Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Singer und Genossen außerhalb Deutschlands nirgend recht ernst genommen, sonst Die Mannheimer Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik weist Sind die Vorschläge Brentanos tatsächlich nichts weiter als der Rat, die Maßgebliches und Unmaßgebliches Singer und Genossen außerhalb Deutschlands nirgend recht ernst genommen, sonst Die Mannheimer Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik weist Sind die Vorschläge Brentanos tatsächlich nichts weiter als der Rat, die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296075"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_356" prev="#ID_355"> Singer und Genossen außerhalb Deutschlands nirgend recht ernst genommen, sonst<lb/> würden sie in der Rechnung der Koalitionsversuche gegen das Reich schon eine nicht<lb/> unbedeutende Zahl sein. Ob das Spielen mit dem Revolutionsfeuer in Jena<lb/> ihnen eine höhere Einschätzung bei Nationen eintragen wird, denen das Ausehen<lb/> und das Aufblühn Deutschlands im Wege ist, bleibt abzuwarten. Jedenfalls wird<lb/> unsre auswärtige Politik immer um so richtiger sein, je schärfer sie von Herrn<lb/> Bebel verurteilt wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_357"> Die Mannheimer Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik weist<lb/> insofern einen erfreulichen Fortschritt auf, als endlich einmal den ideologischen<lb/> Professoren die harte Realität der Tatsache» gegenüber getreten ist. Die Herren<lb/> Schmoller und Brentano, um nur diese Namen zu nennen, leben mit ihren sozial¬<lb/> politischen Auffassungen in einer Welt von Ideen, die niemals zur Erfüllung ge¬<lb/> langen können; wer die Menschen regieren will, muß aber seiner Zeit angehören.<lb/> Professor Brentano steht bewußt oder unbewußt mit beiden Füßen auf dem Boden<lb/> der Sozialdemokratie, und nicht nur das: er geht ihr bahnbrechend voran, indem<lb/> er in seinen Theorien die wenigen letzten Dämme niederreißt, die bisher noch das<lb/> Hereinbrechen der wilden Fluten der Reichszerstörung aufgehalten haben. Bebel<lb/> empfiehlt in Jena den politischen Massenstreik zur Inszenierung der Revolution,<lb/> und acht Tage — oder weniger — darauf verlangt Professor Brentano statt des<lb/> gesetzlichen Schutzes der Arbeitswillige» den gesetzlichen Schutz für die Streitenden!<lb/> Den Arbeiterkoalitionen gegenüber ist unser öffentliches Recht doch längst in der<lb/> Rolle Gretchens: ich habe schon soviel für dich getan, daß mir zu tun fast nichts<lb/> mehr übrig bleibt! Von dem Augenblick an, wo der Jenenser Parteitag — gleich¬<lb/> viel ob man diesen Beschlüssen Ernst und Bedeutung beimessen will oder nicht —<lb/> den politischen Massenstreik zum revolutionären Kampfmittel gegen die monarchische<lb/> Staatsordnung proklamiert und diesen revolutionären Kampf zum Prinzip erhoben<lb/> hat, dessen Anwendung fortan nur noch eine Opportunitiitsfrage sein soll, hat sich<lb/> der Staat mit seiner Gesetzgebung nicht nur, sondern mit der Handhabung seiner<lb/> gesamten obrigkeitlichen Gewalt auf diesen Kampf einzurichten, bevor es zu spät ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_358" next="#ID_359"> Sind die Vorschläge Brentanos tatsächlich nichts weiter als der Rat, die<lb/> letzten Dämme und Schleusen zu durchstechen, so bewegen sich die vou Schmoller<lb/> in einem Wolkenkuckucksheim, für das in dieser Welt der harten Tatsachen mit ihrer<lb/> unerbittlichen Logik kein Raum ist. Ein neuer Beweis, daß man ein großer, hoch¬<lb/> geschätzter Gelehrter sein und doch deu Realitäten des praktischen Lebens recht<lb/> weltfremd gegenüberstehn kann. Es ist derselbe Professorenidealismns, an dem einst<lb/> das Werk der Frankfurter Nationalversammlung scheiterte. Deutschland sah sich<lb/> danach auf den Weg von Blut und Eisen verwiesen, um seine Politische Sicherheit<lb/> und Unabhängigkeit zu erreichen. Müssen wir zur Erreichung unsrer wirtschaft¬<lb/> lichen Sicherheit und der Unabhängigkeit von der Begehrlichkeit irregeleiteter Massen<lb/> denselben Weg gehn nach einem Vierteljahrhundert unuuterbrochner Sorge für die<lb/> Bewegungsfreiheit und für das Wohlergehn dieser Klassen, die dank so großer Für¬<lb/> sorge heute in einer guten Lage sind, wie sie sonst nirgends auf der Welt zu finden<lb/> ist? Gewiß mogen dem gutmütigen und gutgläubigen Prvfessvrentum die ernsten<lb/> Wahrheiten des Lebens, auf die der ehemalige Arbeiter, Geheimer Kommerzienrat<lb/> Kirdorf aus langjähriger Erfahrung hinwies, hart und rauh in die Ohren klingen,<lb/> es ist doch eben nur eine neue Bestätigung des alten Satzes: leicht beieinander wohnen<lb/> die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen; eine weithin verständliche<lb/> Veranschaulichung des unüberbrückbaren Gegensatzes von Ideal und Leben, von<lb/> Dichtung und Wahrheit, von Theorie und Praxis. Von den sozialpolitischen Gegnern<lb/> Kirdorfs, denen es ehrlich auf die Arbeit und ihr Gedeihen, nicht auf politische<lb/> Machtfragen ankommt, wird unter vier Augen wohl jeder zugeben, daß er an Kirdorfs<lb/> Stelle ebenso denken und handeln würde, vielleicht von den Bitterkeiten abgesehen,<lb/> die bei starken Charakteren die unvermeidliche Folge der gehässigen, verhetzenden und<lb/> persönlichen Art dieses Kampfes sind. Der Jenenser Parteitag und die Mannheimer</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0064]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Singer und Genossen außerhalb Deutschlands nirgend recht ernst genommen, sonst
würden sie in der Rechnung der Koalitionsversuche gegen das Reich schon eine nicht
unbedeutende Zahl sein. Ob das Spielen mit dem Revolutionsfeuer in Jena
ihnen eine höhere Einschätzung bei Nationen eintragen wird, denen das Ausehen
und das Aufblühn Deutschlands im Wege ist, bleibt abzuwarten. Jedenfalls wird
unsre auswärtige Politik immer um so richtiger sein, je schärfer sie von Herrn
Bebel verurteilt wird.
Die Mannheimer Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik weist
insofern einen erfreulichen Fortschritt auf, als endlich einmal den ideologischen
Professoren die harte Realität der Tatsache» gegenüber getreten ist. Die Herren
Schmoller und Brentano, um nur diese Namen zu nennen, leben mit ihren sozial¬
politischen Auffassungen in einer Welt von Ideen, die niemals zur Erfüllung ge¬
langen können; wer die Menschen regieren will, muß aber seiner Zeit angehören.
Professor Brentano steht bewußt oder unbewußt mit beiden Füßen auf dem Boden
der Sozialdemokratie, und nicht nur das: er geht ihr bahnbrechend voran, indem
er in seinen Theorien die wenigen letzten Dämme niederreißt, die bisher noch das
Hereinbrechen der wilden Fluten der Reichszerstörung aufgehalten haben. Bebel
empfiehlt in Jena den politischen Massenstreik zur Inszenierung der Revolution,
und acht Tage — oder weniger — darauf verlangt Professor Brentano statt des
gesetzlichen Schutzes der Arbeitswillige» den gesetzlichen Schutz für die Streitenden!
Den Arbeiterkoalitionen gegenüber ist unser öffentliches Recht doch längst in der
Rolle Gretchens: ich habe schon soviel für dich getan, daß mir zu tun fast nichts
mehr übrig bleibt! Von dem Augenblick an, wo der Jenenser Parteitag — gleich¬
viel ob man diesen Beschlüssen Ernst und Bedeutung beimessen will oder nicht —
den politischen Massenstreik zum revolutionären Kampfmittel gegen die monarchische
Staatsordnung proklamiert und diesen revolutionären Kampf zum Prinzip erhoben
hat, dessen Anwendung fortan nur noch eine Opportunitiitsfrage sein soll, hat sich
der Staat mit seiner Gesetzgebung nicht nur, sondern mit der Handhabung seiner
gesamten obrigkeitlichen Gewalt auf diesen Kampf einzurichten, bevor es zu spät ist.
Sind die Vorschläge Brentanos tatsächlich nichts weiter als der Rat, die
letzten Dämme und Schleusen zu durchstechen, so bewegen sich die vou Schmoller
in einem Wolkenkuckucksheim, für das in dieser Welt der harten Tatsachen mit ihrer
unerbittlichen Logik kein Raum ist. Ein neuer Beweis, daß man ein großer, hoch¬
geschätzter Gelehrter sein und doch deu Realitäten des praktischen Lebens recht
weltfremd gegenüberstehn kann. Es ist derselbe Professorenidealismns, an dem einst
das Werk der Frankfurter Nationalversammlung scheiterte. Deutschland sah sich
danach auf den Weg von Blut und Eisen verwiesen, um seine Politische Sicherheit
und Unabhängigkeit zu erreichen. Müssen wir zur Erreichung unsrer wirtschaft¬
lichen Sicherheit und der Unabhängigkeit von der Begehrlichkeit irregeleiteter Massen
denselben Weg gehn nach einem Vierteljahrhundert unuuterbrochner Sorge für die
Bewegungsfreiheit und für das Wohlergehn dieser Klassen, die dank so großer Für¬
sorge heute in einer guten Lage sind, wie sie sonst nirgends auf der Welt zu finden
ist? Gewiß mogen dem gutmütigen und gutgläubigen Prvfessvrentum die ernsten
Wahrheiten des Lebens, auf die der ehemalige Arbeiter, Geheimer Kommerzienrat
Kirdorf aus langjähriger Erfahrung hinwies, hart und rauh in die Ohren klingen,
es ist doch eben nur eine neue Bestätigung des alten Satzes: leicht beieinander wohnen
die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen; eine weithin verständliche
Veranschaulichung des unüberbrückbaren Gegensatzes von Ideal und Leben, von
Dichtung und Wahrheit, von Theorie und Praxis. Von den sozialpolitischen Gegnern
Kirdorfs, denen es ehrlich auf die Arbeit und ihr Gedeihen, nicht auf politische
Machtfragen ankommt, wird unter vier Augen wohl jeder zugeben, daß er an Kirdorfs
Stelle ebenso denken und handeln würde, vielleicht von den Bitterkeiten abgesehen,
die bei starken Charakteren die unvermeidliche Folge der gehässigen, verhetzenden und
persönlichen Art dieses Kampfes sind. Der Jenenser Parteitag und die Mannheimer
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