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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Das neue Griechenland im neuen

Lebens rings um uns her bringe, um so mehr verdienten sie von den Homers
und Platons gelobt zu werden." Man sieht, hier taucht wieder "der böse Geist
Griechenlands" auf, das Schulmeistertum, das in der Masse der Gebildeten keinen
wahrhaft künstlerischen Genuß aufkommen läßt. So heißt es in der Abhandlung
über die "Ethik des Theaters": "Hat man wohl bemerkt, daß einige Worte,
sowie sie von der Bühne aus gehört werden, den Einen ärgern, den Andern
reizen? Und es sind gerade die farbigsten, lebendigsten, ethischsten Worte." Also
auch in der Ästhetik spielt die Schulmeister" eine unheilvolle Rolle.

Je weitere Kreise die neue Bewegung zog, um so mehr erkannte man, daß
sie nicht als grammatisch-philologische, noch als ästhetisch-literarische, sondern
vor allem und im letzten Grunde als sozial-pädagogische Frage behandelt
werden müsse. Diese Erkenntnis hat sich erst in den letzten sieben bis acht
Jahren Bahn zu brechen begonnen, sich aber schon jetzt der besten Kopfe der
Nation bemächtigt und die erfreulichsten literarischen Erscheinungen zutage ge¬
fördert, die das junge Griechenland aufweist; erfreulich insofern, als sie von
dem Geist der strengen Selbstkritik beseelt sind und die Befreiung von der ver¬
derblichen Selbstüberschätzung und Selbsttäuschung predigen. Nicht wenig hat
zu dieser Einkehr bei sich selbst der unrühmliche Ausgang des griechisch-türkischen
Krieges von 1897 beigetragen, der einen ähnlichen Abgrund von Korruption
im innern politischen und sozialen Leben auftat, wie jetzt in Rußland der russisch¬
japanische Krieg tut. Auch hier bewährt sich das Wort Treitschkes von dem
Krieg, dem großen Völkerbilduer.

Es ist sehr bezeichnend, daß sich die durch den Krieg geschaffne Stimmung
zunächst nicht in Abhandlungen und Schriften theoretischen Charakters geäußert
hat, sondern sich in scharfen literarischen Satiren Luft machte, in der satirischen
Erzählung und im satirischen Drama. Erst in der neuesten Zeit beginnt auch
die objektive Kritik der sozialen Zustände.

Die Hauptvertreter der satirische" Erzählung sind Argyris Eftaliotis und
Andreas Karkawitzas. Beide begannen als Schilderer des Volkslebens und
sind erst in der neuern Phase ihrer Entwicklung unter dem Druck der Ver¬
hältnisse aus friedlichen Volkserzühlern zu zornigen Strafpredigern geworden.
Das Revolutionäre ihrer Natur kam bisher nur in formaler Hinsicht zum Aus¬
druck: sie sind die ersten bedeutenden Prosaiker, die sich der Volkssprache be¬
dient haben. Nun suchen sie dem gelehrten Pedantentum, das den ganzen
Volkskörper zu vergiften droht, die heuchlerische Maske des falschen Patriotismus
abzureißen und ihm das wahre, unverfälschte nationale Volkstum: entgegenzu¬
stellen. Dies tut Eftaliotis in seinen "Tagebnchblättern des alten Dimos" (1897),
Karkawitzas in seinem "Archäologen" (1904): in beiden Werken verbirgt sich
der patriotische Verfasser, dort unter dem Mantel der biographischen, hier unter
dem der symbolischen Erzählung; dort werden die Schäden des Volkes bloß-
gelegt, hier auch die Mittel zu ihrer Heilung angegeben.

(Schluß folgt)




Das neue Griechenland im neuen

Lebens rings um uns her bringe, um so mehr verdienten sie von den Homers
und Platons gelobt zu werden." Man sieht, hier taucht wieder „der böse Geist
Griechenlands" auf, das Schulmeistertum, das in der Masse der Gebildeten keinen
wahrhaft künstlerischen Genuß aufkommen läßt. So heißt es in der Abhandlung
über die „Ethik des Theaters": „Hat man wohl bemerkt, daß einige Worte,
sowie sie von der Bühne aus gehört werden, den Einen ärgern, den Andern
reizen? Und es sind gerade die farbigsten, lebendigsten, ethischsten Worte." Also
auch in der Ästhetik spielt die Schulmeister« eine unheilvolle Rolle.

Je weitere Kreise die neue Bewegung zog, um so mehr erkannte man, daß
sie nicht als grammatisch-philologische, noch als ästhetisch-literarische, sondern
vor allem und im letzten Grunde als sozial-pädagogische Frage behandelt
werden müsse. Diese Erkenntnis hat sich erst in den letzten sieben bis acht
Jahren Bahn zu brechen begonnen, sich aber schon jetzt der besten Kopfe der
Nation bemächtigt und die erfreulichsten literarischen Erscheinungen zutage ge¬
fördert, die das junge Griechenland aufweist; erfreulich insofern, als sie von
dem Geist der strengen Selbstkritik beseelt sind und die Befreiung von der ver¬
derblichen Selbstüberschätzung und Selbsttäuschung predigen. Nicht wenig hat
zu dieser Einkehr bei sich selbst der unrühmliche Ausgang des griechisch-türkischen
Krieges von 1897 beigetragen, der einen ähnlichen Abgrund von Korruption
im innern politischen und sozialen Leben auftat, wie jetzt in Rußland der russisch¬
japanische Krieg tut. Auch hier bewährt sich das Wort Treitschkes von dem
Krieg, dem großen Völkerbilduer.

Es ist sehr bezeichnend, daß sich die durch den Krieg geschaffne Stimmung
zunächst nicht in Abhandlungen und Schriften theoretischen Charakters geäußert
hat, sondern sich in scharfen literarischen Satiren Luft machte, in der satirischen
Erzählung und im satirischen Drama. Erst in der neuesten Zeit beginnt auch
die objektive Kritik der sozialen Zustände.

Die Hauptvertreter der satirische» Erzählung sind Argyris Eftaliotis und
Andreas Karkawitzas. Beide begannen als Schilderer des Volkslebens und
sind erst in der neuern Phase ihrer Entwicklung unter dem Druck der Ver¬
hältnisse aus friedlichen Volkserzühlern zu zornigen Strafpredigern geworden.
Das Revolutionäre ihrer Natur kam bisher nur in formaler Hinsicht zum Aus¬
druck: sie sind die ersten bedeutenden Prosaiker, die sich der Volkssprache be¬
dient haben. Nun suchen sie dem gelehrten Pedantentum, das den ganzen
Volkskörper zu vergiften droht, die heuchlerische Maske des falschen Patriotismus
abzureißen und ihm das wahre, unverfälschte nationale Volkstum: entgegenzu¬
stellen. Dies tut Eftaliotis in seinen „Tagebnchblättern des alten Dimos" (1897),
Karkawitzas in seinem „Archäologen" (1904): in beiden Werken verbirgt sich
der patriotische Verfasser, dort unter dem Mantel der biographischen, hier unter
dem der symbolischen Erzählung; dort werden die Schäden des Volkes bloß-
gelegt, hier auch die Mittel zu ihrer Heilung angegeben.

(Schluß folgt)




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[0086] Das neue Griechenland im neuen Lebens rings um uns her bringe, um so mehr verdienten sie von den Homers und Platons gelobt zu werden." Man sieht, hier taucht wieder „der böse Geist Griechenlands" auf, das Schulmeistertum, das in der Masse der Gebildeten keinen wahrhaft künstlerischen Genuß aufkommen läßt. So heißt es in der Abhandlung über die „Ethik des Theaters": „Hat man wohl bemerkt, daß einige Worte, sowie sie von der Bühne aus gehört werden, den Einen ärgern, den Andern reizen? Und es sind gerade die farbigsten, lebendigsten, ethischsten Worte." Also auch in der Ästhetik spielt die Schulmeister« eine unheilvolle Rolle. Je weitere Kreise die neue Bewegung zog, um so mehr erkannte man, daß sie nicht als grammatisch-philologische, noch als ästhetisch-literarische, sondern vor allem und im letzten Grunde als sozial-pädagogische Frage behandelt werden müsse. Diese Erkenntnis hat sich erst in den letzten sieben bis acht Jahren Bahn zu brechen begonnen, sich aber schon jetzt der besten Kopfe der Nation bemächtigt und die erfreulichsten literarischen Erscheinungen zutage ge¬ fördert, die das junge Griechenland aufweist; erfreulich insofern, als sie von dem Geist der strengen Selbstkritik beseelt sind und die Befreiung von der ver¬ derblichen Selbstüberschätzung und Selbsttäuschung predigen. Nicht wenig hat zu dieser Einkehr bei sich selbst der unrühmliche Ausgang des griechisch-türkischen Krieges von 1897 beigetragen, der einen ähnlichen Abgrund von Korruption im innern politischen und sozialen Leben auftat, wie jetzt in Rußland der russisch¬ japanische Krieg tut. Auch hier bewährt sich das Wort Treitschkes von dem Krieg, dem großen Völkerbilduer. Es ist sehr bezeichnend, daß sich die durch den Krieg geschaffne Stimmung zunächst nicht in Abhandlungen und Schriften theoretischen Charakters geäußert hat, sondern sich in scharfen literarischen Satiren Luft machte, in der satirischen Erzählung und im satirischen Drama. Erst in der neuesten Zeit beginnt auch die objektive Kritik der sozialen Zustände. Die Hauptvertreter der satirische» Erzählung sind Argyris Eftaliotis und Andreas Karkawitzas. Beide begannen als Schilderer des Volkslebens und sind erst in der neuern Phase ihrer Entwicklung unter dem Druck der Ver¬ hältnisse aus friedlichen Volkserzühlern zu zornigen Strafpredigern geworden. Das Revolutionäre ihrer Natur kam bisher nur in formaler Hinsicht zum Aus¬ druck: sie sind die ersten bedeutenden Prosaiker, die sich der Volkssprache be¬ dient haben. Nun suchen sie dem gelehrten Pedantentum, das den ganzen Volkskörper zu vergiften droht, die heuchlerische Maske des falschen Patriotismus abzureißen und ihm das wahre, unverfälschte nationale Volkstum: entgegenzu¬ stellen. Dies tut Eftaliotis in seinen „Tagebnchblättern des alten Dimos" (1897), Karkawitzas in seinem „Archäologen" (1904): in beiden Werken verbirgt sich der patriotische Verfasser, dort unter dem Mantel der biographischen, hier unter dem der symbolischen Erzählung; dort werden die Schäden des Volkes bloß- gelegt, hier auch die Mittel zu ihrer Heilung angegeben. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/86>, abgerufen am 15.01.2025.