Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Amerikanische 5trafrechtspstege in der Gosse aufgelesen hat, als "Bürger und Bürgerinnen" sich selbst, und Bei den Schatten zu verweilen, die das lichte Bild bedrohen, hatte Amerikanische 5trafrechtspstege in der Gosse aufgelesen hat, als „Bürger und Bürgerinnen" sich selbst, und Bei den Schatten zu verweilen, die das lichte Bild bedrohen, hatte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0206" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297338"/> <fw type="header" place="top"> Amerikanische 5trafrechtspstege</fw><lb/> <p xml:id="ID_900" prev="#ID_899"> in der Gosse aufgelesen hat, als „Bürger und Bürgerinnen" sich selbst, und<lb/> zwar vortrefflich, wie Hintrager versichert. Sie lernen, ganz allein dnrch<lb/> eigne Erfahrung, arbeiten, Reinlichkeit, Gerechtigkeit, Verantwortung gegen<lb/> die Gesellschaft, der sie angehören. Und es ist nicht bloß eine äußerliche<lb/> Gesetzlichkeit, wie sie anch die Mitglieder einer Räuberbande innerhalb ihres<lb/> Kreises zu üben sich gewöhnen, das Herz der Kinder wird gesund, wie der<lb/> Fabrikant Osborne versicherte, der den deutscheu Amtsrichter eingeladen hatte<lb/> und ihn umherführte.</p><lb/> <p xml:id="ID_901"> Bei den Schatten zu verweilen, die das lichte Bild bedrohen, hatte<lb/> Hintrager keine Veranlassung. In den dichter bevölkerten Staaten ist die<lb/> Zeit des bequemen Raubbaus vorüber. Der Farmer fängt an, über Ver¬<lb/> schuldung und Steuerlast zu seufzen. Die industriellen Großstädte des Ostens<lb/> und der Mitte fließen über von dem Proletarierelend der Alten Welt, das<lb/> durch keine durchgreifende Sozialgesetzgebung gemildert und durch die herrschende<lb/> Korruption, die doch wohl über den Spaß geht, verschlimmert wird. Die<lb/> hohe Stellung der Frau hat gewiß das ganze Volk sittlich gehoben, aber der<lb/> dadurch erstarkte weibliche Unabhüngigkeitsgeist trügt ohne Zweifel die Haupt¬<lb/> schuld an den zahllosen leichtsinnigen Ehescheidungen, von denen der Präsi¬<lb/> dent Roosevelt bekannt hat, daß sie, zusammen mit der Abnahme der Ge¬<lb/> burten, eine noch bedenklichere Erscheinung seien als die Trusts. Die Ladies<lb/> mögen sich die Beschwerden und Unschönheiten der Schwangerschaft nicht mehr<lb/> gefallen lassen, und die Arbeiterschaft huldigt, um Not abzuwehren, dem Neo-<lb/> malthusianismus. Daß namentlich für die Einwandrer das Leben kein Spaß<lb/> mehr ist, lernt man aus des Regierungsrat Alfred Kolb Buch: „Als<lb/> Arbeiter in Amerika." Unter deutsch-amerikanischen Großstadtproletariern<lb/> (Berlin, Karl Siegismund, 1904). Die Leser werden ja alle das Buch aus<lb/> Zeitungsberichten kennen; sie sollten es aber selbst zur Hand nehmen, man<lb/> lernt sehr viel daraus. Falls es noch Leute gibt, die glauben, daß es die<lb/> ausgezeichnete republikanische Staatsverfassung sei, die Amerika glücklich mache,<lb/> wird ihnen Kolb den Star stechen. Auf der dortigen Naturgrundlage mußten<lb/> die Kolonisten bei jeder und konnten sie ohne alle Verfassung gedeihn. Es<lb/> hat sogar ein hoher Grad vom Gegenteil der Weisheit dazu gehört, euro¬<lb/> päisches Jndustriearbeiterelend mit allem Zubehör von Kinderausbeutung,<lb/> Arbeitlosigkeit, Schmutz und Laster zu erzeugen schon in einer Zeit, wo noch<lb/> lange nicht die Hälfte des Bodens angebaut ist. Mag nun aber auch die<lb/> glückliche Zeit vorüber sein, von den Kulturfrüchten, die diese glückliche Zeit<lb/> gereift hat, brauchen nicht alle zugrunde zu gehn, könnten einige nicht allein<lb/> drüben erhalten bleiben, sondern auch in unsre Heimat verpflanzt werden.<lb/> Zu ihnen rechnen wir die frei von Vorurteilen, politischen und Schultraditionen<lb/> entstandne ebenso praktische wie humane Strafrechtspflege.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0206]
Amerikanische 5trafrechtspstege
in der Gosse aufgelesen hat, als „Bürger und Bürgerinnen" sich selbst, und
zwar vortrefflich, wie Hintrager versichert. Sie lernen, ganz allein dnrch
eigne Erfahrung, arbeiten, Reinlichkeit, Gerechtigkeit, Verantwortung gegen
die Gesellschaft, der sie angehören. Und es ist nicht bloß eine äußerliche
Gesetzlichkeit, wie sie anch die Mitglieder einer Räuberbande innerhalb ihres
Kreises zu üben sich gewöhnen, das Herz der Kinder wird gesund, wie der
Fabrikant Osborne versicherte, der den deutscheu Amtsrichter eingeladen hatte
und ihn umherführte.
Bei den Schatten zu verweilen, die das lichte Bild bedrohen, hatte
Hintrager keine Veranlassung. In den dichter bevölkerten Staaten ist die
Zeit des bequemen Raubbaus vorüber. Der Farmer fängt an, über Ver¬
schuldung und Steuerlast zu seufzen. Die industriellen Großstädte des Ostens
und der Mitte fließen über von dem Proletarierelend der Alten Welt, das
durch keine durchgreifende Sozialgesetzgebung gemildert und durch die herrschende
Korruption, die doch wohl über den Spaß geht, verschlimmert wird. Die
hohe Stellung der Frau hat gewiß das ganze Volk sittlich gehoben, aber der
dadurch erstarkte weibliche Unabhüngigkeitsgeist trügt ohne Zweifel die Haupt¬
schuld an den zahllosen leichtsinnigen Ehescheidungen, von denen der Präsi¬
dent Roosevelt bekannt hat, daß sie, zusammen mit der Abnahme der Ge¬
burten, eine noch bedenklichere Erscheinung seien als die Trusts. Die Ladies
mögen sich die Beschwerden und Unschönheiten der Schwangerschaft nicht mehr
gefallen lassen, und die Arbeiterschaft huldigt, um Not abzuwehren, dem Neo-
malthusianismus. Daß namentlich für die Einwandrer das Leben kein Spaß
mehr ist, lernt man aus des Regierungsrat Alfred Kolb Buch: „Als
Arbeiter in Amerika." Unter deutsch-amerikanischen Großstadtproletariern
(Berlin, Karl Siegismund, 1904). Die Leser werden ja alle das Buch aus
Zeitungsberichten kennen; sie sollten es aber selbst zur Hand nehmen, man
lernt sehr viel daraus. Falls es noch Leute gibt, die glauben, daß es die
ausgezeichnete republikanische Staatsverfassung sei, die Amerika glücklich mache,
wird ihnen Kolb den Star stechen. Auf der dortigen Naturgrundlage mußten
die Kolonisten bei jeder und konnten sie ohne alle Verfassung gedeihn. Es
hat sogar ein hoher Grad vom Gegenteil der Weisheit dazu gehört, euro¬
päisches Jndustriearbeiterelend mit allem Zubehör von Kinderausbeutung,
Arbeitlosigkeit, Schmutz und Laster zu erzeugen schon in einer Zeit, wo noch
lange nicht die Hälfte des Bodens angebaut ist. Mag nun aber auch die
glückliche Zeit vorüber sein, von den Kulturfrüchten, die diese glückliche Zeit
gereift hat, brauchen nicht alle zugrunde zu gehn, könnten einige nicht allein
drüben erhalten bleiben, sondern auch in unsre Heimat verpflanzt werden.
Zu ihnen rechnen wir die frei von Vorurteilen, politischen und Schultraditionen
entstandne ebenso praktische wie humane Strafrechtspflege.
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