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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Der Dichterphilosoph des deutschen Volkes

Dose" --, und es ist nun merkwürdig, zu sehen, wie nahe die Erbauung durch
Schiller der durch die christliche Religion kommt. Seine Liebestheosophie ist
die des Neuen Testaments und des Dichters der Scholastik: 1/^.nor viro nuovo
it fois s 1'Mrs 8tsIIö, schließt die göttliche Komödie.

das ist die Psychologie von Römer 8, 15 bis 17; Galater 4, 1 bis 7;
1. Johannes 4, 16 bis 5, 3. Und wenn es irgendwo und irgendwann einmal
ästhetische Volkserziehung gegeben hat, so ist es die durch das Christentum ge¬
wesen. Jesus ist die edelste Gestalt der Weltgeschichte. Seine Lehrvorträge,
seiue Gleichnisse, seine Sprüche, einzelne Kapitel der Paulinischen Briefe wie das
13. und das 15. des 1. Korintherbriefes, einzelne Erzählungen wie die Ge¬
schichten von Jesu und seines Vorläufers Geburt, von den Reisen Pauli, die
Leidensgeschichte sind reinste Poesie. Der christliche Heiligenhimmel kann es
mit dem griechischen Olymp Wohl aufnehmen, dessen Untergang Schiller im
schwächsten Augenblicke seines Lebens so bitterlich beklagt hat. Die Kirche ist
die Schöpferin einer neuen Kunst, die sich vor der Antike nicht zu schämen
braucht. Nur in der Plastik bleibt sie hinter dieser zurück, aus Gründen, die
wir hier nicht erörtern können; in der Architektur und in der Malerei hat sie
sich reicher entfaltet und Höheres geleistet; von der Musik der Alten wissen wir
zu wenig, daß wir sie beurteilen könnten, aber wir dürfen sie uns armselig vor¬
stellen, verglichen mit den Kompositionen von Palestrina, Bach, Haydn, Mozart
und Beethoven und mit der heutigen reichen Jnstrumentation. Die Königin
der Instrumente, die Orgel, ist ausschließliches Eigentum des christlichen Kultus.
Was aber die Dichtkunst anbetrifft -- wäre ein Schiller möglich gewesen ohne
die philosophischen und ästhetischen Anregungen, die vom Christentum ausgehn,
ohne den unbewußt eingesognen reinen und erhabnen Geist des Christentums
und sogar ohne einzelne bestimmte historische Verkörperungen, die Schiller gar
wohl zu schätzen und zu verwenden verstanden hat? Es gehört zu den schönsten
Triumphen des Christentunis, daß in einer Zeit, wo es kraftlos geworden war
und dem Absterben nahe zu sein schien, wo es namentlich keinen ästhetischen
Eindruck mehr machte, ein von ihm nur aus der Ferne beeinflußter reiner und
edler Geist aus sich selbst eine Philosophie erzeugte und in der gewinnenden,
eindringlichen Form poetischer Meisterwerke lehrte, die den wesentlichen Gehalt
des Christentums wiedergab. Freilich bleibt zwischen beiden ein Unterschied,
der sich hie und da als ein Mangel bemerkbar macht. Namentlich in dem
wunderbarsten der philosophischen Lehrgedichte. Wer würde an ihm nicht immer
aufs neue bewundern: die Großartigkeit der Komposition, den tiefen und reichen
Philosophischen Inhalt, die meisterhafte Durchführung jedes einzelnen Gedankens
und die meisterhafte Ausmalung jedes einzelnen Bildes! Aber der ursprüng¬
liche Titel: Das Reich der Schatten, erinnert uns daran, daß "die Gestalt,"


Der Dichterphilosoph des deutschen Volkes

Dose» —, und es ist nun merkwürdig, zu sehen, wie nahe die Erbauung durch
Schiller der durch die christliche Religion kommt. Seine Liebestheosophie ist
die des Neuen Testaments und des Dichters der Scholastik: 1/^.nor viro nuovo
it fois s 1'Mrs 8tsIIö, schließt die göttliche Komödie.

das ist die Psychologie von Römer 8, 15 bis 17; Galater 4, 1 bis 7;
1. Johannes 4, 16 bis 5, 3. Und wenn es irgendwo und irgendwann einmal
ästhetische Volkserziehung gegeben hat, so ist es die durch das Christentum ge¬
wesen. Jesus ist die edelste Gestalt der Weltgeschichte. Seine Lehrvorträge,
seiue Gleichnisse, seine Sprüche, einzelne Kapitel der Paulinischen Briefe wie das
13. und das 15. des 1. Korintherbriefes, einzelne Erzählungen wie die Ge¬
schichten von Jesu und seines Vorläufers Geburt, von den Reisen Pauli, die
Leidensgeschichte sind reinste Poesie. Der christliche Heiligenhimmel kann es
mit dem griechischen Olymp Wohl aufnehmen, dessen Untergang Schiller im
schwächsten Augenblicke seines Lebens so bitterlich beklagt hat. Die Kirche ist
die Schöpferin einer neuen Kunst, die sich vor der Antike nicht zu schämen
braucht. Nur in der Plastik bleibt sie hinter dieser zurück, aus Gründen, die
wir hier nicht erörtern können; in der Architektur und in der Malerei hat sie
sich reicher entfaltet und Höheres geleistet; von der Musik der Alten wissen wir
zu wenig, daß wir sie beurteilen könnten, aber wir dürfen sie uns armselig vor¬
stellen, verglichen mit den Kompositionen von Palestrina, Bach, Haydn, Mozart
und Beethoven und mit der heutigen reichen Jnstrumentation. Die Königin
der Instrumente, die Orgel, ist ausschließliches Eigentum des christlichen Kultus.
Was aber die Dichtkunst anbetrifft — wäre ein Schiller möglich gewesen ohne
die philosophischen und ästhetischen Anregungen, die vom Christentum ausgehn,
ohne den unbewußt eingesognen reinen und erhabnen Geist des Christentums
und sogar ohne einzelne bestimmte historische Verkörperungen, die Schiller gar
wohl zu schätzen und zu verwenden verstanden hat? Es gehört zu den schönsten
Triumphen des Christentunis, daß in einer Zeit, wo es kraftlos geworden war
und dem Absterben nahe zu sein schien, wo es namentlich keinen ästhetischen
Eindruck mehr machte, ein von ihm nur aus der Ferne beeinflußter reiner und
edler Geist aus sich selbst eine Philosophie erzeugte und in der gewinnenden,
eindringlichen Form poetischer Meisterwerke lehrte, die den wesentlichen Gehalt
des Christentums wiedergab. Freilich bleibt zwischen beiden ein Unterschied,
der sich hie und da als ein Mangel bemerkbar macht. Namentlich in dem
wunderbarsten der philosophischen Lehrgedichte. Wer würde an ihm nicht immer
aufs neue bewundern: die Großartigkeit der Komposition, den tiefen und reichen
Philosophischen Inhalt, die meisterhafte Durchführung jedes einzelnen Gedankens
und die meisterhafte Ausmalung jedes einzelnen Bildes! Aber der ursprüng¬
liche Titel: Das Reich der Schatten, erinnert uns daran, daß „die Gestalt,"


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[0256] Der Dichterphilosoph des deutschen Volkes Dose» —, und es ist nun merkwürdig, zu sehen, wie nahe die Erbauung durch Schiller der durch die christliche Religion kommt. Seine Liebestheosophie ist die des Neuen Testaments und des Dichters der Scholastik: 1/^.nor viro nuovo it fois s 1'Mrs 8tsIIö, schließt die göttliche Komödie. das ist die Psychologie von Römer 8, 15 bis 17; Galater 4, 1 bis 7; 1. Johannes 4, 16 bis 5, 3. Und wenn es irgendwo und irgendwann einmal ästhetische Volkserziehung gegeben hat, so ist es die durch das Christentum ge¬ wesen. Jesus ist die edelste Gestalt der Weltgeschichte. Seine Lehrvorträge, seiue Gleichnisse, seine Sprüche, einzelne Kapitel der Paulinischen Briefe wie das 13. und das 15. des 1. Korintherbriefes, einzelne Erzählungen wie die Ge¬ schichten von Jesu und seines Vorläufers Geburt, von den Reisen Pauli, die Leidensgeschichte sind reinste Poesie. Der christliche Heiligenhimmel kann es mit dem griechischen Olymp Wohl aufnehmen, dessen Untergang Schiller im schwächsten Augenblicke seines Lebens so bitterlich beklagt hat. Die Kirche ist die Schöpferin einer neuen Kunst, die sich vor der Antike nicht zu schämen braucht. Nur in der Plastik bleibt sie hinter dieser zurück, aus Gründen, die wir hier nicht erörtern können; in der Architektur und in der Malerei hat sie sich reicher entfaltet und Höheres geleistet; von der Musik der Alten wissen wir zu wenig, daß wir sie beurteilen könnten, aber wir dürfen sie uns armselig vor¬ stellen, verglichen mit den Kompositionen von Palestrina, Bach, Haydn, Mozart und Beethoven und mit der heutigen reichen Jnstrumentation. Die Königin der Instrumente, die Orgel, ist ausschließliches Eigentum des christlichen Kultus. Was aber die Dichtkunst anbetrifft — wäre ein Schiller möglich gewesen ohne die philosophischen und ästhetischen Anregungen, die vom Christentum ausgehn, ohne den unbewußt eingesognen reinen und erhabnen Geist des Christentums und sogar ohne einzelne bestimmte historische Verkörperungen, die Schiller gar wohl zu schätzen und zu verwenden verstanden hat? Es gehört zu den schönsten Triumphen des Christentunis, daß in einer Zeit, wo es kraftlos geworden war und dem Absterben nahe zu sein schien, wo es namentlich keinen ästhetischen Eindruck mehr machte, ein von ihm nur aus der Ferne beeinflußter reiner und edler Geist aus sich selbst eine Philosophie erzeugte und in der gewinnenden, eindringlichen Form poetischer Meisterwerke lehrte, die den wesentlichen Gehalt des Christentums wiedergab. Freilich bleibt zwischen beiden ein Unterschied, der sich hie und da als ein Mangel bemerkbar macht. Namentlich in dem wunderbarsten der philosophischen Lehrgedichte. Wer würde an ihm nicht immer aufs neue bewundern: die Großartigkeit der Komposition, den tiefen und reichen Philosophischen Inhalt, die meisterhafte Durchführung jedes einzelnen Gedankens und die meisterhafte Ausmalung jedes einzelnen Bildes! Aber der ursprüng¬ liche Titel: Das Reich der Schatten, erinnert uns daran, daß „die Gestalt,"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/256>, abgerufen am 05.02.2025.