Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Reiseerinnerungen aus Rußland Blick von einer der zahlreichen Brücken auf den gewaltigen Newastrom und die Das gastliche Haus, dessen Pforten mich aufnahmen, gehörte einer alten Die Temperatur betrug am Tage meiner Ankunft gegen -- 20 Grad Reiseerinnerungen aus Rußland Blick von einer der zahlreichen Brücken auf den gewaltigen Newastrom und die Das gastliche Haus, dessen Pforten mich aufnahmen, gehörte einer alten Die Temperatur betrug am Tage meiner Ankunft gegen — 20 Grad <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0377" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297509"/> <fw type="header" place="top"> Reiseerinnerungen aus Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_1660" prev="#ID_1659"> Blick von einer der zahlreichen Brücken auf den gewaltigen Newastrom und die<lb/> üppig bewachsnen Inseln nach dem ersten Schneefall und im Frühling einzig<lb/> schön sein soll, doch kann ich darüber aus eigner Anschauung nichts sagen. Ich<lb/> hatte überhaupt so ziemlich die schlechteste Jahreszeit getroffen, denn die Periode<lb/> der ruhigen angenehmen Kälte war schon vorüber, und die lebhaften Märzwinde<lb/> wirbelten einen Straßenschnee umher, der durch Beimischung von Staub und<lb/> Pferdemist besonders lästig wirkte. Von der Stadt selbst und ihren Sehens¬<lb/> würdigkeiten kann ich auch nur wenig berichten, denn ich habe nicht viel davon<lb/> gesehen; mich interessierten vor allen Dingen die Menschen, und es gelang mir,<lb/> einen ziemlich tiefen Blick in die vornehme russische Gesellschaft zu tun, der mich<lb/> veranlaßt, meine Aufzeichnungen gerade jetzt zu veröffentlichen, wo die Augen<lb/> der zivilisierten Welt mehr als je auf das nordische Reich gerichtet sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_1661"> Das gastliche Haus, dessen Pforten mich aufnahmen, gehörte einer alten<lb/> vornehmen Dame, die, von allen verehrt und geliebt, wie eine Patriarchin ihrem<lb/> großen Hauswesen vorstand. Zwei Söhne und ein Neffe dienten als Offiziere<lb/> im Prcobrashenskojeregiment, das unserm ersten Garderegiment zu Fuß entspricht;<lb/> sie selbst nahm als Aristokratin und begüterte Witwe eines verdienten russischen<lb/> Generals eine hohe Stellung in Petersburg ein, und fast jeden Abend pflegte<lb/> sich eine vornehme Gesellschaft in den gastlichen Räumen des großen Hauses<lb/> einzufinden. Mehr als ein Dutzend männliche und ebensoviel weibliche Domestiken<lb/> waren im Haushalt tätig, meist frühere Leibeigne oder Abkömmlinge von Leib¬<lb/> eignen, die von den Gütern der Generalin stammten. Jedes Familienmitglied<lb/> hatte eigne Dienerschaft, auch mir wurde ein dienender Geist zugewiesen, der<lb/> nur für meine Beauemlichkeit zu sorgen hatte. Leider sprach er kein Wort<lb/> Deutsch, aber er folgte mir wie mein Schatten und suchte alle Wünsche an<lb/> meinen Augen abzulesen. An der Spitze der gesamten Dienerschaft stand ein<lb/> Zwerg, der noch in vielen vornehmen Häusern dort zu finden ist. Beim Diner<lb/> Abends 6^/2 Uhr erschien dieser Knirps, der kaum über den Tisch sehen konnte,<lb/> in tadellos schwarzem Frackanzug mit weißer Halsbinde und dirigierte mit vor¬<lb/> nehmen Handbewegungen die bedienenden Geister; darauf verschwand er und<lb/> wurde bis zum nächsten Mittag nicht wieder gesehen. Ans meine Frage, was<lb/> der Zwerg deun die übrige Zeit treibe, wurde mir lachend erwidert: Ja,<lb/> der hat jetzt sein Quartal, das heißt er bildet sich ein, daß er so aller<lb/> paar Monate einmal eine Reiniguugskur mit seinem Körper vornehmen müsse,<lb/> und das geschieht dadurch, daß er dann acht Tage lang jeden Abend eine<lb/> ganze Flasche Schnaps austrinkt; jetzt wird er wohl in der Küche wieder<lb/> auf dem Schoß der Köchin sitzen und seinen Rausch ausschlafen, bis ihn ein<lb/> Diener in das Bett trägt. Der Maun tut das nicht ans Liebe zum Schnaps,<lb/> sondern er hält eine solche Kur von Zeit zu Zeit für notwendig, um gesund<lb/> zu bleiben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1662" next="#ID_1663"> Die Temperatur betrug am Tage meiner Ankunft gegen — 20 Grad<lb/> Celsius, aber es war eine trockne angenehme Kälte, und ich kann nur sagen,<lb/> daß ich im Winter noch niemals so unter Hitze zu leiden hatte als zu der<lb/> Zeit meines Petersburger Aufenthalts. Die Häuser sind stark gebaut, teilweise<lb/> sogar mit doppelten, durch eine Luftschicht getrennten Wänden, Türen und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0377]
Reiseerinnerungen aus Rußland
Blick von einer der zahlreichen Brücken auf den gewaltigen Newastrom und die
üppig bewachsnen Inseln nach dem ersten Schneefall und im Frühling einzig
schön sein soll, doch kann ich darüber aus eigner Anschauung nichts sagen. Ich
hatte überhaupt so ziemlich die schlechteste Jahreszeit getroffen, denn die Periode
der ruhigen angenehmen Kälte war schon vorüber, und die lebhaften Märzwinde
wirbelten einen Straßenschnee umher, der durch Beimischung von Staub und
Pferdemist besonders lästig wirkte. Von der Stadt selbst und ihren Sehens¬
würdigkeiten kann ich auch nur wenig berichten, denn ich habe nicht viel davon
gesehen; mich interessierten vor allen Dingen die Menschen, und es gelang mir,
einen ziemlich tiefen Blick in die vornehme russische Gesellschaft zu tun, der mich
veranlaßt, meine Aufzeichnungen gerade jetzt zu veröffentlichen, wo die Augen
der zivilisierten Welt mehr als je auf das nordische Reich gerichtet sind.
Das gastliche Haus, dessen Pforten mich aufnahmen, gehörte einer alten
vornehmen Dame, die, von allen verehrt und geliebt, wie eine Patriarchin ihrem
großen Hauswesen vorstand. Zwei Söhne und ein Neffe dienten als Offiziere
im Prcobrashenskojeregiment, das unserm ersten Garderegiment zu Fuß entspricht;
sie selbst nahm als Aristokratin und begüterte Witwe eines verdienten russischen
Generals eine hohe Stellung in Petersburg ein, und fast jeden Abend pflegte
sich eine vornehme Gesellschaft in den gastlichen Räumen des großen Hauses
einzufinden. Mehr als ein Dutzend männliche und ebensoviel weibliche Domestiken
waren im Haushalt tätig, meist frühere Leibeigne oder Abkömmlinge von Leib¬
eignen, die von den Gütern der Generalin stammten. Jedes Familienmitglied
hatte eigne Dienerschaft, auch mir wurde ein dienender Geist zugewiesen, der
nur für meine Beauemlichkeit zu sorgen hatte. Leider sprach er kein Wort
Deutsch, aber er folgte mir wie mein Schatten und suchte alle Wünsche an
meinen Augen abzulesen. An der Spitze der gesamten Dienerschaft stand ein
Zwerg, der noch in vielen vornehmen Häusern dort zu finden ist. Beim Diner
Abends 6^/2 Uhr erschien dieser Knirps, der kaum über den Tisch sehen konnte,
in tadellos schwarzem Frackanzug mit weißer Halsbinde und dirigierte mit vor¬
nehmen Handbewegungen die bedienenden Geister; darauf verschwand er und
wurde bis zum nächsten Mittag nicht wieder gesehen. Ans meine Frage, was
der Zwerg deun die übrige Zeit treibe, wurde mir lachend erwidert: Ja,
der hat jetzt sein Quartal, das heißt er bildet sich ein, daß er so aller
paar Monate einmal eine Reiniguugskur mit seinem Körper vornehmen müsse,
und das geschieht dadurch, daß er dann acht Tage lang jeden Abend eine
ganze Flasche Schnaps austrinkt; jetzt wird er wohl in der Küche wieder
auf dem Schoß der Köchin sitzen und seinen Rausch ausschlafen, bis ihn ein
Diener in das Bett trägt. Der Maun tut das nicht ans Liebe zum Schnaps,
sondern er hält eine solche Kur von Zeit zu Zeit für notwendig, um gesund
zu bleiben.
Die Temperatur betrug am Tage meiner Ankunft gegen — 20 Grad
Celsius, aber es war eine trockne angenehme Kälte, und ich kann nur sagen,
daß ich im Winter noch niemals so unter Hitze zu leiden hatte als zu der
Zeit meines Petersburger Aufenthalts. Die Häuser sind stark gebaut, teilweise
sogar mit doppelten, durch eine Luftschicht getrennten Wänden, Türen und
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