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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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ihres Inhalts der persönliche Eindruck der vernommnen Personen und die
Art, wie sie ihre Aussage beschafft haben, von größter Wichtigkeit. Diese
Umstände aber lassen sich in den Akten so gut wie gar nicht wiedergeben und
gehn dem Staatsanwalt bei der Anklageerhebnng völlig verloren.

Endlich ist es nicht der persönliche Eindruck allein, von dem die Glaub¬
würdigkeit einer Person abhängt, ihr Vorleben, ihr Leumund, ihre geistigen
Fähigkeiten fallen nicht weniger ins Gewicht. Hier aber weiß sowohl der
Staatsanwalt als auch das erkennende Gericht viel zu wenig. Bei unserm
Fall zum Beispiel ist es von fast ausschlaggebender Bedeutung, genau zu
wissen, ob der Messerstecher oder sein Gegner als Raufbolde bekannt und ge¬
fürchtet sind. Aber, abgesehen hiervon, hat etwa eine als Zeugin vcrnommne
Dienstmagd bekundet, sie habe gesehen, daß Petersen schon ein blankes Messer
in der Hand gehabt habe, als er noch ganz unbehelligt am Wirtshaus vorüber
gegangen sei. Petersen bestreitet das und macht geltend, das Blanke sei
vielleicht die Medizinflasche gewesen. Die Zeugin aber stellt das in Abrede
und erklärt immer bestimmter, nein, das sei ein Messer gewesen. Jeder im
Dorf weiß nun, daß das Mädchen sehr phantastisch angelegt ist, und daß ihre
Erzählungen mit der größten Vorsicht aufzunehmen sind. In den Akten aber
steht davon nichts, und nur durch Zufall wird es in der Hauptverhandlung
zur Sprache kommen, denn von selber sagen die Leute so etwas nicht, und
danach zu fragen hat der Richter keinen Anlaß, denn die Zeugin macht ihre
Angaben ganz ruhig und bestimmt.

Nach alledem ist der Baugrund, auf dem der Staatsanwalt seine An¬
lage aufbaut, der Akteninhalt, sehr unsicher. Das sollte man bedenken, wenn
man sich in der Presse und im Landtag über die angeblich besonders häufigen
Freisprechungen bei uns (16 bis 30 Prozent) beklagt und daraus den Schluß
ziehn will, die Staatsanwaltschaft sei sich der Bedeutung der Anklageerhebnng
nicht genügend bewußt. Dies soll man aber auch bedenken, wenn Ab¬
weichungen von dem Akteniuhalt bei den Vernehmungen in der Hauptver-
handlung zutage treten. Leider aber besteht eine merkwürdige Neigung, diesen
ein ganz getreues Spiegelbild der Vorgänge anzusehen, und hieraus folgt
^n weiterer Mangel unsers Verfahrens.

Immer und immer wieder hören wir nämlich, wie Angeklagten und
Zeugen auch bei kleinen Abweichungen vorgehalten wird: "Sie haben doch
laut Protokoll vom so und so vielten gesagt --" Und dieser Vorhalt geschieht
nut einem Ton der Entrüstung, und aus der angeblichen Verschiedenheit der
Aussagen werden Folgerungen gezogen, die dem ein Rätsel sind, der das bei
Aussage und Vernehmung mitspielende psychologische Moment kennt und weiß,
'we welcher Hast und wie mangelhaftem Verständnis oft die Protokolle zu¬
stande gebracht werden.

Zusammenfassend, leidet also unser Ermittlungsverfahren daran, daß es
^ zeitraubend ist und eine unverhältnismäßig große Arbeitsmenge verlangt.
Hierbei mag zugegeben werden, daß diese Mängel dadurch häufig etwas ver¬
engert werden, daß sich die Polizeibehörden nicht allzu streng an die Vor¬
schriften des Paragraphen 161 der Strafprozeßordnung halten, sondern die Sachen


ihres Inhalts der persönliche Eindruck der vernommnen Personen und die
Art, wie sie ihre Aussage beschafft haben, von größter Wichtigkeit. Diese
Umstände aber lassen sich in den Akten so gut wie gar nicht wiedergeben und
gehn dem Staatsanwalt bei der Anklageerhebnng völlig verloren.

Endlich ist es nicht der persönliche Eindruck allein, von dem die Glaub¬
würdigkeit einer Person abhängt, ihr Vorleben, ihr Leumund, ihre geistigen
Fähigkeiten fallen nicht weniger ins Gewicht. Hier aber weiß sowohl der
Staatsanwalt als auch das erkennende Gericht viel zu wenig. Bei unserm
Fall zum Beispiel ist es von fast ausschlaggebender Bedeutung, genau zu
wissen, ob der Messerstecher oder sein Gegner als Raufbolde bekannt und ge¬
fürchtet sind. Aber, abgesehen hiervon, hat etwa eine als Zeugin vcrnommne
Dienstmagd bekundet, sie habe gesehen, daß Petersen schon ein blankes Messer
in der Hand gehabt habe, als er noch ganz unbehelligt am Wirtshaus vorüber
gegangen sei. Petersen bestreitet das und macht geltend, das Blanke sei
vielleicht die Medizinflasche gewesen. Die Zeugin aber stellt das in Abrede
und erklärt immer bestimmter, nein, das sei ein Messer gewesen. Jeder im
Dorf weiß nun, daß das Mädchen sehr phantastisch angelegt ist, und daß ihre
Erzählungen mit der größten Vorsicht aufzunehmen sind. In den Akten aber
steht davon nichts, und nur durch Zufall wird es in der Hauptverhandlung
zur Sprache kommen, denn von selber sagen die Leute so etwas nicht, und
danach zu fragen hat der Richter keinen Anlaß, denn die Zeugin macht ihre
Angaben ganz ruhig und bestimmt.

Nach alledem ist der Baugrund, auf dem der Staatsanwalt seine An¬
lage aufbaut, der Akteninhalt, sehr unsicher. Das sollte man bedenken, wenn
man sich in der Presse und im Landtag über die angeblich besonders häufigen
Freisprechungen bei uns (16 bis 30 Prozent) beklagt und daraus den Schluß
ziehn will, die Staatsanwaltschaft sei sich der Bedeutung der Anklageerhebnng
nicht genügend bewußt. Dies soll man aber auch bedenken, wenn Ab¬
weichungen von dem Akteniuhalt bei den Vernehmungen in der Hauptver-
handlung zutage treten. Leider aber besteht eine merkwürdige Neigung, diesen
ein ganz getreues Spiegelbild der Vorgänge anzusehen, und hieraus folgt
^n weiterer Mangel unsers Verfahrens.

Immer und immer wieder hören wir nämlich, wie Angeklagten und
Zeugen auch bei kleinen Abweichungen vorgehalten wird: „Sie haben doch
laut Protokoll vom so und so vielten gesagt —" Und dieser Vorhalt geschieht
nut einem Ton der Entrüstung, und aus der angeblichen Verschiedenheit der
Aussagen werden Folgerungen gezogen, die dem ein Rätsel sind, der das bei
Aussage und Vernehmung mitspielende psychologische Moment kennt und weiß,
'we welcher Hast und wie mangelhaftem Verständnis oft die Protokolle zu¬
stande gebracht werden.

Zusammenfassend, leidet also unser Ermittlungsverfahren daran, daß es
^ zeitraubend ist und eine unverhältnismäßig große Arbeitsmenge verlangt.
Hierbei mag zugegeben werden, daß diese Mängel dadurch häufig etwas ver¬
engert werden, daß sich die Polizeibehörden nicht allzu streng an die Vor¬
schriften des Paragraphen 161 der Strafprozeßordnung halten, sondern die Sachen


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[0363] ihres Inhalts der persönliche Eindruck der vernommnen Personen und die Art, wie sie ihre Aussage beschafft haben, von größter Wichtigkeit. Diese Umstände aber lassen sich in den Akten so gut wie gar nicht wiedergeben und gehn dem Staatsanwalt bei der Anklageerhebnng völlig verloren. Endlich ist es nicht der persönliche Eindruck allein, von dem die Glaub¬ würdigkeit einer Person abhängt, ihr Vorleben, ihr Leumund, ihre geistigen Fähigkeiten fallen nicht weniger ins Gewicht. Hier aber weiß sowohl der Staatsanwalt als auch das erkennende Gericht viel zu wenig. Bei unserm Fall zum Beispiel ist es von fast ausschlaggebender Bedeutung, genau zu wissen, ob der Messerstecher oder sein Gegner als Raufbolde bekannt und ge¬ fürchtet sind. Aber, abgesehen hiervon, hat etwa eine als Zeugin vcrnommne Dienstmagd bekundet, sie habe gesehen, daß Petersen schon ein blankes Messer in der Hand gehabt habe, als er noch ganz unbehelligt am Wirtshaus vorüber gegangen sei. Petersen bestreitet das und macht geltend, das Blanke sei vielleicht die Medizinflasche gewesen. Die Zeugin aber stellt das in Abrede und erklärt immer bestimmter, nein, das sei ein Messer gewesen. Jeder im Dorf weiß nun, daß das Mädchen sehr phantastisch angelegt ist, und daß ihre Erzählungen mit der größten Vorsicht aufzunehmen sind. In den Akten aber steht davon nichts, und nur durch Zufall wird es in der Hauptverhandlung zur Sprache kommen, denn von selber sagen die Leute so etwas nicht, und danach zu fragen hat der Richter keinen Anlaß, denn die Zeugin macht ihre Angaben ganz ruhig und bestimmt. Nach alledem ist der Baugrund, auf dem der Staatsanwalt seine An¬ lage aufbaut, der Akteninhalt, sehr unsicher. Das sollte man bedenken, wenn man sich in der Presse und im Landtag über die angeblich besonders häufigen Freisprechungen bei uns (16 bis 30 Prozent) beklagt und daraus den Schluß ziehn will, die Staatsanwaltschaft sei sich der Bedeutung der Anklageerhebnng nicht genügend bewußt. Dies soll man aber auch bedenken, wenn Ab¬ weichungen von dem Akteniuhalt bei den Vernehmungen in der Hauptver- handlung zutage treten. Leider aber besteht eine merkwürdige Neigung, diesen ein ganz getreues Spiegelbild der Vorgänge anzusehen, und hieraus folgt ^n weiterer Mangel unsers Verfahrens. Immer und immer wieder hören wir nämlich, wie Angeklagten und Zeugen auch bei kleinen Abweichungen vorgehalten wird: „Sie haben doch laut Protokoll vom so und so vielten gesagt —" Und dieser Vorhalt geschieht nut einem Ton der Entrüstung, und aus der angeblichen Verschiedenheit der Aussagen werden Folgerungen gezogen, die dem ein Rätsel sind, der das bei Aussage und Vernehmung mitspielende psychologische Moment kennt und weiß, 'we welcher Hast und wie mangelhaftem Verständnis oft die Protokolle zu¬ stande gebracht werden. Zusammenfassend, leidet also unser Ermittlungsverfahren daran, daß es ^ zeitraubend ist und eine unverhältnismäßig große Arbeitsmenge verlangt. Hierbei mag zugegeben werden, daß diese Mängel dadurch häufig etwas ver¬ engert werden, daß sich die Polizeibehörden nicht allzu streng an die Vor¬ schriften des Paragraphen 161 der Strafprozeßordnung halten, sondern die Sachen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/363>, abgerufen am 06.02.2025.