Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Der Verfassungskonflikt in Ungarn Dutzend Gegenkönige hat man gewählt und ebenso oft das Haus Österreich Die Dinge in Ungarn nehmen sich nach den Zeitungsberichten freilich Der Verfassungskonflikt in Ungarn Dutzend Gegenkönige hat man gewählt und ebenso oft das Haus Österreich Die Dinge in Ungarn nehmen sich nach den Zeitungsberichten freilich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0634" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296645"/> <fw type="header" place="top"> Der Verfassungskonflikt in Ungarn</fw><lb/> <p xml:id="ID_3290" prev="#ID_3289"> Dutzend Gegenkönige hat man gewählt und ebenso oft das Haus Österreich<lb/> der Krone verlustig erklärt, das letztemal im Jahre 1849 unter Franz Kossuth.<lb/> Alle diese Versuche sind gescheitert, da die Kräfte der Ungarn niemals aus¬<lb/> gereicht haben, die Selbständigkeit zu erkämpfen, und die Niederlagen haben<lb/> immer wieder der opportunistischen Richtung zur Herrschaft verholfen, die im<lb/> Frieden mit Österreich das Heil des Volkes sucht. Daß der nationale<lb/> Chauvinismus seit einigen Jahren in Ungarn wieder mächtig ins Kraut ge¬<lb/> schossen ist, läßt sich nicht in Abrede stellen, aber das ist auch kaum zu ver¬<lb/> wundern in Zeiten, wo nationaler Chauvinismus allerorten sein Wesen treibt<lb/> und namentlich die kleinern Nationen ergriffen hat. Dagegen ist es eine nicht<lb/> gerechtfertigte Überschätzung der heutigen Bewegung in Ungarn, wenn man<lb/> daran die Tiraden vom „Zerfall Österreichs," die seit 1866 im Schwang sind<lb/> und vorher unbekannt waren, wieder aufzufrischen sucht, und wenn man die<lb/> politisch gänzlich unbedeutende Auflösung der skandinavischen Union als<lb/> warnenden Vorläufer für Österreich ansehen möchte. Von dergleichen kann<lb/> gar nicht die Rede sein. Die heutige Lage in Ungarn kann man nur ver¬<lb/> gleichen mit dem Berfafsungskonflikt in Preußen von 1861 bis 1866, und<lb/> die Lösung wird einzig und allein von der Haltung der Krone abhängen, wie<lb/> sie auch in Preußen, allerdings begünstigt durch die militärische Entscheidung<lb/> der deutschen Frage, von der Festigkeit des Königs Wilhelm abgehangen hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_3291" next="#ID_3292"> Die Dinge in Ungarn nehmen sich nach den Zeitungsberichten freilich<lb/> höchst bedenklich aus. Da sogar schon vielfach die wirtschaftliche und die<lb/> politische Voraussetzung der Reichsgemeinschaft zwischen Österreich und Ungarn<lb/> in Abrede gestellt wird, so scheint schon der Grund ins Wanken geraten zu<lb/> sein, auf dem das ehrwürdige Gebäude der Habsburgischen Monarchie errichtet<lb/> worden ist. Es liegt trotzdem keine Notwendigkeit vor, aus dem Zeitungs¬<lb/> und dem Parlamentslärm der Gegenwart den voreiligen Schluß zu ziehn, daß<lb/> eine neue Kraft über die Ungarn gekommen sei, die sie befähigte, den Konflikt<lb/> mit der Krone diesesmal zu ihren Gunsten zu entscheiden, während ihnen das<lb/> doch früher niemals gelungen ist. Fassen wir nur die Zeit nach dem Dreißig¬<lb/> jährigen Kriege, seit dem die Festigung der österreichischen Monarchie vor sich<lb/> gegangen ist, ins Auge, so ist es Tatsache, daß seit der großen Magnaten¬<lb/> verschwörung vom Jahre 1665 bis in die neuste Zeit fast fortwährend Fehden,<lb/> Kämpfe und Verfassungsstreitigkeiten gegen Österreich und das Haus Habs¬<lb/> burg stattgefunden haben, die in keinem Falle endgiltig zugunsten Ungarns<lb/> ausgeschlagen sind. Der Ausgleich von 1867 hat den Frieden noch nicht ge¬<lb/> bracht, obgleich er den Ungarn alles bewilligte. Konnten sie früher mit weniger<lb/> oder mehr Recht behaupten, daß die Krone ihre Hoffnungen und Erwartungen<lb/> wiederholt getäuscht habe, so läßt sich jetzt diese Behauptung nicht geltend<lb/> machen. Es besteht doch wohl außerhalb Ungarns kein Zweifel darüber, daß<lb/> es sich bloß um magyarische Begehrlichkeiten handelt, die im Kampfe durchaus<lb/> nicht jenes Kraftgefühl verleihen, das das beleidigte Rechtsbewußtsein zu be¬<lb/> gleiten pflegt. Wenn schließlich die „ritterlichen" Magyarenführer auf die<lb/> Schwäche des greisen Kaisers Franz Joseph gerechnet haben, so haben sie sich<lb/> eben getäuscht. Wer nicht vom Wahne des zukünftigen „Zerfalls von Oster-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0634]
Der Verfassungskonflikt in Ungarn
Dutzend Gegenkönige hat man gewählt und ebenso oft das Haus Österreich
der Krone verlustig erklärt, das letztemal im Jahre 1849 unter Franz Kossuth.
Alle diese Versuche sind gescheitert, da die Kräfte der Ungarn niemals aus¬
gereicht haben, die Selbständigkeit zu erkämpfen, und die Niederlagen haben
immer wieder der opportunistischen Richtung zur Herrschaft verholfen, die im
Frieden mit Österreich das Heil des Volkes sucht. Daß der nationale
Chauvinismus seit einigen Jahren in Ungarn wieder mächtig ins Kraut ge¬
schossen ist, läßt sich nicht in Abrede stellen, aber das ist auch kaum zu ver¬
wundern in Zeiten, wo nationaler Chauvinismus allerorten sein Wesen treibt
und namentlich die kleinern Nationen ergriffen hat. Dagegen ist es eine nicht
gerechtfertigte Überschätzung der heutigen Bewegung in Ungarn, wenn man
daran die Tiraden vom „Zerfall Österreichs," die seit 1866 im Schwang sind
und vorher unbekannt waren, wieder aufzufrischen sucht, und wenn man die
politisch gänzlich unbedeutende Auflösung der skandinavischen Union als
warnenden Vorläufer für Österreich ansehen möchte. Von dergleichen kann
gar nicht die Rede sein. Die heutige Lage in Ungarn kann man nur ver¬
gleichen mit dem Berfafsungskonflikt in Preußen von 1861 bis 1866, und
die Lösung wird einzig und allein von der Haltung der Krone abhängen, wie
sie auch in Preußen, allerdings begünstigt durch die militärische Entscheidung
der deutschen Frage, von der Festigkeit des Königs Wilhelm abgehangen hat.
Die Dinge in Ungarn nehmen sich nach den Zeitungsberichten freilich
höchst bedenklich aus. Da sogar schon vielfach die wirtschaftliche und die
politische Voraussetzung der Reichsgemeinschaft zwischen Österreich und Ungarn
in Abrede gestellt wird, so scheint schon der Grund ins Wanken geraten zu
sein, auf dem das ehrwürdige Gebäude der Habsburgischen Monarchie errichtet
worden ist. Es liegt trotzdem keine Notwendigkeit vor, aus dem Zeitungs¬
und dem Parlamentslärm der Gegenwart den voreiligen Schluß zu ziehn, daß
eine neue Kraft über die Ungarn gekommen sei, die sie befähigte, den Konflikt
mit der Krone diesesmal zu ihren Gunsten zu entscheiden, während ihnen das
doch früher niemals gelungen ist. Fassen wir nur die Zeit nach dem Dreißig¬
jährigen Kriege, seit dem die Festigung der österreichischen Monarchie vor sich
gegangen ist, ins Auge, so ist es Tatsache, daß seit der großen Magnaten¬
verschwörung vom Jahre 1665 bis in die neuste Zeit fast fortwährend Fehden,
Kämpfe und Verfassungsstreitigkeiten gegen Österreich und das Haus Habs¬
burg stattgefunden haben, die in keinem Falle endgiltig zugunsten Ungarns
ausgeschlagen sind. Der Ausgleich von 1867 hat den Frieden noch nicht ge¬
bracht, obgleich er den Ungarn alles bewilligte. Konnten sie früher mit weniger
oder mehr Recht behaupten, daß die Krone ihre Hoffnungen und Erwartungen
wiederholt getäuscht habe, so läßt sich jetzt diese Behauptung nicht geltend
machen. Es besteht doch wohl außerhalb Ungarns kein Zweifel darüber, daß
es sich bloß um magyarische Begehrlichkeiten handelt, die im Kampfe durchaus
nicht jenes Kraftgefühl verleihen, das das beleidigte Rechtsbewußtsein zu be¬
gleiten pflegt. Wenn schließlich die „ritterlichen" Magyarenführer auf die
Schwäche des greisen Kaisers Franz Joseph gerechnet haben, so haben sie sich
eben getäuscht. Wer nicht vom Wahne des zukünftigen „Zerfalls von Oster-
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