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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Das neue Griechenland im neuen

Palamas, dieser auch als hervorragender lyrischer Dichter bekannt. Polylas,
der Apostel und Biograph des ersten großen Dichters, Dionysios Solomos, sowie
Übersetzer des "Hamlet," hat 1892 in einem kleinen Büchlein seine Gedanken
über die neugriechische Literatursprache niedergelegt. Er stellt darin die akademische
Poesie Nangabes, deren künstliche Sprache man als mustergiltig ausgab, der
aus der Quelle der Volksdichtung geschöpften Dichtung von Solomos gegenüber,
zu der sich jene etwa verhält wie die mittellateinische Dichtung Italiens zu der
italienischen Dantes. Handelt es sich doch genau um dasselbe psychologische
Phänomen, wenn Polylas von den neugriechischen Klassizisten sagt: "Sie
blieben treue Kinder der scholastischen Tradition; die inbrünstige Verehrung des
wunderbaren Organismus der alten Sprache, der vornehme Eifer, die Nation
mit einer Literatursprache zu beschenken, die mit den neuem wetteifern kann,
ließen sie eine Methode befolgen, die an der Oberflüche tastet, aber dem Wesen
nach ungenügend dazu war: ein erblich eingewurzelter Irrtum hinderte sie, den
wahren Beruf des Schriftstellers zu erfassen, der hauptsächlich darin besteht,
zur organischen Entwicklung der nationalen Sprache beizutragen, niemals aber
zur willkürlichen Verbesserung und Entstellung. ... Die künstliche Atmosphäre,
in der sie eingeschlossen waren, erstickte ebensowohl ihren Geist, als sie ihr Gefühl
welken ließ."

Polylas fußt als Korfiote ganz wie sein großes Vorbild Solomos auf
der italienischen Kultur, und es ist eine eigentümliche Verkettung der Umstände,
daß diese Kultur, die selbst so lange Zeit gebraucht hat, sich aus den Fesseln
der lateinischen zu befreien, nun ihrerseits zur Befreierin der neugriechischen
Literatur wurde; denn wie wir an andrer Stelle ausgeführt haben, geht die
ganze moderne Literaturbeweguug in Griechenland zurück auf jene korfiotische
Richtung, die wiederum direkt von Italien befruchtet worden ist.

Als charakteristische Erscheinungen aus diesem italienisch-griechischen Kultur¬
kreise seien noch genannt der halbgriechische Italiener Nicolao Tommaseo, der
mit Hinblick ans die griechischen Verhältnisse einen gehaltvollen Aufsatz über
die Zusammengehörigkeit von Sprache und Kultur schrieb, und Georgios
Kalosguros, der in einer Studie über Polylas Hamletübersetzung und in
eignen Aufsätzen sowie in zahlreichen Übertragungen italienischer Poesie die Auf¬
fassung verfocht, daß eine wirkliche Blüte der neugriechischen Literatur nur möglich
sei auf Grund der künstlerisch veredelten Volkssprache.

Etwa um dieselbe Zeit, wo die genannte Schrift von Polylas erschien,
Allfang der neunziger Jahre, erhielt die sprachlich-ästhetische Bewegung in der
Hauptstadt Athen einen kräftigen Anstoß und gewaltige Förderung durch die
kritische Wirksamkeit des Dichters K. Palamas. Als Dichter wie als Literatur¬
kritiker knüpft dieser einerseits an die korfiotische Richtung und die Volkspoesie,
andrerseits an die Franzosen an. Hier haben wir es nur mit seiner Tätigkeit
als Kritiker zu tun, und da ist es sehr willkommen zu heißen, daß Palamas
im vorigen Jahre seine kritischen Aufsätze zu sammeln begonnen hat, wovon
der erste Band vorliegt. Wir erhalten dadurch ein Bild von seiner ästhetischen
Persönlichkeit.

Es sind acht Abhandlungen zur "Idee der Kunst," teils im Anschluß an
bestimmte dichterische Persönlichkeiten und ihre Werke, die sie charakterisieren,


Das neue Griechenland im neuen

Palamas, dieser auch als hervorragender lyrischer Dichter bekannt. Polylas,
der Apostel und Biograph des ersten großen Dichters, Dionysios Solomos, sowie
Übersetzer des „Hamlet," hat 1892 in einem kleinen Büchlein seine Gedanken
über die neugriechische Literatursprache niedergelegt. Er stellt darin die akademische
Poesie Nangabes, deren künstliche Sprache man als mustergiltig ausgab, der
aus der Quelle der Volksdichtung geschöpften Dichtung von Solomos gegenüber,
zu der sich jene etwa verhält wie die mittellateinische Dichtung Italiens zu der
italienischen Dantes. Handelt es sich doch genau um dasselbe psychologische
Phänomen, wenn Polylas von den neugriechischen Klassizisten sagt: „Sie
blieben treue Kinder der scholastischen Tradition; die inbrünstige Verehrung des
wunderbaren Organismus der alten Sprache, der vornehme Eifer, die Nation
mit einer Literatursprache zu beschenken, die mit den neuem wetteifern kann,
ließen sie eine Methode befolgen, die an der Oberflüche tastet, aber dem Wesen
nach ungenügend dazu war: ein erblich eingewurzelter Irrtum hinderte sie, den
wahren Beruf des Schriftstellers zu erfassen, der hauptsächlich darin besteht,
zur organischen Entwicklung der nationalen Sprache beizutragen, niemals aber
zur willkürlichen Verbesserung und Entstellung. ... Die künstliche Atmosphäre,
in der sie eingeschlossen waren, erstickte ebensowohl ihren Geist, als sie ihr Gefühl
welken ließ."

Polylas fußt als Korfiote ganz wie sein großes Vorbild Solomos auf
der italienischen Kultur, und es ist eine eigentümliche Verkettung der Umstände,
daß diese Kultur, die selbst so lange Zeit gebraucht hat, sich aus den Fesseln
der lateinischen zu befreien, nun ihrerseits zur Befreierin der neugriechischen
Literatur wurde; denn wie wir an andrer Stelle ausgeführt haben, geht die
ganze moderne Literaturbeweguug in Griechenland zurück auf jene korfiotische
Richtung, die wiederum direkt von Italien befruchtet worden ist.

Als charakteristische Erscheinungen aus diesem italienisch-griechischen Kultur¬
kreise seien noch genannt der halbgriechische Italiener Nicolao Tommaseo, der
mit Hinblick ans die griechischen Verhältnisse einen gehaltvollen Aufsatz über
die Zusammengehörigkeit von Sprache und Kultur schrieb, und Georgios
Kalosguros, der in einer Studie über Polylas Hamletübersetzung und in
eignen Aufsätzen sowie in zahlreichen Übertragungen italienischer Poesie die Auf¬
fassung verfocht, daß eine wirkliche Blüte der neugriechischen Literatur nur möglich
sei auf Grund der künstlerisch veredelten Volkssprache.

Etwa um dieselbe Zeit, wo die genannte Schrift von Polylas erschien,
Allfang der neunziger Jahre, erhielt die sprachlich-ästhetische Bewegung in der
Hauptstadt Athen einen kräftigen Anstoß und gewaltige Förderung durch die
kritische Wirksamkeit des Dichters K. Palamas. Als Dichter wie als Literatur¬
kritiker knüpft dieser einerseits an die korfiotische Richtung und die Volkspoesie,
andrerseits an die Franzosen an. Hier haben wir es nur mit seiner Tätigkeit
als Kritiker zu tun, und da ist es sehr willkommen zu heißen, daß Palamas
im vorigen Jahre seine kritischen Aufsätze zu sammeln begonnen hat, wovon
der erste Band vorliegt. Wir erhalten dadurch ein Bild von seiner ästhetischen
Persönlichkeit.

Es sind acht Abhandlungen zur „Idee der Kunst," teils im Anschluß an
bestimmte dichterische Persönlichkeiten und ihre Werke, die sie charakterisieren,


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[0084] Das neue Griechenland im neuen Palamas, dieser auch als hervorragender lyrischer Dichter bekannt. Polylas, der Apostel und Biograph des ersten großen Dichters, Dionysios Solomos, sowie Übersetzer des „Hamlet," hat 1892 in einem kleinen Büchlein seine Gedanken über die neugriechische Literatursprache niedergelegt. Er stellt darin die akademische Poesie Nangabes, deren künstliche Sprache man als mustergiltig ausgab, der aus der Quelle der Volksdichtung geschöpften Dichtung von Solomos gegenüber, zu der sich jene etwa verhält wie die mittellateinische Dichtung Italiens zu der italienischen Dantes. Handelt es sich doch genau um dasselbe psychologische Phänomen, wenn Polylas von den neugriechischen Klassizisten sagt: „Sie blieben treue Kinder der scholastischen Tradition; die inbrünstige Verehrung des wunderbaren Organismus der alten Sprache, der vornehme Eifer, die Nation mit einer Literatursprache zu beschenken, die mit den neuem wetteifern kann, ließen sie eine Methode befolgen, die an der Oberflüche tastet, aber dem Wesen nach ungenügend dazu war: ein erblich eingewurzelter Irrtum hinderte sie, den wahren Beruf des Schriftstellers zu erfassen, der hauptsächlich darin besteht, zur organischen Entwicklung der nationalen Sprache beizutragen, niemals aber zur willkürlichen Verbesserung und Entstellung. ... Die künstliche Atmosphäre, in der sie eingeschlossen waren, erstickte ebensowohl ihren Geist, als sie ihr Gefühl welken ließ." Polylas fußt als Korfiote ganz wie sein großes Vorbild Solomos auf der italienischen Kultur, und es ist eine eigentümliche Verkettung der Umstände, daß diese Kultur, die selbst so lange Zeit gebraucht hat, sich aus den Fesseln der lateinischen zu befreien, nun ihrerseits zur Befreierin der neugriechischen Literatur wurde; denn wie wir an andrer Stelle ausgeführt haben, geht die ganze moderne Literaturbeweguug in Griechenland zurück auf jene korfiotische Richtung, die wiederum direkt von Italien befruchtet worden ist. Als charakteristische Erscheinungen aus diesem italienisch-griechischen Kultur¬ kreise seien noch genannt der halbgriechische Italiener Nicolao Tommaseo, der mit Hinblick ans die griechischen Verhältnisse einen gehaltvollen Aufsatz über die Zusammengehörigkeit von Sprache und Kultur schrieb, und Georgios Kalosguros, der in einer Studie über Polylas Hamletübersetzung und in eignen Aufsätzen sowie in zahlreichen Übertragungen italienischer Poesie die Auf¬ fassung verfocht, daß eine wirkliche Blüte der neugriechischen Literatur nur möglich sei auf Grund der künstlerisch veredelten Volkssprache. Etwa um dieselbe Zeit, wo die genannte Schrift von Polylas erschien, Allfang der neunziger Jahre, erhielt die sprachlich-ästhetische Bewegung in der Hauptstadt Athen einen kräftigen Anstoß und gewaltige Förderung durch die kritische Wirksamkeit des Dichters K. Palamas. Als Dichter wie als Literatur¬ kritiker knüpft dieser einerseits an die korfiotische Richtung und die Volkspoesie, andrerseits an die Franzosen an. Hier haben wir es nur mit seiner Tätigkeit als Kritiker zu tun, und da ist es sehr willkommen zu heißen, daß Palamas im vorigen Jahre seine kritischen Aufsätze zu sammeln begonnen hat, wovon der erste Band vorliegt. Wir erhalten dadurch ein Bild von seiner ästhetischen Persönlichkeit. Es sind acht Abhandlungen zur „Idee der Kunst," teils im Anschluß an bestimmte dichterische Persönlichkeiten und ihre Werke, die sie charakterisieren,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/84>, abgerufen am 15.01.2025.