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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Ta Fontaine und das Glück

und init der sich liebenswürdige dichterische Fiktion zu einem entzückenden Ge¬
samtbilde vereinigt, um so mehr am Platze, je lauter und je selbstbewußter
heute überall die Losung derer erklingt, die von Sclbsteinkehr und Maßhalten
nichts wissen wollen und -- sonderbares Geschlecht -- in dem von ihnen
konstruierten Übermenschen das Ideal menschlicher Vollkommenheit gefunden zu
haben glauben.

Das Ideal eines Menschen war ja der, den seine Zeitgenossen kurzweg
als 1v lionliomiuo bezeichneten, nicht: man könnte ihn eher, wenn man beim
Worte Strick nicht gleich ans Hängen denken will, als eines der liebenswürdigsten,
anspruchlosesten und begabtesten Exemplare dieser vom Pharisäer meist unter¬
schätzten Kategorie ansehen, wie er ja auch in einem Verse, der sich wie ein
Epitaph liest, von sich bescheidnerweise nur sagt:

Seine Gattin, die noch lange keine Xanthippe war, und der er eigentlich
nur Maugel an umgänglichen Wesen vorwerfen konnte, hatte er in Chätecm-
Thierry im Stich gelassen. Ob die bekannte Geschichte wahr ist, daß er, um
sich mit ihr zu versöhnen, nach Chateau-Thierry gefahren und von da, nach
einem mehrtägigen Aufenthalt bei Bekannten, nach Paris zurückgekehrt war,
ohne sie gesprochen zu haben, weil sie, als er nach ihr gefragt hatte, zum
Abendgottesdienst -- 8i>Jut -- gegangen war, mag dahingestellt bleiben. Auch als
guter Wirt und Vater war er ja bekanntlich nicht berühmt, denn er hatte, wie
er selbst zugibt, rniuiAö 8vn toiuls avso son rsvönu, und als er die Bekannt¬
schaft seines erwachsnen Sohnes am dritten Orte machte, war er mit der
Wärme seiner Empfindungen nicht über die Befriedigung darüber hinaus¬
gekommen, daß dieser ein netter Mensch zu sein scheine. Aber abgesehen von
diesen Sonderbarkeiten und von der Unfähigkeit, sich mit den prosaischen An-
forderungen des täglichen Lebens ohne fremden Beistand abzufinden, war er
durchaus ein genügsamer, wohlwollender, mit seinem Lose zufriedner und des¬
halb trotz den sehr bescheidnen Verhältnissen, in denen er lebte, glücklicher Mensch,
Und die Schärfe seiner Beobachtungsgabe, die einen Kenner wie Moliere in
^staunen setzte, hatte, was seine Lebensanschauung anlangte, nur den einen
^'folg, ihn für die menschlichen Schwächen und Irrtümer, die er so deutlich
^l) und so prächtig zu schildern verstand, doppelt nachsichtig zu machen. Nie
^ ein Satiriker von Charakter liebenswürdiger, in der Form feiner und an-
"Ultiger gewesen, nie ist der menschliche" Gesellschaft der Text mit größerer
Neuheit "ut doch mit schoncnderer Rücksicht gelesen worden. Daß ein so ge¬
mäßigter, anspruchsloser, vorurteilsfreier Manu mit dem Glücke weder in der
^Um "och in der andern Gestalt hadern konnte, liegt ja auf der Hand, aber
leine Anschauungen und Wünsche sind, was die Göttin Fortuna und deren
^aben betrifft, so persönlich und dem modernen llbermenschentnm so durchaus
widersprechend, daß man in eine neue Welt zu treten glaubt und sich fragt,


Gnnzbotcn >! 1905 41
Ta Fontaine und das Glück

und init der sich liebenswürdige dichterische Fiktion zu einem entzückenden Ge¬
samtbilde vereinigt, um so mehr am Platze, je lauter und je selbstbewußter
heute überall die Losung derer erklingt, die von Sclbsteinkehr und Maßhalten
nichts wissen wollen und — sonderbares Geschlecht — in dem von ihnen
konstruierten Übermenschen das Ideal menschlicher Vollkommenheit gefunden zu
haben glauben.

Das Ideal eines Menschen war ja der, den seine Zeitgenossen kurzweg
als 1v lionliomiuo bezeichneten, nicht: man könnte ihn eher, wenn man beim
Worte Strick nicht gleich ans Hängen denken will, als eines der liebenswürdigsten,
anspruchlosesten und begabtesten Exemplare dieser vom Pharisäer meist unter¬
schätzten Kategorie ansehen, wie er ja auch in einem Verse, der sich wie ein
Epitaph liest, von sich bescheidnerweise nur sagt:

Seine Gattin, die noch lange keine Xanthippe war, und der er eigentlich
nur Maugel an umgänglichen Wesen vorwerfen konnte, hatte er in Chätecm-
Thierry im Stich gelassen. Ob die bekannte Geschichte wahr ist, daß er, um
sich mit ihr zu versöhnen, nach Chateau-Thierry gefahren und von da, nach
einem mehrtägigen Aufenthalt bei Bekannten, nach Paris zurückgekehrt war,
ohne sie gesprochen zu haben, weil sie, als er nach ihr gefragt hatte, zum
Abendgottesdienst — 8i>Jut — gegangen war, mag dahingestellt bleiben. Auch als
guter Wirt und Vater war er ja bekanntlich nicht berühmt, denn er hatte, wie
er selbst zugibt, rniuiAö 8vn toiuls avso son rsvönu, und als er die Bekannt¬
schaft seines erwachsnen Sohnes am dritten Orte machte, war er mit der
Wärme seiner Empfindungen nicht über die Befriedigung darüber hinaus¬
gekommen, daß dieser ein netter Mensch zu sein scheine. Aber abgesehen von
diesen Sonderbarkeiten und von der Unfähigkeit, sich mit den prosaischen An-
forderungen des täglichen Lebens ohne fremden Beistand abzufinden, war er
durchaus ein genügsamer, wohlwollender, mit seinem Lose zufriedner und des¬
halb trotz den sehr bescheidnen Verhältnissen, in denen er lebte, glücklicher Mensch,
Und die Schärfe seiner Beobachtungsgabe, die einen Kenner wie Moliere in
^staunen setzte, hatte, was seine Lebensanschauung anlangte, nur den einen
^'folg, ihn für die menschlichen Schwächen und Irrtümer, die er so deutlich
^l) und so prächtig zu schildern verstand, doppelt nachsichtig zu machen. Nie
^ ein Satiriker von Charakter liebenswürdiger, in der Form feiner und an-
"Ultiger gewesen, nie ist der menschliche« Gesellschaft der Text mit größerer
Neuheit »ut doch mit schoncnderer Rücksicht gelesen worden. Daß ein so ge¬
mäßigter, anspruchsloser, vorurteilsfreier Manu mit dem Glücke weder in der
^Um „och in der andern Gestalt hadern konnte, liegt ja auf der Hand, aber
leine Anschauungen und Wünsche sind, was die Göttin Fortuna und deren
^aben betrifft, so persönlich und dem modernen llbermenschentnm so durchaus
widersprechend, daß man in eine neue Welt zu treten glaubt und sich fragt,


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[0325] Ta Fontaine und das Glück und init der sich liebenswürdige dichterische Fiktion zu einem entzückenden Ge¬ samtbilde vereinigt, um so mehr am Platze, je lauter und je selbstbewußter heute überall die Losung derer erklingt, die von Sclbsteinkehr und Maßhalten nichts wissen wollen und — sonderbares Geschlecht — in dem von ihnen konstruierten Übermenschen das Ideal menschlicher Vollkommenheit gefunden zu haben glauben. Das Ideal eines Menschen war ja der, den seine Zeitgenossen kurzweg als 1v lionliomiuo bezeichneten, nicht: man könnte ihn eher, wenn man beim Worte Strick nicht gleich ans Hängen denken will, als eines der liebenswürdigsten, anspruchlosesten und begabtesten Exemplare dieser vom Pharisäer meist unter¬ schätzten Kategorie ansehen, wie er ja auch in einem Verse, der sich wie ein Epitaph liest, von sich bescheidnerweise nur sagt: Seine Gattin, die noch lange keine Xanthippe war, und der er eigentlich nur Maugel an umgänglichen Wesen vorwerfen konnte, hatte er in Chätecm- Thierry im Stich gelassen. Ob die bekannte Geschichte wahr ist, daß er, um sich mit ihr zu versöhnen, nach Chateau-Thierry gefahren und von da, nach einem mehrtägigen Aufenthalt bei Bekannten, nach Paris zurückgekehrt war, ohne sie gesprochen zu haben, weil sie, als er nach ihr gefragt hatte, zum Abendgottesdienst — 8i>Jut — gegangen war, mag dahingestellt bleiben. Auch als guter Wirt und Vater war er ja bekanntlich nicht berühmt, denn er hatte, wie er selbst zugibt, rniuiAö 8vn toiuls avso son rsvönu, und als er die Bekannt¬ schaft seines erwachsnen Sohnes am dritten Orte machte, war er mit der Wärme seiner Empfindungen nicht über die Befriedigung darüber hinaus¬ gekommen, daß dieser ein netter Mensch zu sein scheine. Aber abgesehen von diesen Sonderbarkeiten und von der Unfähigkeit, sich mit den prosaischen An- forderungen des täglichen Lebens ohne fremden Beistand abzufinden, war er durchaus ein genügsamer, wohlwollender, mit seinem Lose zufriedner und des¬ halb trotz den sehr bescheidnen Verhältnissen, in denen er lebte, glücklicher Mensch, Und die Schärfe seiner Beobachtungsgabe, die einen Kenner wie Moliere in ^staunen setzte, hatte, was seine Lebensanschauung anlangte, nur den einen ^'folg, ihn für die menschlichen Schwächen und Irrtümer, die er so deutlich ^l) und so prächtig zu schildern verstand, doppelt nachsichtig zu machen. Nie ^ ein Satiriker von Charakter liebenswürdiger, in der Form feiner und an- "Ultiger gewesen, nie ist der menschliche« Gesellschaft der Text mit größerer Neuheit »ut doch mit schoncnderer Rücksicht gelesen worden. Daß ein so ge¬ mäßigter, anspruchsloser, vorurteilsfreier Manu mit dem Glücke weder in der ^Um „och in der andern Gestalt hadern konnte, liegt ja auf der Hand, aber leine Anschauungen und Wünsche sind, was die Göttin Fortuna und deren ^aben betrifft, so persönlich und dem modernen llbermenschentnm so durchaus widersprechend, daß man in eine neue Welt zu treten glaubt und sich fragt, Gnnzbotcn >! 1905 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/325>, abgerufen am 06.02.2025.