Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.H. L. Andersen Und zu dieser malenden Phantasie kommt dann die wohltuende, burleske Aber wie hoch Andersen auch dagestanden haben würde, wenn er nur Die Tierfabel ist ja so alt wie das Märchen und die Dichtung; in sie hat H. L. Andersen Und zu dieser malenden Phantasie kommt dann die wohltuende, burleske Aber wie hoch Andersen auch dagestanden haben würde, wenn er nur Die Tierfabel ist ja so alt wie das Märchen und die Dichtung; in sie hat <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0090" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296101"/> <fw type="header" place="top"> H. L. Andersen</fw><lb/> <p xml:id="ID_468"> Und zu dieser malenden Phantasie kommt dann die wohltuende, burleske<lb/> Laune mitten im Märchen. All den Spuk, den der dänische Volksglaube ge¬<lb/> schaffen hat, trommelt er im „Elfenhügel" zusammen; zuerst das Elfenvolk selbst,<lb/> dann den Meergreis und seine Töchter, die jede einen „nassen Stein zum<lb/> Sitzen bekommen, oder noch etwas besseres"; den Wassermann und die Zwerge,<lb/> den Nachtraben und die Irrlichter, ja sogar das Grabschwein, das Totenpferd<lb/> und den Kirchenzwcrg, der ja freilich „zu der Geistlichkeit gehört" und deshalb<lb/> eigentlich nicht mit zum Volk des Elfenkönigs gerechnet wird. Und wie be¬<lb/> handelt er diese ganze Gesellschaft! Mit einer Familiarität, einer Dreistigkeit<lb/> ohnegleichen, die ihren Gipfelpunkt erreicht, als dem Totenpferd übel wird, und<lb/> es von Tische aufstehn muß — das Totenpferd, das bisher von allen, sogar<lb/> von Bucher, nur mit Pietät behandelt worden ist, das Totenpferd, das man<lb/> bisher nur mit Grausen hat nennen hören, das wird durch die paar Worte so<lb/> zahm gemacht, daß jedes Kind fortan wagt, hinzugehn und es zu streicheln<lb/> und zu sagen: „Gutes altes Totenpferd, beißt gar nicht" — so groß ist die Macht<lb/> des Märchendichters!</p><lb/> <p xml:id="ID_469"> Aber wie hoch Andersen auch dagestanden haben würde, wenn er nur<lb/> seine Märchen von Prinzen und Prinzessinnen, Meerjungfrauen und Hexen<lb/> geschrieben Hütte, seine Bedeutung würde doch nicht annähernd so groß ge¬<lb/> wesen sein wie jetzt, wo er nicht nur die Tiere und Blumen, sondern alles,<lb/> was ihm auf seinem Wege begegnete, in den Zauberkreis des Märchens ge¬<lb/> zogen hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_470"> Die Tierfabel ist ja so alt wie das Märchen und die Dichtung; in sie hat<lb/> das Altertum seine Lebensweisheit und seinen Scherz hineingelegt, durch den<lb/> Mund der Tiere hat man schon früh gelernt, das zu sagen, was man den<lb/> Menschen nicht auf die Zunge zu legen wagte, und der Schmetterling, Bäume<lb/> und Blumen waren zu allen Zeiten „poetisch." Hierzulande hat Holberg auf<lb/> Lateinisch gefabelt, Schack-Staffette hat den sterbenden Schmetterling in Oden<lb/> besungen, Ohlenschläger läßt den Eichbaum wie auch den Glühwurm reden,<lb/> und Kaalund dichtet seine schönen „Fabeln für Kinder." Der Schmetterling<lb/> ist für Schack-Staffette jedoch nur ein Symbol, sowie es der Eichbaum und<lb/> der Glühwurm für Ohlenschläger sind, und wenn Kaalund die Tiere auftreten<lb/> läßt, geschieht das in der Regel, um entweder auch zu symbolisieren, oder um<lb/> den Menschen die Liebe zu den „guten Tieren" einzuprägen. Andersen dagegen<lb/> behandelt die Tiere wie Realitäten, was auch Bucher und Christian Winther<lb/> tun, aber während sich der Seeländische Dichter darauf beschränkt, die Fauna,<lb/> die er aus Feld und Wald kennt, zu erwähnen und in ein paar meisterhaften<lb/> Zeilen zu charakterisieren, und während sein jütländischer Genosse, der Jäger,<lb/> nur den „Zugvögeln" eine Stimme verliehen hat, so schenkt Andersen allen<lb/> Tieren Stimme und Sprache. Und er begnügt sich nicht damit, sie auf alt¬<lb/> modische Fabelweise nur als Menschen reden zu lassen, nein, seine Tiere reden<lb/> so, wie die Tiere reden müßten, wenn sie reden könnten; es macht sich hier,<lb/> wie fast überall bei Andersen, mitten in dem Märchenhaften ein erstaunlicher<lb/> Wirklichkeitssinn geltend, eine Fähigkeit, das Charakteristische unter allen Formen<lb/> aufzufassen und wiederzugeben.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0090]
H. L. Andersen
Und zu dieser malenden Phantasie kommt dann die wohltuende, burleske
Laune mitten im Märchen. All den Spuk, den der dänische Volksglaube ge¬
schaffen hat, trommelt er im „Elfenhügel" zusammen; zuerst das Elfenvolk selbst,
dann den Meergreis und seine Töchter, die jede einen „nassen Stein zum
Sitzen bekommen, oder noch etwas besseres"; den Wassermann und die Zwerge,
den Nachtraben und die Irrlichter, ja sogar das Grabschwein, das Totenpferd
und den Kirchenzwcrg, der ja freilich „zu der Geistlichkeit gehört" und deshalb
eigentlich nicht mit zum Volk des Elfenkönigs gerechnet wird. Und wie be¬
handelt er diese ganze Gesellschaft! Mit einer Familiarität, einer Dreistigkeit
ohnegleichen, die ihren Gipfelpunkt erreicht, als dem Totenpferd übel wird, und
es von Tische aufstehn muß — das Totenpferd, das bisher von allen, sogar
von Bucher, nur mit Pietät behandelt worden ist, das Totenpferd, das man
bisher nur mit Grausen hat nennen hören, das wird durch die paar Worte so
zahm gemacht, daß jedes Kind fortan wagt, hinzugehn und es zu streicheln
und zu sagen: „Gutes altes Totenpferd, beißt gar nicht" — so groß ist die Macht
des Märchendichters!
Aber wie hoch Andersen auch dagestanden haben würde, wenn er nur
seine Märchen von Prinzen und Prinzessinnen, Meerjungfrauen und Hexen
geschrieben Hütte, seine Bedeutung würde doch nicht annähernd so groß ge¬
wesen sein wie jetzt, wo er nicht nur die Tiere und Blumen, sondern alles,
was ihm auf seinem Wege begegnete, in den Zauberkreis des Märchens ge¬
zogen hat.
Die Tierfabel ist ja so alt wie das Märchen und die Dichtung; in sie hat
das Altertum seine Lebensweisheit und seinen Scherz hineingelegt, durch den
Mund der Tiere hat man schon früh gelernt, das zu sagen, was man den
Menschen nicht auf die Zunge zu legen wagte, und der Schmetterling, Bäume
und Blumen waren zu allen Zeiten „poetisch." Hierzulande hat Holberg auf
Lateinisch gefabelt, Schack-Staffette hat den sterbenden Schmetterling in Oden
besungen, Ohlenschläger läßt den Eichbaum wie auch den Glühwurm reden,
und Kaalund dichtet seine schönen „Fabeln für Kinder." Der Schmetterling
ist für Schack-Staffette jedoch nur ein Symbol, sowie es der Eichbaum und
der Glühwurm für Ohlenschläger sind, und wenn Kaalund die Tiere auftreten
läßt, geschieht das in der Regel, um entweder auch zu symbolisieren, oder um
den Menschen die Liebe zu den „guten Tieren" einzuprägen. Andersen dagegen
behandelt die Tiere wie Realitäten, was auch Bucher und Christian Winther
tun, aber während sich der Seeländische Dichter darauf beschränkt, die Fauna,
die er aus Feld und Wald kennt, zu erwähnen und in ein paar meisterhaften
Zeilen zu charakterisieren, und während sein jütländischer Genosse, der Jäger,
nur den „Zugvögeln" eine Stimme verliehen hat, so schenkt Andersen allen
Tieren Stimme und Sprache. Und er begnügt sich nicht damit, sie auf alt¬
modische Fabelweise nur als Menschen reden zu lassen, nein, seine Tiere reden
so, wie die Tiere reden müßten, wenn sie reden könnten; es macht sich hier,
wie fast überall bei Andersen, mitten in dem Märchenhaften ein erstaunlicher
Wirklichkeitssinn geltend, eine Fähigkeit, das Charakteristische unter allen Formen
aufzufassen und wiederzugeben.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |