Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Loening in Frankfurt am Main erschienen, liegen uns vor. Die kleine Studie: Maßgebliches und Unmaßgebliches Loening in Frankfurt am Main erschienen, liegen uns vor. Die kleine Studie: <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0178" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297310"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_794" prev="#ID_793" next="#ID_795"> Loening in Frankfurt am Main erschienen, liegen uns vor. Die kleine Studie:<lb/> Der moderne Idealismus und Rußland stellt nach einer psychologisch-meta¬<lb/> physischen Einleitung die russische Ikonographie der Malerei der italienischen Re¬<lb/> naissance gegenüber und charakterisiert die Vertreter des russischen und des west¬<lb/> europäischen Dekadententunis; Nietzsche und Ibsen werden als die „Kolosse der<lb/> Dekadenz" gefeiert. Das Buch vom großen Zorn analysiert drei Romane<lb/> Dostojewskis: Die Teufel, Schuld und Sühne (Raskolnikow) und der Idiot. (Den<lb/> im Grenzbotenverlag deutsch erschienenen Brüdern Karamasow hat er ein eignes<lb/> Buch gewidmet, dessen deutsche Ausgabe vorbereitet wird.) Wer nicht Zeit oder Lust<lb/> hat, die Romane Dostojewskis zu lesen, findet hier die ganze Galerie der phan¬<lb/> tastischen, hysterischen, zum Teil wahnsinnigen Gestalten des heute weniger oft<lb/> genannten der beiden großen wunderlichen Heiligen des modernen Rußland in<lb/> interessanter Beleuchtung beisammen. Dostojewski hat in den „Teufeln" alle Reform-<lb/> bestrebungen und namentlich den Nihilismus als unrussische Verirrungen fanatisch<lb/> bekämpft; das ist der „große Zorn," den Wolynski mit dem Titel meint. Wir<lb/> stellen, um den Charakter der beiden Bücher wenigstens anzudeuten, ein paar<lb/> Sätze daraus zusammen. „Hier, in diesem furchtbar gehaltvollen, aber auch furchtbar<lb/> schwachen seelische» Menschen sind alle Keime enthalten, ans denen die Heiligtümer<lb/> der bevorstehenden Entwicklung hervorwachsen werden. Wie leidet er, indem er<lb/> den kommenden, ganzem und gesundem Menschen wehevoll durchempfindet! . . .<lb/> Von deu geraden, bevölkerten Kulturwegen Europas geraten wir in die j leider<lb/> schon devastiertenj russischen Wälder hinein, die noch von nächtlicher Finsternis<lb/> umfangen, noch voll märchenhafter Visionen sind, beschienen nnr vom warmen<lb/> Lichte der grell flackernden Scheiterhaufen. Wieviel grobe Unwissenheit ist hier,<lb/> wieviel abergläubische Ängste. Aber all dies ist Material sür ein neues und leben¬<lb/> diges Philosophieren; all diese märchenhaften Visionen können sich, beim Lichte der<lb/> Vernunft, in neue frische, kostbare Ideen verwandeln. . . . Klänge kommen von<lb/> allen Weilenden herangeflogen, leise rauscht der Traum von einem freien Goitcs-<lb/> reiche, in dem es keine Beleidigte und Erniedrigte geben wird, weil es keine Belei¬<lb/> diger mehr geben wird. Und Rußland eilt mit verheißenden Blicke voran, berauscht<lb/> sich an einem Traum von etwas Fernen, von der Realität ungeheuer Entfernten,<lb/> aber dem Herzen ungeheuer Nahem. . . . Der Satan spaziert durch die Welt und<lb/> sucht einen weiten Boden für seine Tätigkeit. Er erblickte Rußland mit seinen<lb/> grenzenlosen Feldern und dunkeln Wäldern sölche oben!j, und es schien ihm, daß<lb/> er hier seiner ganzen boshaften Gottlosigkeit Luft machen könne. Ist doch der<lb/> unkultivierte Russe so kindlich hilflos seinen großen Verlockungen gegenüber. Aber<lb/> der Teufel täuschte sich. In der Seele des russischen Menschen hat sich etwas<lb/> Kindliches, göttlich Gutes und Unschuldiges versteckt, dem nicht beizukommen ist.<lb/> Ein weiches gütiges Element ist hier überall ausgegossen. Manchmal steckt der<lb/> Satan irgendwo einen bösen Brand an; aber das Herz des kindlichen Volkes ist<lb/> mit einer gnadenvollen Feuchtigkeit fja ja, die Feuchtigkeit!j durchtränkt, die es nicht<lb/> zu Ende brennen läßt. Die Brände des russischen Dämonismus sind von kurzer<lb/> Dauer. Das persönliche, das dämonische Element öder Egoismus^ findet in Nußland<lb/> keine vollendete Verkörperung; ein andres, unpersönliches, göttliches Element wirkt<lb/> im russischen Menschen mit der unmittelbaren Kraft einer jungen Entwicklung. In<lb/> der stolzesten russischen Seele lebt eine gewisse erlösende Demut, und je größer, je<lb/> anspruchsvoller der Stolz ist, desto tiefer die Selbstanklage, desto begeisterter die<lb/> Demut." Alles wunderschön, aber das weiche Element ist kein geeignetes Material<lb/> für einen Staatsbäu, dazu gehört ein gewisser Grad von Härte und Festigkeit,<lb/> gehört ein gesunder, von klarer Einsicht gelenkter Egoismus. Die ersten Gründer<lb/> des Rnssenstaats sind Germanen gewesen, und nachdem der geniale Wilde, Peter<lb/> der Große, sein Land gewaltsam an Europa angekettet hatte, waren es von 1762<lb/> ab Monarchen von rein deutschem Blute, die mit Hilfe meist deutscher Staatsmänner<lb/> ihr reichliches und williges Menschenmaterial dazu verwandt haben, ans ihrem</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0178]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Loening in Frankfurt am Main erschienen, liegen uns vor. Die kleine Studie:
Der moderne Idealismus und Rußland stellt nach einer psychologisch-meta¬
physischen Einleitung die russische Ikonographie der Malerei der italienischen Re¬
naissance gegenüber und charakterisiert die Vertreter des russischen und des west¬
europäischen Dekadententunis; Nietzsche und Ibsen werden als die „Kolosse der
Dekadenz" gefeiert. Das Buch vom großen Zorn analysiert drei Romane
Dostojewskis: Die Teufel, Schuld und Sühne (Raskolnikow) und der Idiot. (Den
im Grenzbotenverlag deutsch erschienenen Brüdern Karamasow hat er ein eignes
Buch gewidmet, dessen deutsche Ausgabe vorbereitet wird.) Wer nicht Zeit oder Lust
hat, die Romane Dostojewskis zu lesen, findet hier die ganze Galerie der phan¬
tastischen, hysterischen, zum Teil wahnsinnigen Gestalten des heute weniger oft
genannten der beiden großen wunderlichen Heiligen des modernen Rußland in
interessanter Beleuchtung beisammen. Dostojewski hat in den „Teufeln" alle Reform-
bestrebungen und namentlich den Nihilismus als unrussische Verirrungen fanatisch
bekämpft; das ist der „große Zorn," den Wolynski mit dem Titel meint. Wir
stellen, um den Charakter der beiden Bücher wenigstens anzudeuten, ein paar
Sätze daraus zusammen. „Hier, in diesem furchtbar gehaltvollen, aber auch furchtbar
schwachen seelische» Menschen sind alle Keime enthalten, ans denen die Heiligtümer
der bevorstehenden Entwicklung hervorwachsen werden. Wie leidet er, indem er
den kommenden, ganzem und gesundem Menschen wehevoll durchempfindet! . . .
Von deu geraden, bevölkerten Kulturwegen Europas geraten wir in die j leider
schon devastiertenj russischen Wälder hinein, die noch von nächtlicher Finsternis
umfangen, noch voll märchenhafter Visionen sind, beschienen nnr vom warmen
Lichte der grell flackernden Scheiterhaufen. Wieviel grobe Unwissenheit ist hier,
wieviel abergläubische Ängste. Aber all dies ist Material sür ein neues und leben¬
diges Philosophieren; all diese märchenhaften Visionen können sich, beim Lichte der
Vernunft, in neue frische, kostbare Ideen verwandeln. . . . Klänge kommen von
allen Weilenden herangeflogen, leise rauscht der Traum von einem freien Goitcs-
reiche, in dem es keine Beleidigte und Erniedrigte geben wird, weil es keine Belei¬
diger mehr geben wird. Und Rußland eilt mit verheißenden Blicke voran, berauscht
sich an einem Traum von etwas Fernen, von der Realität ungeheuer Entfernten,
aber dem Herzen ungeheuer Nahem. . . . Der Satan spaziert durch die Welt und
sucht einen weiten Boden für seine Tätigkeit. Er erblickte Rußland mit seinen
grenzenlosen Feldern und dunkeln Wäldern sölche oben!j, und es schien ihm, daß
er hier seiner ganzen boshaften Gottlosigkeit Luft machen könne. Ist doch der
unkultivierte Russe so kindlich hilflos seinen großen Verlockungen gegenüber. Aber
der Teufel täuschte sich. In der Seele des russischen Menschen hat sich etwas
Kindliches, göttlich Gutes und Unschuldiges versteckt, dem nicht beizukommen ist.
Ein weiches gütiges Element ist hier überall ausgegossen. Manchmal steckt der
Satan irgendwo einen bösen Brand an; aber das Herz des kindlichen Volkes ist
mit einer gnadenvollen Feuchtigkeit fja ja, die Feuchtigkeit!j durchtränkt, die es nicht
zu Ende brennen läßt. Die Brände des russischen Dämonismus sind von kurzer
Dauer. Das persönliche, das dämonische Element öder Egoismus^ findet in Nußland
keine vollendete Verkörperung; ein andres, unpersönliches, göttliches Element wirkt
im russischen Menschen mit der unmittelbaren Kraft einer jungen Entwicklung. In
der stolzesten russischen Seele lebt eine gewisse erlösende Demut, und je größer, je
anspruchsvoller der Stolz ist, desto tiefer die Selbstanklage, desto begeisterter die
Demut." Alles wunderschön, aber das weiche Element ist kein geeignetes Material
für einen Staatsbäu, dazu gehört ein gewisser Grad von Härte und Festigkeit,
gehört ein gesunder, von klarer Einsicht gelenkter Egoismus. Die ersten Gründer
des Rnssenstaats sind Germanen gewesen, und nachdem der geniale Wilde, Peter
der Große, sein Land gewaltsam an Europa angekettet hatte, waren es von 1762
ab Monarchen von rein deutschem Blute, die mit Hilfe meist deutscher Staatsmänner
ihr reichliches und williges Menschenmaterial dazu verwandt haben, ans ihrem
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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
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