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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen

besetzten Staats. Aber weder die Reform der Kreistage noch die der Provinzial-
landtage vermochte er (außer in Ostpreußen) durchzusetzen, und vollends die
Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit scheiterte an dem hartnäckigen Wider¬
spruch vornehmlich des schlesischen Adels; sie ist erst nach 1848/49 gelungen.
Sogar der Rücktritt Steins am 24. November 1808 war, wie M. Lehmann das
überzeugend nachweist, keineswegs nur eine Folge der Feindschaft Napoleons,
sondern ebensogut ein Ergebnis der wachsenden Opposition, die seine radikalen,
fast revolutionären Nüstungsvorschläge, seine zu verwegne auswärtige Politik
und seine tiefeinschneidender Reformprojekte unter seinen eignen Mitarbeitern,
am Hofe, unter den vielen verabschiedeten Beamten und auch beim König selbst
erweckten. Mit Steins Rücktritt am 24. November 1808 siegte nicht nur
Napoleon über den deutschen Patrioten, sondern auch noch einmal das alte
Preußen über das neue, das sich nach Steins Ideen herausrang. Aber es ist
dann doch in seinen Bahnen weitergegangen, und auch der Adel, von dem er
so gering dachte, hat danach auf hundert Schlachtfeldern bewiesen, daß er für
dieses neue Preußen so gut zu sterben wußte wie für das alte.




Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen

^Ms-Ä^ ?/>n Neudorf ist eine Wirtshausschlägerei gewesen, bei der der
Knecht Nowak einen Messerstich erhalten hat. Der Gendarm
ist gerufen worden, als er erscheint, ist jedoch die Schlägerei
beendet. Von den aufgeregten, angetrunknen Leuten hört er,
!daß der aus dem Nachbardorf hcrübergekommne Tagelöhner
Petersen der Messerstecher gewesen sei. Er überzeugt sich, daß die Verletzung
nicht lebensgefährlich ist, und veranlaßt den Nowak, einen Arzt aufzusuchen,
daß er später ein Attest über die Verletzung beibringen kann. Weiter kann
der Gendarm zunächst nichts tun.

Am nächsten Morgen schreibt er eine Anzeige über den Vorfall und gibt
sie gemäß seiner Instruktion (Reskript vom 7. August 1880, Ministerialblatt für
Innere Verwaltung S. 239) an den Amtsvorsteher des Tatortes ab, worauf
dieser sie, da unaufschiebbare Ermittlungen nicht vorzunehmen sind, gemäß Para¬
graph 161 der Strafprozeßordnung an die Staatsanwaltschaft weiter gibt.

Der Staatsanwalt kann sich natürlich ans die kurze Gendarmenanzeige
allein hin über die Erhebung der Anklage nicht schlüssig machen. Er schickt
sie also dem Amtsvorsteher zurück mit dem Ersuchen, den Tatbestand durch
protokollarische Vernehmung der Beschuldigten und der Zeugen festzustellen.
Hierbei stellt sich heraus, daß ein paar der wichtigsten Zeugen nicht im Be¬
zirk wohnen. Der Staatsanwalt sieht sich also genötigt, nachdem er die
Protokolle des Amtsvorstehers zurückerhalten und durchgearbeitet hat, die Akten
an den benachbarten Amtsvorsteher zur weitern Zeugenvernehmung zu geben-
Sind nun gar die Zeugen oder die Beschuldigten inzwischen weggezogen, oder wie


Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen

besetzten Staats. Aber weder die Reform der Kreistage noch die der Provinzial-
landtage vermochte er (außer in Ostpreußen) durchzusetzen, und vollends die
Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit scheiterte an dem hartnäckigen Wider¬
spruch vornehmlich des schlesischen Adels; sie ist erst nach 1848/49 gelungen.
Sogar der Rücktritt Steins am 24. November 1808 war, wie M. Lehmann das
überzeugend nachweist, keineswegs nur eine Folge der Feindschaft Napoleons,
sondern ebensogut ein Ergebnis der wachsenden Opposition, die seine radikalen,
fast revolutionären Nüstungsvorschläge, seine zu verwegne auswärtige Politik
und seine tiefeinschneidender Reformprojekte unter seinen eignen Mitarbeitern,
am Hofe, unter den vielen verabschiedeten Beamten und auch beim König selbst
erweckten. Mit Steins Rücktritt am 24. November 1808 siegte nicht nur
Napoleon über den deutschen Patrioten, sondern auch noch einmal das alte
Preußen über das neue, das sich nach Steins Ideen herausrang. Aber es ist
dann doch in seinen Bahnen weitergegangen, und auch der Adel, von dem er
so gering dachte, hat danach auf hundert Schlachtfeldern bewiesen, daß er für
dieses neue Preußen so gut zu sterben wußte wie für das alte.




Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen

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Knecht Nowak einen Messerstich erhalten hat. Der Gendarm
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beendet. Von den aufgeregten, angetrunknen Leuten hört er,
!daß der aus dem Nachbardorf hcrübergekommne Tagelöhner
Petersen der Messerstecher gewesen sei. Er überzeugt sich, daß die Verletzung
nicht lebensgefährlich ist, und veranlaßt den Nowak, einen Arzt aufzusuchen,
daß er später ein Attest über die Verletzung beibringen kann. Weiter kann
der Gendarm zunächst nichts tun.

Am nächsten Morgen schreibt er eine Anzeige über den Vorfall und gibt
sie gemäß seiner Instruktion (Reskript vom 7. August 1880, Ministerialblatt für
Innere Verwaltung S. 239) an den Amtsvorsteher des Tatortes ab, worauf
dieser sie, da unaufschiebbare Ermittlungen nicht vorzunehmen sind, gemäß Para¬
graph 161 der Strafprozeßordnung an die Staatsanwaltschaft weiter gibt.

Der Staatsanwalt kann sich natürlich ans die kurze Gendarmenanzeige
allein hin über die Erhebung der Anklage nicht schlüssig machen. Er schickt
sie also dem Amtsvorsteher zurück mit dem Ersuchen, den Tatbestand durch
protokollarische Vernehmung der Beschuldigten und der Zeugen festzustellen.
Hierbei stellt sich heraus, daß ein paar der wichtigsten Zeugen nicht im Be¬
zirk wohnen. Der Staatsanwalt sieht sich also genötigt, nachdem er die
Protokolle des Amtsvorstehers zurückerhalten und durchgearbeitet hat, die Akten
an den benachbarten Amtsvorsteher zur weitern Zeugenvernehmung zu geben-
Sind nun gar die Zeugen oder die Beschuldigten inzwischen weggezogen, oder wie


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[0360] Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen besetzten Staats. Aber weder die Reform der Kreistage noch die der Provinzial- landtage vermochte er (außer in Ostpreußen) durchzusetzen, und vollends die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit scheiterte an dem hartnäckigen Wider¬ spruch vornehmlich des schlesischen Adels; sie ist erst nach 1848/49 gelungen. Sogar der Rücktritt Steins am 24. November 1808 war, wie M. Lehmann das überzeugend nachweist, keineswegs nur eine Folge der Feindschaft Napoleons, sondern ebensogut ein Ergebnis der wachsenden Opposition, die seine radikalen, fast revolutionären Nüstungsvorschläge, seine zu verwegne auswärtige Politik und seine tiefeinschneidender Reformprojekte unter seinen eignen Mitarbeitern, am Hofe, unter den vielen verabschiedeten Beamten und auch beim König selbst erweckten. Mit Steins Rücktritt am 24. November 1808 siegte nicht nur Napoleon über den deutschen Patrioten, sondern auch noch einmal das alte Preußen über das neue, das sich nach Steins Ideen herausrang. Aber es ist dann doch in seinen Bahnen weitergegangen, und auch der Adel, von dem er so gering dachte, hat danach auf hundert Schlachtfeldern bewiesen, daß er für dieses neue Preußen so gut zu sterben wußte wie für das alte. Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen ^Ms-Ä^ ?/>n Neudorf ist eine Wirtshausschlägerei gewesen, bei der der Knecht Nowak einen Messerstich erhalten hat. Der Gendarm ist gerufen worden, als er erscheint, ist jedoch die Schlägerei beendet. Von den aufgeregten, angetrunknen Leuten hört er, !daß der aus dem Nachbardorf hcrübergekommne Tagelöhner Petersen der Messerstecher gewesen sei. Er überzeugt sich, daß die Verletzung nicht lebensgefährlich ist, und veranlaßt den Nowak, einen Arzt aufzusuchen, daß er später ein Attest über die Verletzung beibringen kann. Weiter kann der Gendarm zunächst nichts tun. Am nächsten Morgen schreibt er eine Anzeige über den Vorfall und gibt sie gemäß seiner Instruktion (Reskript vom 7. August 1880, Ministerialblatt für Innere Verwaltung S. 239) an den Amtsvorsteher des Tatortes ab, worauf dieser sie, da unaufschiebbare Ermittlungen nicht vorzunehmen sind, gemäß Para¬ graph 161 der Strafprozeßordnung an die Staatsanwaltschaft weiter gibt. Der Staatsanwalt kann sich natürlich ans die kurze Gendarmenanzeige allein hin über die Erhebung der Anklage nicht schlüssig machen. Er schickt sie also dem Amtsvorsteher zurück mit dem Ersuchen, den Tatbestand durch protokollarische Vernehmung der Beschuldigten und der Zeugen festzustellen. Hierbei stellt sich heraus, daß ein paar der wichtigsten Zeugen nicht im Be¬ zirk wohnen. Der Staatsanwalt sieht sich also genötigt, nachdem er die Protokolle des Amtsvorstehers zurückerhalten und durchgearbeitet hat, die Akten an den benachbarten Amtsvorsteher zur weitern Zeugenvernehmung zu geben- Sind nun gar die Zeugen oder die Beschuldigten inzwischen weggezogen, oder wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/360>, abgerufen am 05.02.2025.