Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches tum der Sozialdemokrcitie ist nur ein neuer Beweis dafür, daß eine Nation solcher Graf Posadowsky hatte in seiner Rede vom 12. Dezember noch einen andern Maßgebliches und Unmaßgebliches tum der Sozialdemokrcitie ist nur ein neuer Beweis dafür, daß eine Nation solcher Graf Posadowsky hatte in seiner Rede vom 12. Dezember noch einen andern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0686" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296697"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_3595" prev="#ID_3594"> tum der Sozialdemokrcitie ist nur ein neuer Beweis dafür, daß eine Nation solcher<lb/> Ideale und solcher Ziele bedarf, und daß, wenn sie diese nicht rechtzeitig in der Richtung<lb/> ihrer ganzen geschichtlichen Entwicklung aufpflanzt und ihnen mit festem Willen<lb/> und Beharrlichkeit zustrebt, unausbleiblich andre Ziele auftauchen, Irrlichtern gleich,<lb/> die den Wandrer von dem Verlornen Wege ab in den Sumpf führen. Der Um¬<lb/> stand, daß trotz dem Stückchen Idealismus, das in der sozialdemokratischen Be¬<lb/> wegung steckt, diese schließlich doch an ihren grotesken Übertreibungen zugrunde<lb/> gehn muß, ist bei einer Beurteilung unsrer innern Gesamtlage einer der wenigen<lb/> Trostgründe. Ein Beispiel dieser Übertreibungen hat der so „hervorragend talen¬<lb/> tierte" Herr Bebel soeben im Reichstage gegeben, als er in voller Überein¬<lb/> stimmung mit frühern Kundgebungen der Sozialdemokratie die Entscheidung darüber,<lb/> ob ein Krieg Deutschlands etwa berechtigt sei, und ob die Sozialdemokratie dem¬<lb/> gemäß dem Ruf zur Fahne Folge zu leisten habe, vom Ermessen der Partei, also<lb/> des Parteivorstandes, abhängig machte. Demgegenüber ist es von hohem Interesse<lb/> zu sehen, wie sein französischer Gesinnungsgenosse Jaures, mit dem Herr Bebel<lb/> angeblich in voller Übereinstimmung ist, soeben das volle Gegenteil verkündet hat,<lb/> indem er in seiner Rede vom 15. d. M. in der Pariser Kammer den nationalen<lb/> Charakter der französischen Sozialdemokratie und ihre Pflicht, Frankreich zu ver¬<lb/> teidigen, ausdrücklich betont hat. Würde sich die deutsche Sozialdemokratie rein<lb/> auf wirtschaftliche Aufgaben, auf die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen<lb/> beschränkt haben, so würden ihr die Erfolge auf diesem Gebiet eine ganz andre<lb/> Stellung in unserm öffentlichen Leben geben, als dies heute der Fall ist, wo<lb/> sie politische Fragen und Ziele, und zwar fast nur solche revolutionären<lb/> Charakters, mit Emphase in den Vordergrund stellt. Herr Bebel erklärt die<lb/> Arbeiterschaft aller Länder für international verbrüdert, bei den Franzosen ist gerade<lb/> das Gegenteil der Fall, und bei den Engländern reicht diese Verbrüderung gerade<lb/> so weit wie das Interesse, gelegentliche Aufstände im Auslande zu unterstützen.<lb/> Auch die Erfahrungen, die die deutsche Sozialdemokratie später bei der russischen<lb/> und der polnischen machen wird, wenn diese erst einmal einen geordneten Bestand¬<lb/> teil des dortigen öffentlichen Lebens bilden werden, dürften schwerlich sehr er¬<lb/> mutigend für diese Idee sein. Der internationale vaterlandsfeindliche Zug ist es<lb/> denn auch, der es dem Reichskanzler nicht nur erleichtert, sondern zur Pflicht macht,<lb/> der Sozialdemokratie mit wachsender Schärfe gegenüberzutreten — des Beifalls des<lb/> Landes ist er dabei sicher.</p><lb/> <p xml:id="ID_3596" next="#ID_3597"> Graf Posadowsky hatte in seiner Rede vom 12. Dezember noch einen andern<lb/> Punkt berührt, wenn auch mit unverkennbarer Vorsicht, von dem seit Jahrzehnten<lb/> am Bundesratstisch nicht mehr die Rede gewesen ist: die Oberhansfrage. Heute<lb/> an dieser Stelle ausführlicher darauf einzugehn, wäre nicht angezeigt, aber es darf<lb/> wohl darauf hingewiesen werden, daß allmählich sogar bei so einsichtigen Politikern<lb/> und langjährigen genauen Kennern unsrer Reichsverhältnisse, wie Graf Posadowsky<lb/> unbestritten ist, der Gedanke an Boden gewinnt, daß das Reich auf die Dauer mit<lb/> einem solchen Reichstage allein nicht regiert werden kann, und daß, wenn das Wahl¬<lb/> recht unangetastet bleiben soll, und noch Diäten dazugegeben werden, die Errichtung<lb/> eines Oberhauses Wohl als einziges Auskunftsmittel bleibt, auch auf die Gefahr<lb/> hin, das parlamentarische Wesen trotz seiner heute schon fast unerträglich ge-<lb/> wordnen Ausdehnung und der Belastung des gesamten Regierungsapparats noch<lb/> um ein weiteres und wichtiges Glied zu vergrößern. Ein Umstand, der ganz be¬<lb/> sonders dafür spricht, ist der, daß der Bundesrat, d. h. die Gesamtheit der Re¬<lb/> gierungen, dem Reichstag unvermittelt gegenübersteht, und daß dadurch die Gegen¬<lb/> sätze, die in allen andern größern Ländern durch ein Oberhaus oder durch einen<lb/> Senat abgeschwächt werden, bei uns in voller Schärfe fühlbar sind, und wir dadurch<lb/> so leicht Konfliktsstimmuug haben. Bei unserm Einkammersystem ist die Gefahr<lb/> immer vorhanden, daß der Bundesrat in gar manchen Fällen gegen die Über-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0686]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
tum der Sozialdemokrcitie ist nur ein neuer Beweis dafür, daß eine Nation solcher
Ideale und solcher Ziele bedarf, und daß, wenn sie diese nicht rechtzeitig in der Richtung
ihrer ganzen geschichtlichen Entwicklung aufpflanzt und ihnen mit festem Willen
und Beharrlichkeit zustrebt, unausbleiblich andre Ziele auftauchen, Irrlichtern gleich,
die den Wandrer von dem Verlornen Wege ab in den Sumpf führen. Der Um¬
stand, daß trotz dem Stückchen Idealismus, das in der sozialdemokratischen Be¬
wegung steckt, diese schließlich doch an ihren grotesken Übertreibungen zugrunde
gehn muß, ist bei einer Beurteilung unsrer innern Gesamtlage einer der wenigen
Trostgründe. Ein Beispiel dieser Übertreibungen hat der so „hervorragend talen¬
tierte" Herr Bebel soeben im Reichstage gegeben, als er in voller Überein¬
stimmung mit frühern Kundgebungen der Sozialdemokratie die Entscheidung darüber,
ob ein Krieg Deutschlands etwa berechtigt sei, und ob die Sozialdemokratie dem¬
gemäß dem Ruf zur Fahne Folge zu leisten habe, vom Ermessen der Partei, also
des Parteivorstandes, abhängig machte. Demgegenüber ist es von hohem Interesse
zu sehen, wie sein französischer Gesinnungsgenosse Jaures, mit dem Herr Bebel
angeblich in voller Übereinstimmung ist, soeben das volle Gegenteil verkündet hat,
indem er in seiner Rede vom 15. d. M. in der Pariser Kammer den nationalen
Charakter der französischen Sozialdemokratie und ihre Pflicht, Frankreich zu ver¬
teidigen, ausdrücklich betont hat. Würde sich die deutsche Sozialdemokratie rein
auf wirtschaftliche Aufgaben, auf die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen
beschränkt haben, so würden ihr die Erfolge auf diesem Gebiet eine ganz andre
Stellung in unserm öffentlichen Leben geben, als dies heute der Fall ist, wo
sie politische Fragen und Ziele, und zwar fast nur solche revolutionären
Charakters, mit Emphase in den Vordergrund stellt. Herr Bebel erklärt die
Arbeiterschaft aller Länder für international verbrüdert, bei den Franzosen ist gerade
das Gegenteil der Fall, und bei den Engländern reicht diese Verbrüderung gerade
so weit wie das Interesse, gelegentliche Aufstände im Auslande zu unterstützen.
Auch die Erfahrungen, die die deutsche Sozialdemokratie später bei der russischen
und der polnischen machen wird, wenn diese erst einmal einen geordneten Bestand¬
teil des dortigen öffentlichen Lebens bilden werden, dürften schwerlich sehr er¬
mutigend für diese Idee sein. Der internationale vaterlandsfeindliche Zug ist es
denn auch, der es dem Reichskanzler nicht nur erleichtert, sondern zur Pflicht macht,
der Sozialdemokratie mit wachsender Schärfe gegenüberzutreten — des Beifalls des
Landes ist er dabei sicher.
Graf Posadowsky hatte in seiner Rede vom 12. Dezember noch einen andern
Punkt berührt, wenn auch mit unverkennbarer Vorsicht, von dem seit Jahrzehnten
am Bundesratstisch nicht mehr die Rede gewesen ist: die Oberhansfrage. Heute
an dieser Stelle ausführlicher darauf einzugehn, wäre nicht angezeigt, aber es darf
wohl darauf hingewiesen werden, daß allmählich sogar bei so einsichtigen Politikern
und langjährigen genauen Kennern unsrer Reichsverhältnisse, wie Graf Posadowsky
unbestritten ist, der Gedanke an Boden gewinnt, daß das Reich auf die Dauer mit
einem solchen Reichstage allein nicht regiert werden kann, und daß, wenn das Wahl¬
recht unangetastet bleiben soll, und noch Diäten dazugegeben werden, die Errichtung
eines Oberhauses Wohl als einziges Auskunftsmittel bleibt, auch auf die Gefahr
hin, das parlamentarische Wesen trotz seiner heute schon fast unerträglich ge-
wordnen Ausdehnung und der Belastung des gesamten Regierungsapparats noch
um ein weiteres und wichtiges Glied zu vergrößern. Ein Umstand, der ganz be¬
sonders dafür spricht, ist der, daß der Bundesrat, d. h. die Gesamtheit der Re¬
gierungen, dem Reichstag unvermittelt gegenübersteht, und daß dadurch die Gegen¬
sätze, die in allen andern größern Ländern durch ein Oberhaus oder durch einen
Senat abgeschwächt werden, bei uns in voller Schärfe fühlbar sind, und wir dadurch
so leicht Konfliktsstimmuug haben. Bei unserm Einkammersystem ist die Gefahr
immer vorhanden, daß der Bundesrat in gar manchen Fällen gegen die Über-
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