Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Lin praktischer Utopist Volkswirtschaft; und diese Aufgabe versucht man heute auf dem von Owen Als nach Beendigung der napoleonischen Kriege die englischen Gesetzgeber Die Maschine und der Weltverkehr hatten die mittelalterliche Wirtschafts¬ Lin praktischer Utopist Volkswirtschaft; und diese Aufgabe versucht man heute auf dem von Owen Als nach Beendigung der napoleonischen Kriege die englischen Gesetzgeber Die Maschine und der Weltverkehr hatten die mittelalterliche Wirtschafts¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0042" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297174"/> <fw type="header" place="top"> Lin praktischer Utopist</fw><lb/> <p xml:id="ID_69" prev="#ID_68"> Volkswirtschaft; und diese Aufgabe versucht man heute auf dem von Owen<lb/> eingeschlagnen Wege zu lösen. Owen hat die ersten Konsumvereine gegründet<lb/> und überhaupt die Genossenschaftsbewegung eingeleitet. Welche Macht die<lb/> Konsumgenossenschaften in England geworden sind, und in welchem Grade sie<lb/> zur Hebung des Arbeiterstandes beigetragen haben, ist allgemein bekannt. In<lb/> Deutschland werden die Konsumvereine vielfach angefeindet, es läßt sich doch<lb/> aber nicht leugnen, daß sie die untern und einen Teil der mittlern Schichten<lb/> an Barzahlung gewöhnt und dadurch wirtschaftlich erzogen, auch den Klauen<lb/> unreeller Händler, die durch Ausnutzung des Leichtsinns und der Unerfahren-<lb/> heit in Mittel- und Ostdeutschland so viel Unheil anrichten, entrissen haben.<lb/> Die landwirtschaftlichen Genossenschaften aber sind in Deutschland und in<lb/> Dänemark geradezu eine Lebensbedingung für den Bauernstand geworden.</p><lb/> <p xml:id="ID_70"> Als nach Beendigung der napoleonischen Kriege die englischen Gesetzgeber<lb/> Massen Arbeitloser ratlos gegenüberstanden, schlug Owen vor, die Leute in<lb/> kleinen Ackerbau- und Handwcrkerkolvnien zu organisieren, deren jede alle<lb/> Bedürfnisse ihrer Mitglieder durch die eignen Erzeugnisse befriedigen sollte.<lb/> Diese Armenkolonien nahm er zum Muster seines utopischen Planes einer<lb/> Neugestaltung der Gesellschaft. Was ihn außer der Not und der unvernünftigen<lb/> Güterverteilung unbestimmte, war der traurige Anblick einer in schmutzigen<lb/> Großstädten zusammengepferchten, ganz und gar vom natürlichen Boden der<lb/> Menschheit abgelösten und des Naturgenusses gänzlich beraubten Jndustrie-<lb/> bevölkerung. Seiner Ansicht und seinem Herzenswünsche nach sollte jeder im<lb/> Freien wohnen, jeder sein Stück Boden zur Benutzung und wenigstens einen<lb/> Garten haben. All das lebt bei uns fort: in den Arbeiterkvlvnien für Land¬<lb/> streicher, in der innern Kolonisation, in dem Bunde für Bodenbesitzreform,<lb/> in der Gartenstadtgesellschaft.</p><lb/> <p xml:id="ID_71" next="#ID_72"> Die Maschine und der Weltverkehr hatten die mittelalterliche Wirtschafts¬<lb/> und Gesellschaftsordnung aufgelöst. Der Liberalismus erwarb sich dann das<lb/> Verdienst, die gesetzlichen Schranken wegzuräumen, die der Bildung einer der<lb/> neuen Produktion entsprechenden Gesellschaftsordnung im Wege standen. Diese<lb/> neue Ordnung ist noch nicht fertig, aber einzelne neue Formen als Bestand¬<lb/> teile der werdenden Ordnung sind fertig, und diese Formen sind genau das,<lb/> was Owen gewollt und zum Teil in schwachen Anfängen verwirklicht hat.<lb/> Utopisch war nur die Einbildung, es handle sich nicht bloß um die Lösung<lb/> von Aufgaben einer bestimmten Zeit, sondern es könne eine für alle Zukunft<lb/> lebensfähige absolut vollkommne Gesellschaft hergestellt werden; utopisch war<lb/> ferner die Einbildung, die ganze Menschheit lasse sich von einem Punkte aus<lb/> und nach einem Plane umformen, und es sei für die ganze Erde und beim<lb/> Zusammen- und Gegeneinandcrwirken beliebiger Massen möglich, was einem<lb/> genialen Unternehmer in einem winzigen Bezirk mit ein paar tausend Menschen<lb/> gelingen konnte, über die er unumschränkte Gewalt hatte. Aber auch seine<lb/> drei schlimmsten Übertreibungen entbehrten nicht des berechtigten und lebens¬<lb/> fähigen Kerns. Sie bestanden darin, daß er das Privateigentum, die „Kaus¬<lb/> che," wie er die bestehende Form der gesetzlichen Verbindung der beiden Ge¬<lb/> schlechter nannte, und die Religion als Köpfe einer zu vertilgender Hydra</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0042]
Lin praktischer Utopist
Volkswirtschaft; und diese Aufgabe versucht man heute auf dem von Owen
eingeschlagnen Wege zu lösen. Owen hat die ersten Konsumvereine gegründet
und überhaupt die Genossenschaftsbewegung eingeleitet. Welche Macht die
Konsumgenossenschaften in England geworden sind, und in welchem Grade sie
zur Hebung des Arbeiterstandes beigetragen haben, ist allgemein bekannt. In
Deutschland werden die Konsumvereine vielfach angefeindet, es läßt sich doch
aber nicht leugnen, daß sie die untern und einen Teil der mittlern Schichten
an Barzahlung gewöhnt und dadurch wirtschaftlich erzogen, auch den Klauen
unreeller Händler, die durch Ausnutzung des Leichtsinns und der Unerfahren-
heit in Mittel- und Ostdeutschland so viel Unheil anrichten, entrissen haben.
Die landwirtschaftlichen Genossenschaften aber sind in Deutschland und in
Dänemark geradezu eine Lebensbedingung für den Bauernstand geworden.
Als nach Beendigung der napoleonischen Kriege die englischen Gesetzgeber
Massen Arbeitloser ratlos gegenüberstanden, schlug Owen vor, die Leute in
kleinen Ackerbau- und Handwcrkerkolvnien zu organisieren, deren jede alle
Bedürfnisse ihrer Mitglieder durch die eignen Erzeugnisse befriedigen sollte.
Diese Armenkolonien nahm er zum Muster seines utopischen Planes einer
Neugestaltung der Gesellschaft. Was ihn außer der Not und der unvernünftigen
Güterverteilung unbestimmte, war der traurige Anblick einer in schmutzigen
Großstädten zusammengepferchten, ganz und gar vom natürlichen Boden der
Menschheit abgelösten und des Naturgenusses gänzlich beraubten Jndustrie-
bevölkerung. Seiner Ansicht und seinem Herzenswünsche nach sollte jeder im
Freien wohnen, jeder sein Stück Boden zur Benutzung und wenigstens einen
Garten haben. All das lebt bei uns fort: in den Arbeiterkvlvnien für Land¬
streicher, in der innern Kolonisation, in dem Bunde für Bodenbesitzreform,
in der Gartenstadtgesellschaft.
Die Maschine und der Weltverkehr hatten die mittelalterliche Wirtschafts¬
und Gesellschaftsordnung aufgelöst. Der Liberalismus erwarb sich dann das
Verdienst, die gesetzlichen Schranken wegzuräumen, die der Bildung einer der
neuen Produktion entsprechenden Gesellschaftsordnung im Wege standen. Diese
neue Ordnung ist noch nicht fertig, aber einzelne neue Formen als Bestand¬
teile der werdenden Ordnung sind fertig, und diese Formen sind genau das,
was Owen gewollt und zum Teil in schwachen Anfängen verwirklicht hat.
Utopisch war nur die Einbildung, es handle sich nicht bloß um die Lösung
von Aufgaben einer bestimmten Zeit, sondern es könne eine für alle Zukunft
lebensfähige absolut vollkommne Gesellschaft hergestellt werden; utopisch war
ferner die Einbildung, die ganze Menschheit lasse sich von einem Punkte aus
und nach einem Plane umformen, und es sei für die ganze Erde und beim
Zusammen- und Gegeneinandcrwirken beliebiger Massen möglich, was einem
genialen Unternehmer in einem winzigen Bezirk mit ein paar tausend Menschen
gelingen konnte, über die er unumschränkte Gewalt hatte. Aber auch seine
drei schlimmsten Übertreibungen entbehrten nicht des berechtigten und lebens¬
fähigen Kerns. Sie bestanden darin, daß er das Privateigentum, die „Kaus¬
che," wie er die bestehende Form der gesetzlichen Verbindung der beiden Ge¬
schlechter nannte, und die Religion als Köpfe einer zu vertilgender Hydra
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |