Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.saxonica Meinung herabzusetzen beabsichtigt. Zurzeit dürfte es der Sozialdemokratie saxonica Meinung herabzusetzen beabsichtigt. Zurzeit dürfte es der Sozialdemokratie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0300" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297432"/> <fw type="header" place="top"> saxonica</fw><lb/> <p xml:id="ID_1373" prev="#ID_1372" next="#ID_1374"> Meinung herabzusetzen beabsichtigt. Zurzeit dürfte es der Sozialdemokratie<lb/> aber nur erst bei Sachsen gelungen sein, die öffentliche Meinung durch solche<lb/> Behauptungen bis zu einem gewissen Grade zu fälschen. Es wird also unsre<lb/> Aufgabe, jenem Angriff entgegenzutreten, durch diesen Frontwechsel nicht berührt.<lb/> Sieht man sich die Vorwürfe näher an, die die Sozialdemokratie der sächsischen<lb/> Regierung und den sächsischen Stünden auf dem Gebiete der sozialen Frage<lb/> macht, so beruhn sie in nichts geringerm als in der Behauptung, es werde<lb/> in Sachsen jede freiere Regung der Volksseele auf sozialem Gebiete mit rück¬<lb/> sichtsloser Willkür und unter schonungsloser Geltendmachung des Rechts des<lb/> Stärkern unterdrückt, jedem Fortschritt auf diesem Gebiete gewehrt, und alles<lb/> hintangehalten, was eine Besserung der sozialen Lage der untersten Klasse<lb/> herbeizuführen geeignet sei. Sehen wir zu, ob und wieweit solche Anschul¬<lb/> digungen im Lichte objektiver Beurteilung stichhalten. Gleich von dem ersten<lb/> Auftreten der sozialen Bewegung an sind sich in Sachsen Regierung und<lb/> Stände darüber klar gewesen, daß diese Bewegung, wenigstens in der Form,<lb/> in der sie in Deutschland aufgetreten ist, eine Doppelnatur aufweist, indem<lb/> sie zwei Fragen in sich schließt, und zwar zwei Fragen, die nichts weniger<lb/> als untereinander gleichartig sind. Die eine Frage ist die eigentlich soziale,<lb/> und die andre die sozialdemokratische Frage. Die soziale Frage gipfelt in dem<lb/> Bestreben, dem bestehenden sozialen Körper in den gegebnen Verhältnissen,<lb/> d. h. in den Grenzen, die durch die gesamten in unabänderlichen Eigenschaften<lb/> des Menschen und der Gesellschaft begründeten Verhältnissen gezogen sind, eine<lb/> gerechtere Zusammensetzung insbesondre durch Hebung der Lage des Arbeiter¬<lb/> standes zu geben. Es bedarf keines Wortes, daß diese Frage und die sich an<lb/> sie knüpfenden Bestrebungen nicht bloß berechtigt, sondern die wichtigsten der<lb/> Gegenwart sind, und daß sie darum in allen Beziehungen Förderung verdienen.<lb/> Der sozialen Frage steht die sozialdemokratische Frage gegenüber. Diese hat<lb/> mit jener nichts weiter gemein, als daß sie beide sachlich und geschichtlich ihren<lb/> Allsgang von dem Bestreben nach Besserung der Lage des Arbeiterstandes ge¬<lb/> nommen haben. In allen übrigen Beziehungen sind diese Fragen total von¬<lb/> einander verschieden. Die sozialdemokratische Frage beschränkt sich nicht wie<lb/> die soziale auf den Arbeiterstand und seine Lage, sondern erstrebt auf Grund<lb/> eines besonder» Gesellschaftsideals die Reform der gesamten Gesellschaft, den<lb/> Arbeiter und alle sonstigen Leute eingeschlossen, und auch diese nicht in<lb/> einem bestimmten Staate oder einer bestimmten Gesellschaft, sondern in der<lb/> gesamten Menschheit, ohne alle Rücksicht auf staatliche oder nationale Ver¬<lb/> schiedenheiten. Dieses Gesellschaftsideal aber ist kein andres als das kosmo¬<lb/> politisch-kommunistische, das als Phantom in den Köpfen der Menschheit spukt,<lb/> solange es eine Gesellschaft gibt. Ebenso utopisch und nach Jahrtausenden der<lb/> Möglichkeit seiner Verwirklichung ebenso fern, wie es am ersten Tage seines<lb/> Auftretens war, wird es aber bei der sozialdemokratischen Lehre und im<lb/> Programm dieser Partei mit einem neuen angeblich wissenschaftlichen Müntelchen<lb/> umhängt: man vertauscht die Bezeichnung „Kommunismus" mit „Vergesell¬<lb/> schaftung des Eigentums oder der Produktionsmittel" oder auch mit „Kollek¬<lb/> tivismus," die Bezeichnung „Kosmopolitismus" aber mit „Internationalismus"</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0300]
saxonica
Meinung herabzusetzen beabsichtigt. Zurzeit dürfte es der Sozialdemokratie
aber nur erst bei Sachsen gelungen sein, die öffentliche Meinung durch solche
Behauptungen bis zu einem gewissen Grade zu fälschen. Es wird also unsre
Aufgabe, jenem Angriff entgegenzutreten, durch diesen Frontwechsel nicht berührt.
Sieht man sich die Vorwürfe näher an, die die Sozialdemokratie der sächsischen
Regierung und den sächsischen Stünden auf dem Gebiete der sozialen Frage
macht, so beruhn sie in nichts geringerm als in der Behauptung, es werde
in Sachsen jede freiere Regung der Volksseele auf sozialem Gebiete mit rück¬
sichtsloser Willkür und unter schonungsloser Geltendmachung des Rechts des
Stärkern unterdrückt, jedem Fortschritt auf diesem Gebiete gewehrt, und alles
hintangehalten, was eine Besserung der sozialen Lage der untersten Klasse
herbeizuführen geeignet sei. Sehen wir zu, ob und wieweit solche Anschul¬
digungen im Lichte objektiver Beurteilung stichhalten. Gleich von dem ersten
Auftreten der sozialen Bewegung an sind sich in Sachsen Regierung und
Stände darüber klar gewesen, daß diese Bewegung, wenigstens in der Form,
in der sie in Deutschland aufgetreten ist, eine Doppelnatur aufweist, indem
sie zwei Fragen in sich schließt, und zwar zwei Fragen, die nichts weniger
als untereinander gleichartig sind. Die eine Frage ist die eigentlich soziale,
und die andre die sozialdemokratische Frage. Die soziale Frage gipfelt in dem
Bestreben, dem bestehenden sozialen Körper in den gegebnen Verhältnissen,
d. h. in den Grenzen, die durch die gesamten in unabänderlichen Eigenschaften
des Menschen und der Gesellschaft begründeten Verhältnissen gezogen sind, eine
gerechtere Zusammensetzung insbesondre durch Hebung der Lage des Arbeiter¬
standes zu geben. Es bedarf keines Wortes, daß diese Frage und die sich an
sie knüpfenden Bestrebungen nicht bloß berechtigt, sondern die wichtigsten der
Gegenwart sind, und daß sie darum in allen Beziehungen Förderung verdienen.
Der sozialen Frage steht die sozialdemokratische Frage gegenüber. Diese hat
mit jener nichts weiter gemein, als daß sie beide sachlich und geschichtlich ihren
Allsgang von dem Bestreben nach Besserung der Lage des Arbeiterstandes ge¬
nommen haben. In allen übrigen Beziehungen sind diese Fragen total von¬
einander verschieden. Die sozialdemokratische Frage beschränkt sich nicht wie
die soziale auf den Arbeiterstand und seine Lage, sondern erstrebt auf Grund
eines besonder» Gesellschaftsideals die Reform der gesamten Gesellschaft, den
Arbeiter und alle sonstigen Leute eingeschlossen, und auch diese nicht in
einem bestimmten Staate oder einer bestimmten Gesellschaft, sondern in der
gesamten Menschheit, ohne alle Rücksicht auf staatliche oder nationale Ver¬
schiedenheiten. Dieses Gesellschaftsideal aber ist kein andres als das kosmo¬
politisch-kommunistische, das als Phantom in den Köpfen der Menschheit spukt,
solange es eine Gesellschaft gibt. Ebenso utopisch und nach Jahrtausenden der
Möglichkeit seiner Verwirklichung ebenso fern, wie es am ersten Tage seines
Auftretens war, wird es aber bei der sozialdemokratischen Lehre und im
Programm dieser Partei mit einem neuen angeblich wissenschaftlichen Müntelchen
umhängt: man vertauscht die Bezeichnung „Kommunismus" mit „Vergesell¬
schaftung des Eigentums oder der Produktionsmittel" oder auch mit „Kollek¬
tivismus," die Bezeichnung „Kosmopolitismus" aber mit „Internationalismus"
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