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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Das neue Griechenland im neuen
von Karl Dieterich

Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.

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V-W^> s liegt eine eigentümliche Ironie des Schicksals und doch zugleich
ein tiefer psychologischer Sinn in der Tatsache, daß die beiden
Völker Europas, die sich rühmen, von den beiden großen Kultur-
, ^ Völkern des Altertums abzustammen, daß Italiener und Neugriechen
ihres Kulturkreises am längsten Zeit gebraucht haben,
sich von dem geistigen Einfluß ihrer Ahnen da, wo dieser zur Tyrannei zu
werden drohte, zu befreien: die Italiener, das älteste Volk in Westeuropa, lagen
noch in den sprachlichen und geistigen Fesseln des Latinismus, als Franzosen,
Engländer und Deutsche schon längst eine bodenständige Literatur hervorgebracht
hatten; die italienische Literatur beginnt erst um die Wende vom dreizehnten
zum vierzehnten Jahrhundert und beruht zum größten Teil auf der provenzalischen,
auch die Vulgärsprache hatte noch jahrhundertelang mit der lateinischen zu kämpfen,
ehe ihr Sieg vollständig war.

Ein ganz entsprechendes Bild im europäischen Osten bietet uns die Ent¬
stehung der modernen griechischen Sprache und Literatur und ihr chronologisches
Verhältnis zu den Sprachen und Literaturen der übrigen osteuropäischen Völker,
der Slawen und der Rumänen: bedenkt man, daß alle diese Völker um so viel
später in das Licht der Kultur eingetreten sind als die westeuropäischen, daß
die moderne russische Sprache erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬
hunderts in die Literatur eindringt und die altslawische verdrängt, die serbische
erst in der ersten Hälfte des neunzehnten, und daß die Rumänen noch in den
sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts um die Gestaltung ihrer Literatur¬
sprache kämpften, dann wird man es nicht verwunderlich finden, daß die Griechen,
die unter dem doppelten Druck des Byzantinismus und der altgriechischen
Sprachgewalt stehn, bis zum heutigen Tage noch um ein nationales Sprach¬
ideal ringen, und das auch erst seit etwa zwanzig Jahren. Sie stehn damit,
wie man sieht, durchaus auf derselben Stufe wie die Italiener; was für diese
das dreizehnte und das vierzehnte, bedeutet für jene das neunzehnte und das
zwanzigste Jahrhundert, wenn man den niedern Kulturstand Osteuropas im
allgemeinen und die politische und ethnographische Bedeutungslosigkeit sowie
die geistige Zersplitterung der Griechen im besondern berücksichtigt.

Denn diese Tatsachen haben es offenbar bewirkt, daß die Keime einer
nationalen Sprache und Literatur, die sich im sechzehnten Jahrhundert auf der
Insel Kreta zeigten, in den Stürmen der folgenden Jahrhunderte nicht zur
Entfaltung kommen konnten. Und so erklärt es sich, daß die damaligen Be¬
strebungen erst in der Gegenwart wieder aufgenommen worden sind.




Das neue Griechenland im neuen
von Karl Dieterich

Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung.

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V-W^> s liegt eine eigentümliche Ironie des Schicksals und doch zugleich
ein tiefer psychologischer Sinn in der Tatsache, daß die beiden
Völker Europas, die sich rühmen, von den beiden großen Kultur-
, ^ Völkern des Altertums abzustammen, daß Italiener und Neugriechen
ihres Kulturkreises am längsten Zeit gebraucht haben,
sich von dem geistigen Einfluß ihrer Ahnen da, wo dieser zur Tyrannei zu
werden drohte, zu befreien: die Italiener, das älteste Volk in Westeuropa, lagen
noch in den sprachlichen und geistigen Fesseln des Latinismus, als Franzosen,
Engländer und Deutsche schon längst eine bodenständige Literatur hervorgebracht
hatten; die italienische Literatur beginnt erst um die Wende vom dreizehnten
zum vierzehnten Jahrhundert und beruht zum größten Teil auf der provenzalischen,
auch die Vulgärsprache hatte noch jahrhundertelang mit der lateinischen zu kämpfen,
ehe ihr Sieg vollständig war.

Ein ganz entsprechendes Bild im europäischen Osten bietet uns die Ent¬
stehung der modernen griechischen Sprache und Literatur und ihr chronologisches
Verhältnis zu den Sprachen und Literaturen der übrigen osteuropäischen Völker,
der Slawen und der Rumänen: bedenkt man, daß alle diese Völker um so viel
später in das Licht der Kultur eingetreten sind als die westeuropäischen, daß
die moderne russische Sprache erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬
hunderts in die Literatur eindringt und die altslawische verdrängt, die serbische
erst in der ersten Hälfte des neunzehnten, und daß die Rumänen noch in den
sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts um die Gestaltung ihrer Literatur¬
sprache kämpften, dann wird man es nicht verwunderlich finden, daß die Griechen,
die unter dem doppelten Druck des Byzantinismus und der altgriechischen
Sprachgewalt stehn, bis zum heutigen Tage noch um ein nationales Sprach¬
ideal ringen, und das auch erst seit etwa zwanzig Jahren. Sie stehn damit,
wie man sieht, durchaus auf derselben Stufe wie die Italiener; was für diese
das dreizehnte und das vierzehnte, bedeutet für jene das neunzehnte und das
zwanzigste Jahrhundert, wenn man den niedern Kulturstand Osteuropas im
allgemeinen und die politische und ethnographische Bedeutungslosigkeit sowie
die geistige Zersplitterung der Griechen im besondern berücksichtigt.

Denn diese Tatsachen haben es offenbar bewirkt, daß die Keime einer
nationalen Sprache und Literatur, die sich im sechzehnten Jahrhundert auf der
Insel Kreta zeigten, in den Stürmen der folgenden Jahrhunderte nicht zur
Entfaltung kommen konnten. Und so erklärt es sich, daß die damaligen Be¬
strebungen erst in der Gegenwart wieder aufgenommen worden sind.


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[0080] [Abbildung] Das neue Griechenland im neuen von Karl Dieterich Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. ^Ton^-K- ^ (>iW^x^ /U>^ V-W^> s liegt eine eigentümliche Ironie des Schicksals und doch zugleich ein tiefer psychologischer Sinn in der Tatsache, daß die beiden Völker Europas, die sich rühmen, von den beiden großen Kultur- , ^ Völkern des Altertums abzustammen, daß Italiener und Neugriechen ihres Kulturkreises am längsten Zeit gebraucht haben, sich von dem geistigen Einfluß ihrer Ahnen da, wo dieser zur Tyrannei zu werden drohte, zu befreien: die Italiener, das älteste Volk in Westeuropa, lagen noch in den sprachlichen und geistigen Fesseln des Latinismus, als Franzosen, Engländer und Deutsche schon längst eine bodenständige Literatur hervorgebracht hatten; die italienische Literatur beginnt erst um die Wende vom dreizehnten zum vierzehnten Jahrhundert und beruht zum größten Teil auf der provenzalischen, auch die Vulgärsprache hatte noch jahrhundertelang mit der lateinischen zu kämpfen, ehe ihr Sieg vollständig war. Ein ganz entsprechendes Bild im europäischen Osten bietet uns die Ent¬ stehung der modernen griechischen Sprache und Literatur und ihr chronologisches Verhältnis zu den Sprachen und Literaturen der übrigen osteuropäischen Völker, der Slawen und der Rumänen: bedenkt man, daß alle diese Völker um so viel später in das Licht der Kultur eingetreten sind als die westeuropäischen, daß die moderne russische Sprache erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬ hunderts in die Literatur eindringt und die altslawische verdrängt, die serbische erst in der ersten Hälfte des neunzehnten, und daß die Rumänen noch in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts um die Gestaltung ihrer Literatur¬ sprache kämpften, dann wird man es nicht verwunderlich finden, daß die Griechen, die unter dem doppelten Druck des Byzantinismus und der altgriechischen Sprachgewalt stehn, bis zum heutigen Tage noch um ein nationales Sprach¬ ideal ringen, und das auch erst seit etwa zwanzig Jahren. Sie stehn damit, wie man sieht, durchaus auf derselben Stufe wie die Italiener; was für diese das dreizehnte und das vierzehnte, bedeutet für jene das neunzehnte und das zwanzigste Jahrhundert, wenn man den niedern Kulturstand Osteuropas im allgemeinen und die politische und ethnographische Bedeutungslosigkeit sowie die geistige Zersplitterung der Griechen im besondern berücksichtigt. Denn diese Tatsachen haben es offenbar bewirkt, daß die Keime einer nationalen Sprache und Literatur, die sich im sechzehnten Jahrhundert auf der Insel Kreta zeigten, in den Stürmen der folgenden Jahrhunderte nicht zur Entfaltung kommen konnten. Und so erklärt es sich, daß die damaligen Be¬ strebungen erst in der Gegenwart wieder aufgenommen worden sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/80>, abgerufen am 15.01.2025.