andern mit Mißtrauen, ja mit ausgesprochner<lb/> Feindseligkeit gegenüber; die Sozialdemokratie wacht mit Argusaugen, um eine<lb/> harmlos-menschliche Annäherung zwischen beiden Teilen zu verhüten. Das gibt<lb/> nur zu vielen den willkommnen Vorwand zu der Erklärung, es sei nutzlos,<lb/> eine gesellige Gemeinschaft mit Leuten zu suchen, die eine Gemeinschaft gar nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0475]
Volkswohlfahrtspflege für die Gesunden
kann an bestehende Vereine anknüpfen, kann althergebrachte Lokalfeste zweck¬
mäßig benutzen, man kann mit und ohne neue Vereinsbildung dem Publikum
bessere Vergnügungen, insbesondre geistige Genüsse, zugänglich machen. Die
Hauptsache ist nur — und das kann nicht nachdrücklich genug betont werden —,
daß sich die sozial Höherstehenden nicht zu gut dazu dünken, diese Arbeit auf
sich zu nehmen, und sich mit den andern in ungezwungner Gemeinsamkeit des
Genusses zu freuen.
Da aber hapert es. Man redet soviel von der „Gleichberechtigung" der
Arbeiter. Aber wie viele von denen, die in Büchern und Zeitungen, auf der
parlamentarischen Tribüne und in Versammlungen aller Art so begeistert und
überzeugend über dieses Thema zu deklamieren wissen, sind bereit, sich — und
etwa noch ihre Familien dazu! — mit dem „kleinen Manne" zusammenzusetzen
wie Mensch zu Mensch, durch ein gemeinsames Gefühl des Wohlbefindens mit
ihm verbunden zu sein? Es sei denn, daß gerade die Neichstagswahlen nahe
bevorstünden! Nur eine vollständige Verkennung des wahren Empfindens der
untern Schichten kann wähnen, ihren Anspruch auf Menschenwürde mit dem
ewigen Ruf nach Vermehrung der Rechte der Arbeiter gegenüber dem Arbeit¬
geber Genüge zu tun. Der Hetzmethode einer gewissen Richtung wird damit
allerdings Vorschub geleistet; aber die Mehrheit der Arbeiter ist noch immer
verständig genug, über die Erfüllbarkeit der Versprechungen dieser Richtung
höchst mißtrauisch zu denken. Mit wirklicher Bitterkeit dagegen empfindet es
die breite Masse ohne Unterschied, in den rein menschlichen Beziehungen wie
eine untergeordnete Rasse behandelt zu werden. Da recht eigentlich ist der
Punkt, wo angesetzt werden muß, wenn man zu einem ersprießlichen Ausgleich
der sozialen Gegensätze gelangen will.
Es gibt Leute der höhern und der höchsten Gesellschaftskreise, die sich an
ihrem Schreibtisch mit heißem Bemühen den Kopf zerbrechen über das „kon¬
stitutionelle System," das sie im Arbeitsverhältnis durchgeführt sehen möchten,
die aber, auch wenn sie es wollten, außerstande sind, mit dem Arbeiter gesellig
zu verkehren. Und andrerseits kann jeder, der sich im wirklichen Leben unbe¬
fangen umsieht, nicht selten den Fall beobachten, daß ein Arbeitgeber, der in
seinem Betriebe mit aller Strenge auf die Wahrung seines, wie man das heute
so gehässig nennt, „Herrenstandpunkts" bedacht ist, außerhalb des Betriebs mit
dem Arbeiter wie gleich zu gleich umgeht, an seinen Vergnügungen, ohne der
eignen Würde etwas zu vergeben, teilnimmt, in allen Lagen sich als seinen
Freund erweist. Auf welcher Seite ist da wohl das größere Verdienst um das
wahre Wohl des Arbeiters? Es handelt sich nicht um die Wiederherstellung
des „patriarchalischen Systems," wohl aber um die Pflicht der höher Gebildeten,
die untern Schichten zu sich herauszuziehn. Gewiß ist die Aufgabe nicht leicht.
Unter dem Einflüsse der planmäßig betriebnen Verschärfung des Klassengegen¬
satzes stehn diese Schichten den andern mit Mißtrauen, ja mit ausgesprochner
Feindseligkeit gegenüber; die Sozialdemokratie wacht mit Argusaugen, um eine
harmlos-menschliche Annäherung zwischen beiden Teilen zu verhüten. Das gibt
nur zu vielen den willkommnen Vorwand zu der Erklärung, es sei nutzlos,
eine gesellige Gemeinschaft mit Leuten zu suchen, die eine Gemeinschaft gar nicht
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