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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Der Kampf um die Adria

oder, war diese anders nicht zu erreichen, auf der Herrschaft über sie beruhte
im letzten Grunde Venedigs Stellung als europäische Großmacht und als erste
Handelsmacht des Mittelalters. Und bisher hat noch jedes Volk und jede
Gemeinschaft das gute Recht gehabt, auf welche Weise auch immer die Eigen¬
schaften und Fähigkeiten, die ihm mitgegeben sind, zur vollen und reifen Aus¬
wirkung zu bringen. Darin liegt ihre Leistung für die Entwicklung der
Menschheit.

Wenn nun neuerdings, wie oben gezeigt worden ist, Italien gewissermaßen
als Rechtsnachfolger Venedigs und an dessen Traditionen anknüpfend die
venezianische Politik wieder aufnimmt und begehrliche Blicke nach der Ostküste
der Adria hinüberwirft, so ist doch das Maß innerer Berechtigung dazu um
vieles geringer, als es für Venedig gewesen war. Venedig kämpfte für seine
Existenz, als es verhinderte, daß es in der Adria eingeschlossen würde, und
selbst deshalb Herr der Adria zu werden suchte; für das geeinte Italien ist
eine solche Gefahr außer allem Betracht: es hat kein eroberndes Hinübergreifen
von der Ost- zur Westküste der Adria und keine Absperrung in der Adria selbst
zu befürchten, und auch wenn dieser unglaubliche Fall einträte, so stünde ihm
immer noch nach zwei Seiten hin das Mittelmeer offen. Ganz anders liegt
die Frage für Österreich-Ungarn. Die Lage des Habsburgischen Kaiser¬
staats in dem Wettstreit der Gegenwart um die Adria entspricht durchaus der
Venedigs in der mittelalterlichen Phase der Adriafrage: ganz wie Venedig muß
er mit allen Mitteln zu verhindern suchen, daß beide Küsten, wenn auch die
eine zunächst nur strichweise, in einer Hand vereinigt werden. Die albanesische
Küste im Besitz Italiens würde Österreich-Ungarn der Gefahr aussetzen, deren
Bekämpfung die ganze Adriapolitik Venedigs gewidmet war, der Gefahr, vom
Mittelmeer ausgeschlossen zu werden, den einzigen Zugang zum Mittelmeere,
den es hat, zu verlieren.

So ergibt sich die denkwürdige Tatsache, daß gerade die Geschichte eines
italienischen Staats, des Staats, dessen Politik sich das moderne Italien
scheinbar zum Vorbilde genommen hat, die Berechtigung des österreichisch-
ungarischen Standpunkts erweisen muß. Nicht Italien, sondern Österreich-
Ungarn hat den Grundgedanken der venezianischen Politik zu seinem eignen
gemacht, zu seinem eignen machen müssen.

Und wenn Italien mit Eifersucht und Besorgnis der Ausdehnung Öster¬
reich-Ungarns auf der Balkan Halbinsel zuschaut, es dem umstrittncn Albanien
immer näher rücken sieht, dann darf es eins nicht vergessen: nicht Italien oder
ein italienischer Staat, sondern Ungarn und nach dessen Fall Österreich ist die
Schutzmauer Europas gegen das Osmanentum gewesen. Es nimmt jetzt seinen
Lohn dahin, indem es zu den bevorzugten Erben des "kranken Mannes" gehört.
Daß sich ein italienischer Staat, daß sich Venedig König Sigmund von Ungarn
im Kampfe gegen die Türken versagte zu einer Zeit, wo es noch möglich
war, sie aus Europa auszuschließen, das hat Ungarn -- und dann Öster¬
reich -- notgedrungen, mit vorübergehender Aufgebung seiner Stellung an der
Adria, in jene östlichen Bahnen gelenkt.

Das Aufkommen der osmanischen Herrschaft auf der Balkanhalbinsel hat


Der Kampf um die Adria

oder, war diese anders nicht zu erreichen, auf der Herrschaft über sie beruhte
im letzten Grunde Venedigs Stellung als europäische Großmacht und als erste
Handelsmacht des Mittelalters. Und bisher hat noch jedes Volk und jede
Gemeinschaft das gute Recht gehabt, auf welche Weise auch immer die Eigen¬
schaften und Fähigkeiten, die ihm mitgegeben sind, zur vollen und reifen Aus¬
wirkung zu bringen. Darin liegt ihre Leistung für die Entwicklung der
Menschheit.

Wenn nun neuerdings, wie oben gezeigt worden ist, Italien gewissermaßen
als Rechtsnachfolger Venedigs und an dessen Traditionen anknüpfend die
venezianische Politik wieder aufnimmt und begehrliche Blicke nach der Ostküste
der Adria hinüberwirft, so ist doch das Maß innerer Berechtigung dazu um
vieles geringer, als es für Venedig gewesen war. Venedig kämpfte für seine
Existenz, als es verhinderte, daß es in der Adria eingeschlossen würde, und
selbst deshalb Herr der Adria zu werden suchte; für das geeinte Italien ist
eine solche Gefahr außer allem Betracht: es hat kein eroberndes Hinübergreifen
von der Ost- zur Westküste der Adria und keine Absperrung in der Adria selbst
zu befürchten, und auch wenn dieser unglaubliche Fall einträte, so stünde ihm
immer noch nach zwei Seiten hin das Mittelmeer offen. Ganz anders liegt
die Frage für Österreich-Ungarn. Die Lage des Habsburgischen Kaiser¬
staats in dem Wettstreit der Gegenwart um die Adria entspricht durchaus der
Venedigs in der mittelalterlichen Phase der Adriafrage: ganz wie Venedig muß
er mit allen Mitteln zu verhindern suchen, daß beide Küsten, wenn auch die
eine zunächst nur strichweise, in einer Hand vereinigt werden. Die albanesische
Küste im Besitz Italiens würde Österreich-Ungarn der Gefahr aussetzen, deren
Bekämpfung die ganze Adriapolitik Venedigs gewidmet war, der Gefahr, vom
Mittelmeer ausgeschlossen zu werden, den einzigen Zugang zum Mittelmeere,
den es hat, zu verlieren.

So ergibt sich die denkwürdige Tatsache, daß gerade die Geschichte eines
italienischen Staats, des Staats, dessen Politik sich das moderne Italien
scheinbar zum Vorbilde genommen hat, die Berechtigung des österreichisch-
ungarischen Standpunkts erweisen muß. Nicht Italien, sondern Österreich-
Ungarn hat den Grundgedanken der venezianischen Politik zu seinem eignen
gemacht, zu seinem eignen machen müssen.

Und wenn Italien mit Eifersucht und Besorgnis der Ausdehnung Öster¬
reich-Ungarns auf der Balkan Halbinsel zuschaut, es dem umstrittncn Albanien
immer näher rücken sieht, dann darf es eins nicht vergessen: nicht Italien oder
ein italienischer Staat, sondern Ungarn und nach dessen Fall Österreich ist die
Schutzmauer Europas gegen das Osmanentum gewesen. Es nimmt jetzt seinen
Lohn dahin, indem es zu den bevorzugten Erben des „kranken Mannes" gehört.
Daß sich ein italienischer Staat, daß sich Venedig König Sigmund von Ungarn
im Kampfe gegen die Türken versagte zu einer Zeit, wo es noch möglich
war, sie aus Europa auszuschließen, das hat Ungarn — und dann Öster¬
reich — notgedrungen, mit vorübergehender Aufgebung seiner Stellung an der
Adria, in jene östlichen Bahnen gelenkt.

Das Aufkommen der osmanischen Herrschaft auf der Balkanhalbinsel hat


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[0194] Der Kampf um die Adria oder, war diese anders nicht zu erreichen, auf der Herrschaft über sie beruhte im letzten Grunde Venedigs Stellung als europäische Großmacht und als erste Handelsmacht des Mittelalters. Und bisher hat noch jedes Volk und jede Gemeinschaft das gute Recht gehabt, auf welche Weise auch immer die Eigen¬ schaften und Fähigkeiten, die ihm mitgegeben sind, zur vollen und reifen Aus¬ wirkung zu bringen. Darin liegt ihre Leistung für die Entwicklung der Menschheit. Wenn nun neuerdings, wie oben gezeigt worden ist, Italien gewissermaßen als Rechtsnachfolger Venedigs und an dessen Traditionen anknüpfend die venezianische Politik wieder aufnimmt und begehrliche Blicke nach der Ostküste der Adria hinüberwirft, so ist doch das Maß innerer Berechtigung dazu um vieles geringer, als es für Venedig gewesen war. Venedig kämpfte für seine Existenz, als es verhinderte, daß es in der Adria eingeschlossen würde, und selbst deshalb Herr der Adria zu werden suchte; für das geeinte Italien ist eine solche Gefahr außer allem Betracht: es hat kein eroberndes Hinübergreifen von der Ost- zur Westküste der Adria und keine Absperrung in der Adria selbst zu befürchten, und auch wenn dieser unglaubliche Fall einträte, so stünde ihm immer noch nach zwei Seiten hin das Mittelmeer offen. Ganz anders liegt die Frage für Österreich-Ungarn. Die Lage des Habsburgischen Kaiser¬ staats in dem Wettstreit der Gegenwart um die Adria entspricht durchaus der Venedigs in der mittelalterlichen Phase der Adriafrage: ganz wie Venedig muß er mit allen Mitteln zu verhindern suchen, daß beide Küsten, wenn auch die eine zunächst nur strichweise, in einer Hand vereinigt werden. Die albanesische Küste im Besitz Italiens würde Österreich-Ungarn der Gefahr aussetzen, deren Bekämpfung die ganze Adriapolitik Venedigs gewidmet war, der Gefahr, vom Mittelmeer ausgeschlossen zu werden, den einzigen Zugang zum Mittelmeere, den es hat, zu verlieren. So ergibt sich die denkwürdige Tatsache, daß gerade die Geschichte eines italienischen Staats, des Staats, dessen Politik sich das moderne Italien scheinbar zum Vorbilde genommen hat, die Berechtigung des österreichisch- ungarischen Standpunkts erweisen muß. Nicht Italien, sondern Österreich- Ungarn hat den Grundgedanken der venezianischen Politik zu seinem eignen gemacht, zu seinem eignen machen müssen. Und wenn Italien mit Eifersucht und Besorgnis der Ausdehnung Öster¬ reich-Ungarns auf der Balkan Halbinsel zuschaut, es dem umstrittncn Albanien immer näher rücken sieht, dann darf es eins nicht vergessen: nicht Italien oder ein italienischer Staat, sondern Ungarn und nach dessen Fall Österreich ist die Schutzmauer Europas gegen das Osmanentum gewesen. Es nimmt jetzt seinen Lohn dahin, indem es zu den bevorzugten Erben des „kranken Mannes" gehört. Daß sich ein italienischer Staat, daß sich Venedig König Sigmund von Ungarn im Kampfe gegen die Türken versagte zu einer Zeit, wo es noch möglich war, sie aus Europa auszuschließen, das hat Ungarn — und dann Öster¬ reich — notgedrungen, mit vorübergehender Aufgebung seiner Stellung an der Adria, in jene östlichen Bahnen gelenkt. Das Aufkommen der osmanischen Herrschaft auf der Balkanhalbinsel hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/194>, abgerufen am 05.02.2025.