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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Weihnachten und die zwölf Nächte

liebe Erdgöttin Fricka, Freia oder Holda und Berchta und hat als Genossin
des Gottes an seiner Tätigkeit und seiner Ehre teil.

Nach der vollen Bestellung des Winterfeldes, wenn in den Hof alle Ernte
eingebracht war, begann die heilige Zeit des Gottes. Da zog er auf seinem
Rosse durch das Land, empfing Opfer und gab Segen. Die Erinnerung an
diesen Umzug Wodans haben viele deutsche Landschaften in der Gestalt des
Schimmelreiters bewahrt, der, begleitet von einem Bären, dargestellt durch einen
Burschen, der in Stroh, vornehmlich in Erbsstroh gehüllt ist, auftritt. In
Schlesien und in Niedersachsen zieht der Schimmelreiter zur Ernte oder zu
Martini herum, in der Zeit der Kirmessen, d. i. der kirchlich gemachten Opfer¬
schmäuse. Der heilige Martin selbst ist zum Schutzumnen für Wuotan gemacht
worden und erscheint segenspendend an seinem Kalendertage (11. November).
In Holland und in der Mark beschert er den Kleinen gleich dem Christkinde,
in Schwaben aber zieht der Pelzmärte umher, ein vermummter Kerl mit ge¬
schwärzten Gesicht und einer Kuhschelle. In andern Gegenden führt der
Schimmelreiter den Namen Ruprecht, das ist jene kinderschreckende und zugleich
kinderfreueude Gestalt, in Pelz oder in Stroh gehüllt, das Gesicht vermummt,
die Rute oder die Keule in der Hand, den Sack mit Gaben auf dem Rücken.
Knecht Ruprecht ist bekannt in der Mark, in Sachsen, in Thüringen, in der
Lausitz und in dem westlichen Teile von Schlesien, auch in dem südlichen
Deutschland ist er stellenweise zu treffen. Es ist jedoch kein Knecht in dem
alten Pelzträger verborgen, sondern, wie der Name schon sagt, ein ruhmglüuzender
lZrnoäpkrlM) Gott -- niemand anders als Wuotan selbst. Im nordwestlichen
und im südlichen Deutschland tritt der heilige Nikolaus (Sande Klaas) an seine
Stelle. So weisen alle drei: der heilige Martin, Knecht Ruprecht und der
heilige Nikolaus, deutlich auf die heidnische Gestalt, der sie ihren Namen
borgten, hin; es ist Wuotan, der die Opferschmüuse besucht und segenspendend
durch die Reihen seiner Gläubigen zieht, die freilich jetzt in der Hauptsache bis
auf die Kinder zusammengeschmolzen sind. Im Elsaß ist es das Christkind
selbst, das auf einem Esel angeritten kommt. Damit dieser etwas zu fressen
findet, legen die Kinder in der Gegend von Straßburg kleine Heubündel vor
die Tür des Schlafzimmers, dabei im Kreise tanzend und singend:

Doch ist das Christkind, das herumreitet und seine Ankunft durch eine
Glocke ankündigt, nicht ein wirkliches Kind wie in Schwaben, sondern ähnlich
dem Engel, der'in Hessen den Nikolaus begleitet, eine erwachsene Frau in
weißem Gewände, mit langen blonden Haaren aus Baumwolle. Ihr Gesicht
ist mit Mehl bestäubt, auf dem Haupte trägt sie eine Krone von Goldpapier
mit brennenden Wachskerzen, und in der einen Hand hält sie eine silberne


Grenzboten >V 1905 94
Weihnachten und die zwölf Nächte

liebe Erdgöttin Fricka, Freia oder Holda und Berchta und hat als Genossin
des Gottes an seiner Tätigkeit und seiner Ehre teil.

Nach der vollen Bestellung des Winterfeldes, wenn in den Hof alle Ernte
eingebracht war, begann die heilige Zeit des Gottes. Da zog er auf seinem
Rosse durch das Land, empfing Opfer und gab Segen. Die Erinnerung an
diesen Umzug Wodans haben viele deutsche Landschaften in der Gestalt des
Schimmelreiters bewahrt, der, begleitet von einem Bären, dargestellt durch einen
Burschen, der in Stroh, vornehmlich in Erbsstroh gehüllt ist, auftritt. In
Schlesien und in Niedersachsen zieht der Schimmelreiter zur Ernte oder zu
Martini herum, in der Zeit der Kirmessen, d. i. der kirchlich gemachten Opfer¬
schmäuse. Der heilige Martin selbst ist zum Schutzumnen für Wuotan gemacht
worden und erscheint segenspendend an seinem Kalendertage (11. November).
In Holland und in der Mark beschert er den Kleinen gleich dem Christkinde,
in Schwaben aber zieht der Pelzmärte umher, ein vermummter Kerl mit ge¬
schwärzten Gesicht und einer Kuhschelle. In andern Gegenden führt der
Schimmelreiter den Namen Ruprecht, das ist jene kinderschreckende und zugleich
kinderfreueude Gestalt, in Pelz oder in Stroh gehüllt, das Gesicht vermummt,
die Rute oder die Keule in der Hand, den Sack mit Gaben auf dem Rücken.
Knecht Ruprecht ist bekannt in der Mark, in Sachsen, in Thüringen, in der
Lausitz und in dem westlichen Teile von Schlesien, auch in dem südlichen
Deutschland ist er stellenweise zu treffen. Es ist jedoch kein Knecht in dem
alten Pelzträger verborgen, sondern, wie der Name schon sagt, ein ruhmglüuzender
lZrnoäpkrlM) Gott — niemand anders als Wuotan selbst. Im nordwestlichen
und im südlichen Deutschland tritt der heilige Nikolaus (Sande Klaas) an seine
Stelle. So weisen alle drei: der heilige Martin, Knecht Ruprecht und der
heilige Nikolaus, deutlich auf die heidnische Gestalt, der sie ihren Namen
borgten, hin; es ist Wuotan, der die Opferschmüuse besucht und segenspendend
durch die Reihen seiner Gläubigen zieht, die freilich jetzt in der Hauptsache bis
auf die Kinder zusammengeschmolzen sind. Im Elsaß ist es das Christkind
selbst, das auf einem Esel angeritten kommt. Damit dieser etwas zu fressen
findet, legen die Kinder in der Gegend von Straßburg kleine Heubündel vor
die Tür des Schlafzimmers, dabei im Kreise tanzend und singend:

Doch ist das Christkind, das herumreitet und seine Ankunft durch eine
Glocke ankündigt, nicht ein wirkliches Kind wie in Schwaben, sondern ähnlich
dem Engel, der'in Hessen den Nikolaus begleitet, eine erwachsene Frau in
weißem Gewände, mit langen blonden Haaren aus Baumwolle. Ihr Gesicht
ist mit Mehl bestäubt, auf dem Haupte trägt sie eine Krone von Goldpapier
mit brennenden Wachskerzen, und in der einen Hand hält sie eine silberne


Grenzboten >V 1905 94
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[0725] Weihnachten und die zwölf Nächte liebe Erdgöttin Fricka, Freia oder Holda und Berchta und hat als Genossin des Gottes an seiner Tätigkeit und seiner Ehre teil. Nach der vollen Bestellung des Winterfeldes, wenn in den Hof alle Ernte eingebracht war, begann die heilige Zeit des Gottes. Da zog er auf seinem Rosse durch das Land, empfing Opfer und gab Segen. Die Erinnerung an diesen Umzug Wodans haben viele deutsche Landschaften in der Gestalt des Schimmelreiters bewahrt, der, begleitet von einem Bären, dargestellt durch einen Burschen, der in Stroh, vornehmlich in Erbsstroh gehüllt ist, auftritt. In Schlesien und in Niedersachsen zieht der Schimmelreiter zur Ernte oder zu Martini herum, in der Zeit der Kirmessen, d. i. der kirchlich gemachten Opfer¬ schmäuse. Der heilige Martin selbst ist zum Schutzumnen für Wuotan gemacht worden und erscheint segenspendend an seinem Kalendertage (11. November). In Holland und in der Mark beschert er den Kleinen gleich dem Christkinde, in Schwaben aber zieht der Pelzmärte umher, ein vermummter Kerl mit ge¬ schwärzten Gesicht und einer Kuhschelle. In andern Gegenden führt der Schimmelreiter den Namen Ruprecht, das ist jene kinderschreckende und zugleich kinderfreueude Gestalt, in Pelz oder in Stroh gehüllt, das Gesicht vermummt, die Rute oder die Keule in der Hand, den Sack mit Gaben auf dem Rücken. Knecht Ruprecht ist bekannt in der Mark, in Sachsen, in Thüringen, in der Lausitz und in dem westlichen Teile von Schlesien, auch in dem südlichen Deutschland ist er stellenweise zu treffen. Es ist jedoch kein Knecht in dem alten Pelzträger verborgen, sondern, wie der Name schon sagt, ein ruhmglüuzender lZrnoäpkrlM) Gott — niemand anders als Wuotan selbst. Im nordwestlichen und im südlichen Deutschland tritt der heilige Nikolaus (Sande Klaas) an seine Stelle. So weisen alle drei: der heilige Martin, Knecht Ruprecht und der heilige Nikolaus, deutlich auf die heidnische Gestalt, der sie ihren Namen borgten, hin; es ist Wuotan, der die Opferschmüuse besucht und segenspendend durch die Reihen seiner Gläubigen zieht, die freilich jetzt in der Hauptsache bis auf die Kinder zusammengeschmolzen sind. Im Elsaß ist es das Christkind selbst, das auf einem Esel angeritten kommt. Damit dieser etwas zu fressen findet, legen die Kinder in der Gegend von Straßburg kleine Heubündel vor die Tür des Schlafzimmers, dabei im Kreise tanzend und singend: Doch ist das Christkind, das herumreitet und seine Ankunft durch eine Glocke ankündigt, nicht ein wirkliches Kind wie in Schwaben, sondern ähnlich dem Engel, der'in Hessen den Nikolaus begleitet, eine erwachsene Frau in weißem Gewände, mit langen blonden Haaren aus Baumwolle. Ihr Gesicht ist mit Mehl bestäubt, auf dem Haupte trägt sie eine Krone von Goldpapier mit brennenden Wachskerzen, und in der einen Hand hält sie eine silberne Grenzboten >V 1905 94

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/725>, abgerufen am 15.01.2025.