Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Der Verfassungskonflikt in Ungarn die Macht in die Hände gespielt hat, benutzen sie sie nur, durch staatlichen Um die nichtmagyarische Mehrheit der Bevölkerung niederzuhalten und Die Magyaren haben von alters her verstanden, politisch zu herrschen, Der Verfassungskonflikt in Ungarn die Macht in die Hände gespielt hat, benutzen sie sie nur, durch staatlichen Um die nichtmagyarische Mehrheit der Bevölkerung niederzuhalten und Die Magyaren haben von alters her verstanden, politisch zu herrschen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0637" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296648"/> <fw type="header" place="top"> Der Verfassungskonflikt in Ungarn</fw><lb/> <p xml:id="ID_3297" prev="#ID_3296"> die Macht in die Hände gespielt hat, benutzen sie sie nur, durch staatlichen<lb/> Druck zu magyarisieren; nur die politische Gewalt und die der herrschenden<lb/> Nation zufallenden materiellen Vorteile stehn ihnen dabei zu Gebote, von der<lb/> Wirkung einer überlegnen moralischen oder ökonomischen Begabung ist bei<lb/> ihnen nicht die Rede. Was in Ungarn an Kultur vorhanden ist, ist west¬<lb/> europäischen, vorwiegend deutschen Ursprungs, das wissen die im Lande lebenden<lb/> Nichtmagyaren sehr wohl und sehen nicht ein. warum sie sich in magyarischer<lb/> Übersetzung aufdringen lassen sollen, was sie sich ebenso gut in ihre Sprache<lb/> übertragen können. Trotz dem nahezu vierzigjährigen Besitze der vollkommnen<lb/> Staatsgewalt ist die Magyarisierung des Landes nur wenig vorgeschritten,<lb/> am wenigsten unter den Deutschen und den Rumänen, etwas mehr unter den<lb/> Slowaken, dagegen hat sich das zahlreiche Judentum fast ausschließlich magya-<lb/> risiert, was aber keineswegs alle Ungarn mit Befriedigung erfüllt, sondern<lb/> sogar eine starke antisemitische Strömung hervorgerufen hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_3298"> Um die nichtmagyarische Mehrheit der Bevölkerung niederzuhalten und<lb/> nicht zur Geltung kommen zu lassen, dazu dient die ungarische Verwaltung.<lb/> Wenn in Ungarn darum die Vorzüge der „avitischen" Komitatsverfassung ge¬<lb/> priesen werden, so hat das seinen guten Grund, im übrigen braucht man<lb/> dabei aber ja nicht an eine Selbstverwaltung nach englischem Muster zu denken.<lb/> Die heutige ungarische Verfassung ist übrigens nicht tausend Jahre alt und<lb/> keineswegs ein Werk Arpads. sondern ihr Grundsatz der Selbstverwaltung für<lb/> die Kreise und die Bezirke war aus Deutschland übernommen worden. Kossuth<lb/> wandelte dann die Komitate mit ihrer örtlichen Selbstverwaltung nach dem<lb/> Muster der französischen Präfekturen um, die wohl eine gewaltige Macht in<lb/> der Hand der jeweiligen Regierung vereinigen, aber zugleich auch unter dem<lb/> Drucke der Tcigespresfe mit ihren kapitalistischen Anschauungen und der<lb/> Stimmung der hauptstädtischen Volksmassen stehn. Unter diesen Umständen<lb/> hat eine künstlich genährte und unter dem Schutz der Verwaltung stehende,<lb/> besonders auch durch den Schulunterricht geförderte Strömung den heutigen<lb/> auffülligen Nationaldünkel großgezogen, der alle Einsicht in die politische<lb/> Stellung und die Machtverhültnisse Ungarns geradezu unterdrückt hat. Die<lb/> wirklichen Führer dabei sind eigentlich immer nur einige Zeitungschreiber, die<lb/> die hauptstädtischen Blätter für sich haben, und einige Advokaten, hinter denen<lb/> die von ihnen aufgestachelter Mafien der Straße stehn. Die von diesen<lb/> Kreisen durch Aufwerfen von „nationalen Fragen" erregten Stimmungen der<lb/> hauptstädtischen Massen — unter denen die Studenten nicht zu vergessen<lb/> sind — wirkten auch auf das Land, und die liberalen Regierungen gaben<lb/> ihnen um so mehr nach, als damit die Öffentlichkeit volle Beschäftigung er¬<lb/> hielt, und das Drängen nach Reformen übertönt wurde. Denn so rasch und<lb/> umfassend sich auch die historischen Parteien des Magyarentums die politischen<lb/> Handgriffe des modernen Liberalismus zu eigen gemacht hatten, um ihre<lb/> Herrschaft im Lande fest zu begründen und auf die Dauer zu sichern, so wenig<lb/> war ihre Verwaltung geeignet, das Land zufrieden zu stellen.</p><lb/> <p xml:id="ID_3299" next="#ID_3300"> Die Magyaren haben von alters her verstanden, politisch zu herrschen,<lb/> aber nicht zu verwalten. Über eine rein patriarchalische Verwaltung sind sie</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0637]
Der Verfassungskonflikt in Ungarn
die Macht in die Hände gespielt hat, benutzen sie sie nur, durch staatlichen
Druck zu magyarisieren; nur die politische Gewalt und die der herrschenden
Nation zufallenden materiellen Vorteile stehn ihnen dabei zu Gebote, von der
Wirkung einer überlegnen moralischen oder ökonomischen Begabung ist bei
ihnen nicht die Rede. Was in Ungarn an Kultur vorhanden ist, ist west¬
europäischen, vorwiegend deutschen Ursprungs, das wissen die im Lande lebenden
Nichtmagyaren sehr wohl und sehen nicht ein. warum sie sich in magyarischer
Übersetzung aufdringen lassen sollen, was sie sich ebenso gut in ihre Sprache
übertragen können. Trotz dem nahezu vierzigjährigen Besitze der vollkommnen
Staatsgewalt ist die Magyarisierung des Landes nur wenig vorgeschritten,
am wenigsten unter den Deutschen und den Rumänen, etwas mehr unter den
Slowaken, dagegen hat sich das zahlreiche Judentum fast ausschließlich magya-
risiert, was aber keineswegs alle Ungarn mit Befriedigung erfüllt, sondern
sogar eine starke antisemitische Strömung hervorgerufen hat.
Um die nichtmagyarische Mehrheit der Bevölkerung niederzuhalten und
nicht zur Geltung kommen zu lassen, dazu dient die ungarische Verwaltung.
Wenn in Ungarn darum die Vorzüge der „avitischen" Komitatsverfassung ge¬
priesen werden, so hat das seinen guten Grund, im übrigen braucht man
dabei aber ja nicht an eine Selbstverwaltung nach englischem Muster zu denken.
Die heutige ungarische Verfassung ist übrigens nicht tausend Jahre alt und
keineswegs ein Werk Arpads. sondern ihr Grundsatz der Selbstverwaltung für
die Kreise und die Bezirke war aus Deutschland übernommen worden. Kossuth
wandelte dann die Komitate mit ihrer örtlichen Selbstverwaltung nach dem
Muster der französischen Präfekturen um, die wohl eine gewaltige Macht in
der Hand der jeweiligen Regierung vereinigen, aber zugleich auch unter dem
Drucke der Tcigespresfe mit ihren kapitalistischen Anschauungen und der
Stimmung der hauptstädtischen Volksmassen stehn. Unter diesen Umständen
hat eine künstlich genährte und unter dem Schutz der Verwaltung stehende,
besonders auch durch den Schulunterricht geförderte Strömung den heutigen
auffülligen Nationaldünkel großgezogen, der alle Einsicht in die politische
Stellung und die Machtverhültnisse Ungarns geradezu unterdrückt hat. Die
wirklichen Führer dabei sind eigentlich immer nur einige Zeitungschreiber, die
die hauptstädtischen Blätter für sich haben, und einige Advokaten, hinter denen
die von ihnen aufgestachelter Mafien der Straße stehn. Die von diesen
Kreisen durch Aufwerfen von „nationalen Fragen" erregten Stimmungen der
hauptstädtischen Massen — unter denen die Studenten nicht zu vergessen
sind — wirkten auch auf das Land, und die liberalen Regierungen gaben
ihnen um so mehr nach, als damit die Öffentlichkeit volle Beschäftigung er¬
hielt, und das Drängen nach Reformen übertönt wurde. Denn so rasch und
umfassend sich auch die historischen Parteien des Magyarentums die politischen
Handgriffe des modernen Liberalismus zu eigen gemacht hatten, um ihre
Herrschaft im Lande fest zu begründen und auf die Dauer zu sichern, so wenig
war ihre Verwaltung geeignet, das Land zufrieden zu stellen.
Die Magyaren haben von alters her verstanden, politisch zu herrschen,
aber nicht zu verwalten. Über eine rein patriarchalische Verwaltung sind sie
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