Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches und Söhne, 1904) zum sinnfälligen zurück. Die dem Denker schwierigste" und Maßgebliches und Unmaßgebliches und Söhne, 1904) zum sinnfälligen zurück. Die dem Denker schwierigste« und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0402" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296783"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1843" prev="#ID_1842" next="#ID_1844"> und Söhne, 1904) zum sinnfälligen zurück. Die dem Denker schwierigste« und<lb/> dunkelsten Begriffe, sagt er in der Einleitung, erscheinen dem gewöhnlichen Menschen<lb/> nicht selten als die einfachsten und verständlichsten. Sein eignes Ich glaubt ein<lb/> jeder besser als alles andre zu erkennen; es ist ihm gar kein Geheimnis. Nach<lb/> und nach wandelt sich dieses Ich, nimmt immer mehr Bestandteile auf, wird ein<lb/> verwickeltes Ding und zuletzt ein unergründliches Problem. Flügel zeigt nun, wie<lb/> das heutige Ich allmählich geworden ist, auf dem Wege, den die Überschriften der<lb/> Hauptabschnitte des ersten Teils andeuten: Das Ich als eigner Leib, das Ich und<lb/> seine Umgebung, das Ich und der Name, das Ich als Inneres, das Ich als<lb/> tätiges Prinzip. Im zweiten Teile wird die Entwicklung der fünf sittlichen Ideen<lb/> im Völkerleben gezeigt, und in beiden Teilen bekommen wir viel interessantes ethno¬<lb/> logisches Material zu kosten. Obwohl der Verfasser meint, daß sich die sittlichen<lb/> Ideen an der Umgebung entwickeln, versteht er nach dem Vorbilde Herbarts, dessen<lb/> Jünger er ist, rin dieser Entwicklung und der durch sie verursachten Mannigfaltigkeit<lb/> sittlicher Anschauungen die Ursprünglichkeit und Absolutheit des Kerns der Sitt¬<lb/> lichkeit, der ethischen Wertschätzung, des sittlichen Urteils, zu vereinigen. — Ein<lb/> grundsätzlicher Gegner Herbarts, weil Anhänger der Entwicklungslehre im Sinne<lb/> der meisten Biologen, ist Paul Bergemann. Der erste Teil seiner Ethik als<lb/> Kulturphilosophie (Leipzig, Theodor Hofmann, 1904) behandelt in der ersten<lb/> Hälfte dasselbe wie der zweite Teil des Buches von Flügel, nämlich „die Ent¬<lb/> wicklung des sittlichen Bewußtseins in Geschichte und Tat der Menschheit," aber<lb/> in ganz andrer Weise und mit anderen Material. Die zweite Hälfte: „Die Ent¬<lb/> wicklung der sittlichen Anschauungen," ist eine gute und gründliche Geschichte der<lb/> Ethik, mir läßt sie die Objektivität vermissen. Herbart kommt, wie zu erwarten<lb/> war, schlecht weg; dagegen wird der Verfasser Adam Smith vollauf gerecht, der<lb/> bis jetzt von den deutschen Ethikern wenig beachtet worden ist. Der zweite Teil<lb/> ist „Ethik als Kulturphilosophie" überschrieben, und seine zweite Hälfte enthält eine<lb/> Tugend- und Pflichtenlehre. Der Verfasser ist in der Sexualmoral Rigorist und<lb/> preist die Frauenbewegung, die sich die Erziehung der Männer zur strengen Mono¬<lb/> gamie zum Ziele gesetzt hat. Dagegen will er nicht, daß die Frauen den Männern<lb/> in der Berufsttttigkeit Konkurrenz machen. Die Erziehung ihrer eigne» Kinder soll<lb/> der eigentliche Beruf der Frau bleiben oder eigentlich erst werden, da sie zu seiner<lb/> gehörigen Erfüllung dem Manne in der Bildung ebenbürtig sein müsse. Als<lb/> Mittel für eine bessere Ausbildung der Frauen empfiehlt er genossenschaftliche Wirt¬<lb/> schaftsführung und soziale Hilfsarbeit. Lehnt er freie Liebe und die Erziehung<lb/> der Kinder durch den Staat entschieden ab, so neigt er dafür in Beziehung auf<lb/> das Eigentumsrecht dem Sozialismus zu. „Eine Gesellschaft, in der nnr die ver¬<lb/> hältnismäßig wenigen Besitzenden und Gebildeten die Träger der Kultur sind,<lb/> kann auf die Dauer nicht lebensfähig sein." Bergemauns Werk ist ein brauchbares<lb/> Handbuch der ethischen Theorien, aber um die praktische Wirksamkeit bringt ihn<lb/> das Ziel des Weltprozesses, das er predigt: Der Mensch selbst und seine persönliche<lb/> Vollkommenheit sind nur Mittel, Selbstzweck ist allein die Kultur. Die Zahl der<lb/> Menschen ist nicht groß, die des Kulturfortschritts wegen geneigt sein werden, schwere<lb/> Pflichten zu erfüllen und Opfer zu bringen. Bergemnnn erkennt selbst, daß sein<lb/> Weltzweck keine allgemein wirkende Motivativnskraft hat, und sucht darum eine Er¬<lb/> gänzung. Da er aber die vom Christentum dargebotne zurückweist, findet er nnr<lb/> eine ganz dürftige, die gar keine ist. Das Ziel des Kultnrprozesses sei die Har¬<lb/> monie der ideellen und der materiellen Kräfte. Das ist doch nnr ein schattenhafter<lb/> Begriff, während Kultur immerhin ein zwar schwankender, aber an deutlichen Vor¬<lb/> stellungen sehr reicher Begriff ist und darum wenigstens für einzelne Menschen<lb/> kräftige Beweggründe zum Handeln abgibt. Einen Ingenieur vermag die Gro߬<lb/> artigkeit der modernen Technik, einen Staatsmann die Vorstellung von einem voll-<lb/> kommnen Staate so zu begeistern, daß jeder von beiden seinem Ideal sein Lebe»<lb/> opfert. - ol'. Paul Weisen grün veröffentlicht unter dem Titel: Der neue<lb/> Kurs i» der Philosophie (Wiener Verlag. Wien und Leipzig, 1905) Prvlc-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0402]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
und Söhne, 1904) zum sinnfälligen zurück. Die dem Denker schwierigste« und
dunkelsten Begriffe, sagt er in der Einleitung, erscheinen dem gewöhnlichen Menschen
nicht selten als die einfachsten und verständlichsten. Sein eignes Ich glaubt ein
jeder besser als alles andre zu erkennen; es ist ihm gar kein Geheimnis. Nach
und nach wandelt sich dieses Ich, nimmt immer mehr Bestandteile auf, wird ein
verwickeltes Ding und zuletzt ein unergründliches Problem. Flügel zeigt nun, wie
das heutige Ich allmählich geworden ist, auf dem Wege, den die Überschriften der
Hauptabschnitte des ersten Teils andeuten: Das Ich als eigner Leib, das Ich und
seine Umgebung, das Ich und der Name, das Ich als Inneres, das Ich als
tätiges Prinzip. Im zweiten Teile wird die Entwicklung der fünf sittlichen Ideen
im Völkerleben gezeigt, und in beiden Teilen bekommen wir viel interessantes ethno¬
logisches Material zu kosten. Obwohl der Verfasser meint, daß sich die sittlichen
Ideen an der Umgebung entwickeln, versteht er nach dem Vorbilde Herbarts, dessen
Jünger er ist, rin dieser Entwicklung und der durch sie verursachten Mannigfaltigkeit
sittlicher Anschauungen die Ursprünglichkeit und Absolutheit des Kerns der Sitt¬
lichkeit, der ethischen Wertschätzung, des sittlichen Urteils, zu vereinigen. — Ein
grundsätzlicher Gegner Herbarts, weil Anhänger der Entwicklungslehre im Sinne
der meisten Biologen, ist Paul Bergemann. Der erste Teil seiner Ethik als
Kulturphilosophie (Leipzig, Theodor Hofmann, 1904) behandelt in der ersten
Hälfte dasselbe wie der zweite Teil des Buches von Flügel, nämlich „die Ent¬
wicklung des sittlichen Bewußtseins in Geschichte und Tat der Menschheit," aber
in ganz andrer Weise und mit anderen Material. Die zweite Hälfte: „Die Ent¬
wicklung der sittlichen Anschauungen," ist eine gute und gründliche Geschichte der
Ethik, mir läßt sie die Objektivität vermissen. Herbart kommt, wie zu erwarten
war, schlecht weg; dagegen wird der Verfasser Adam Smith vollauf gerecht, der
bis jetzt von den deutschen Ethikern wenig beachtet worden ist. Der zweite Teil
ist „Ethik als Kulturphilosophie" überschrieben, und seine zweite Hälfte enthält eine
Tugend- und Pflichtenlehre. Der Verfasser ist in der Sexualmoral Rigorist und
preist die Frauenbewegung, die sich die Erziehung der Männer zur strengen Mono¬
gamie zum Ziele gesetzt hat. Dagegen will er nicht, daß die Frauen den Männern
in der Berufsttttigkeit Konkurrenz machen. Die Erziehung ihrer eigne» Kinder soll
der eigentliche Beruf der Frau bleiben oder eigentlich erst werden, da sie zu seiner
gehörigen Erfüllung dem Manne in der Bildung ebenbürtig sein müsse. Als
Mittel für eine bessere Ausbildung der Frauen empfiehlt er genossenschaftliche Wirt¬
schaftsführung und soziale Hilfsarbeit. Lehnt er freie Liebe und die Erziehung
der Kinder durch den Staat entschieden ab, so neigt er dafür in Beziehung auf
das Eigentumsrecht dem Sozialismus zu. „Eine Gesellschaft, in der nnr die ver¬
hältnismäßig wenigen Besitzenden und Gebildeten die Träger der Kultur sind,
kann auf die Dauer nicht lebensfähig sein." Bergemauns Werk ist ein brauchbares
Handbuch der ethischen Theorien, aber um die praktische Wirksamkeit bringt ihn
das Ziel des Weltprozesses, das er predigt: Der Mensch selbst und seine persönliche
Vollkommenheit sind nur Mittel, Selbstzweck ist allein die Kultur. Die Zahl der
Menschen ist nicht groß, die des Kulturfortschritts wegen geneigt sein werden, schwere
Pflichten zu erfüllen und Opfer zu bringen. Bergemnnn erkennt selbst, daß sein
Weltzweck keine allgemein wirkende Motivativnskraft hat, und sucht darum eine Er¬
gänzung. Da er aber die vom Christentum dargebotne zurückweist, findet er nnr
eine ganz dürftige, die gar keine ist. Das Ziel des Kultnrprozesses sei die Har¬
monie der ideellen und der materiellen Kräfte. Das ist doch nnr ein schattenhafter
Begriff, während Kultur immerhin ein zwar schwankender, aber an deutlichen Vor¬
stellungen sehr reicher Begriff ist und darum wenigstens für einzelne Menschen
kräftige Beweggründe zum Handeln abgibt. Einen Ingenieur vermag die Gro߬
artigkeit der modernen Technik, einen Staatsmann die Vorstellung von einem voll-
kommnen Staate so zu begeistern, daß jeder von beiden seinem Ideal sein Lebe»
opfert. - ol'. Paul Weisen grün veröffentlicht unter dem Titel: Der neue
Kurs i» der Philosophie (Wiener Verlag. Wien und Leipzig, 1905) Prvlc-
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