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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Warum?

Heiligtum verbrannt habe und meine Kinder in die Verbannung und unter die
Völker geschickt. -- Weißt du, was das bedeutet, mein Jungck? Nein, du weißt
es nicht!

Und mit müder, eintöniger Stimme begann er von der wirklichen Geschichte
der Zeit zu erzählen, die der Verbrennung des Heiligtums vorangegangen war. Er
vertiefte sich so darein, daß selbst ihm die Viertelstunden kurz, und seine Bürde
leicht wurde.

Indem er so dahinwandelte, hatte er seine einzigen beiden Lebensgüter bei¬
einander, seinen Sohn und die Vergangenheit. Ihn erquickte keine andre Liebe
als die seines Moritzchens; ob sein Gott ihm gnädig bleibe, das war die Frage.
Ihm lachte nicht die Natur; ihn stählte und erhob kein mutiges Schaffen. Die
Toten von Jahrtausenden waren die heimlichen Herrscher über sein innerstes Leben.

Aber die strahlende Lichterscheinung der untergegangnen Herrlichkeit seines Volkes
warf noch immer etwas wie ein Abendrot in sein Leben. Sie war noch immer in
den nachgebornen Seelen die Quelle der zähen Ausdauer und des Stolzes.

Meyer Plutus gedachte nicht immer, vielleicht nicht einmal täglich des Schicksals
seines Volkes, aber doch hatte es sich in sein Antlitz hinein geprägt -- in dieses
Antlitz, das auch jetzt noch nicht alle Tage gewaschen wurde, obwohl die Wasser¬
armut Palästinas das nicht mehr entschuldigte. Die Leute, zu denen sein Geschäft
ihn führte, hafteten liebend an ihrem Boden, von dessen Geschichte sie kaum irgend
etwas wußten. Er dagegen wanderte über dieses Land, das nicht seine Heimat
war, und das er auch keinen Augenblick dafür hielt -- und sein bestes Wesen
wurzelte tief und beständig in einem fernen Lande, das er nie gesehen hatte. Wie
ein dürres, verwestes Blatt flog er vor dem Winde. Wenn dieses braune Blatt
in einem Winkel zur Besinnung kam, so träumte es von dem starken grünen Baum,
Von dem es losgerissen worden war. Der geheime Grund seines Lebens blieb
diese Erinnerung, die ewig jung war, obgleich der Staub von Jahrtausenden
darüber liegt. Schrecken aus alter Zeit gingen ihm durchs Herz, wenn er seinem
Söhnchen erzählte; Schatten aus verfallnen Mauern flatterten vor ihm auf.

Moritz hatte bisher noch wenig über seinesgleichen nachgedacht, vielmehr den
Gegensatz zu den übrigen Leuten, der ihn und seinen Vater zu Fremden stempelte,
durch dessen Gewerbe oder durch das Fehlen der Mutter erklärt. Er hatte es bisher
noch nicht erfaßt, daß es etwas so unvergleichlich seltsames mit ihnen sei. Und
nun hörte er ihn, den bescheidnen Hausierer, von einem königlichen Geschlecht un¬
berechenbaren Alters erzählen, wie aus Familienanfzeichnungen!

Er dachte jetzt nicht mehr an die Stadt. Keinmal wandte er mehr den Kopf
zurück. Ohne es zu wissen, hatte er seine kleine Hand in die des Vaters geschoben
und achtete nicht auf den holprigen Weg. Ein feines Knistern war in der Luft,
und dichte, körnige Schneekristalle Prickelten ihnen das Gesicht; der Wind über¬
schüttete sie manchmal damit. Sie aber zogen durch das Gebirge Juda und die
Ebne Jesreel und sahen die Schlachten, in denen Jehova ihre Rosse, ihre Wagen
und ihr Fußvolk zum Siege geführt hatte. Und dann zogen sie durch die Glut
blendenden Sonnenscheins zum Tempel hinauf.

Meyer Plutus schilderte, durchglüht von Schmerz und Stolz, die Herrlichkeit
Salomos, und wie die Königin von Saba gekommen wäre, seine Weisheit zu hören
und seinen Reichtum zu sehen -- und wie die Völker seine Bundesfreundschaft ge¬
sucht hätten; wie Jehova seine Auserwählten selbst geleitet, selbst zu ihnen ge¬
sprochen und sie zu immer höherer Glorie hinangeführt hätte; wie ringsum die
Heiden nicht wert gewesen seien, das Angesicht zu Israel zu erheben.

Ein heftiger Windstoß warf den Kleinen fast um und weckte ihn aus seinem
Traume. Und du -- sagte er, sich langsam auf die Wirklichkeit besinnend, du --
warum gehst denn du jetzt hier?

Der Vater blieb stehn und sah ganz erschrocken aus, als sei er von irgendwo
herabgestürzt. Sein Atem flog, und sein Gesicht war erhitzt von der doppelten
Anstrengung des Tragens und des Sprechens im Winde. Ja warum? erwiderte


Warum?

Heiligtum verbrannt habe und meine Kinder in die Verbannung und unter die
Völker geschickt. — Weißt du, was das bedeutet, mein Jungck? Nein, du weißt
es nicht!

Und mit müder, eintöniger Stimme begann er von der wirklichen Geschichte
der Zeit zu erzählen, die der Verbrennung des Heiligtums vorangegangen war. Er
vertiefte sich so darein, daß selbst ihm die Viertelstunden kurz, und seine Bürde
leicht wurde.

Indem er so dahinwandelte, hatte er seine einzigen beiden Lebensgüter bei¬
einander, seinen Sohn und die Vergangenheit. Ihn erquickte keine andre Liebe
als die seines Moritzchens; ob sein Gott ihm gnädig bleibe, das war die Frage.
Ihm lachte nicht die Natur; ihn stählte und erhob kein mutiges Schaffen. Die
Toten von Jahrtausenden waren die heimlichen Herrscher über sein innerstes Leben.

Aber die strahlende Lichterscheinung der untergegangnen Herrlichkeit seines Volkes
warf noch immer etwas wie ein Abendrot in sein Leben. Sie war noch immer in
den nachgebornen Seelen die Quelle der zähen Ausdauer und des Stolzes.

Meyer Plutus gedachte nicht immer, vielleicht nicht einmal täglich des Schicksals
seines Volkes, aber doch hatte es sich in sein Antlitz hinein geprägt — in dieses
Antlitz, das auch jetzt noch nicht alle Tage gewaschen wurde, obwohl die Wasser¬
armut Palästinas das nicht mehr entschuldigte. Die Leute, zu denen sein Geschäft
ihn führte, hafteten liebend an ihrem Boden, von dessen Geschichte sie kaum irgend
etwas wußten. Er dagegen wanderte über dieses Land, das nicht seine Heimat
war, und das er auch keinen Augenblick dafür hielt — und sein bestes Wesen
wurzelte tief und beständig in einem fernen Lande, das er nie gesehen hatte. Wie
ein dürres, verwestes Blatt flog er vor dem Winde. Wenn dieses braune Blatt
in einem Winkel zur Besinnung kam, so träumte es von dem starken grünen Baum,
Von dem es losgerissen worden war. Der geheime Grund seines Lebens blieb
diese Erinnerung, die ewig jung war, obgleich der Staub von Jahrtausenden
darüber liegt. Schrecken aus alter Zeit gingen ihm durchs Herz, wenn er seinem
Söhnchen erzählte; Schatten aus verfallnen Mauern flatterten vor ihm auf.

Moritz hatte bisher noch wenig über seinesgleichen nachgedacht, vielmehr den
Gegensatz zu den übrigen Leuten, der ihn und seinen Vater zu Fremden stempelte,
durch dessen Gewerbe oder durch das Fehlen der Mutter erklärt. Er hatte es bisher
noch nicht erfaßt, daß es etwas so unvergleichlich seltsames mit ihnen sei. Und
nun hörte er ihn, den bescheidnen Hausierer, von einem königlichen Geschlecht un¬
berechenbaren Alters erzählen, wie aus Familienanfzeichnungen!

Er dachte jetzt nicht mehr an die Stadt. Keinmal wandte er mehr den Kopf
zurück. Ohne es zu wissen, hatte er seine kleine Hand in die des Vaters geschoben
und achtete nicht auf den holprigen Weg. Ein feines Knistern war in der Luft,
und dichte, körnige Schneekristalle Prickelten ihnen das Gesicht; der Wind über¬
schüttete sie manchmal damit. Sie aber zogen durch das Gebirge Juda und die
Ebne Jesreel und sahen die Schlachten, in denen Jehova ihre Rosse, ihre Wagen
und ihr Fußvolk zum Siege geführt hatte. Und dann zogen sie durch die Glut
blendenden Sonnenscheins zum Tempel hinauf.

Meyer Plutus schilderte, durchglüht von Schmerz und Stolz, die Herrlichkeit
Salomos, und wie die Königin von Saba gekommen wäre, seine Weisheit zu hören
und seinen Reichtum zu sehen — und wie die Völker seine Bundesfreundschaft ge¬
sucht hätten; wie Jehova seine Auserwählten selbst geleitet, selbst zu ihnen ge¬
sprochen und sie zu immer höherer Glorie hinangeführt hätte; wie ringsum die
Heiden nicht wert gewesen seien, das Angesicht zu Israel zu erheben.

Ein heftiger Windstoß warf den Kleinen fast um und weckte ihn aus seinem
Traume. Und du — sagte er, sich langsam auf die Wirklichkeit besinnend, du —
warum gehst denn du jetzt hier?

Der Vater blieb stehn und sah ganz erschrocken aus, als sei er von irgendwo
herabgestürzt. Sein Atem flog, und sein Gesicht war erhitzt von der doppelten
Anstrengung des Tragens und des Sprechens im Winde. Ja warum? erwiderte


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[0624] Warum? Heiligtum verbrannt habe und meine Kinder in die Verbannung und unter die Völker geschickt. — Weißt du, was das bedeutet, mein Jungck? Nein, du weißt es nicht! Und mit müder, eintöniger Stimme begann er von der wirklichen Geschichte der Zeit zu erzählen, die der Verbrennung des Heiligtums vorangegangen war. Er vertiefte sich so darein, daß selbst ihm die Viertelstunden kurz, und seine Bürde leicht wurde. Indem er so dahinwandelte, hatte er seine einzigen beiden Lebensgüter bei¬ einander, seinen Sohn und die Vergangenheit. Ihn erquickte keine andre Liebe als die seines Moritzchens; ob sein Gott ihm gnädig bleibe, das war die Frage. Ihm lachte nicht die Natur; ihn stählte und erhob kein mutiges Schaffen. Die Toten von Jahrtausenden waren die heimlichen Herrscher über sein innerstes Leben. Aber die strahlende Lichterscheinung der untergegangnen Herrlichkeit seines Volkes warf noch immer etwas wie ein Abendrot in sein Leben. Sie war noch immer in den nachgebornen Seelen die Quelle der zähen Ausdauer und des Stolzes. Meyer Plutus gedachte nicht immer, vielleicht nicht einmal täglich des Schicksals seines Volkes, aber doch hatte es sich in sein Antlitz hinein geprägt — in dieses Antlitz, das auch jetzt noch nicht alle Tage gewaschen wurde, obwohl die Wasser¬ armut Palästinas das nicht mehr entschuldigte. Die Leute, zu denen sein Geschäft ihn führte, hafteten liebend an ihrem Boden, von dessen Geschichte sie kaum irgend etwas wußten. Er dagegen wanderte über dieses Land, das nicht seine Heimat war, und das er auch keinen Augenblick dafür hielt — und sein bestes Wesen wurzelte tief und beständig in einem fernen Lande, das er nie gesehen hatte. Wie ein dürres, verwestes Blatt flog er vor dem Winde. Wenn dieses braune Blatt in einem Winkel zur Besinnung kam, so träumte es von dem starken grünen Baum, Von dem es losgerissen worden war. Der geheime Grund seines Lebens blieb diese Erinnerung, die ewig jung war, obgleich der Staub von Jahrtausenden darüber liegt. Schrecken aus alter Zeit gingen ihm durchs Herz, wenn er seinem Söhnchen erzählte; Schatten aus verfallnen Mauern flatterten vor ihm auf. Moritz hatte bisher noch wenig über seinesgleichen nachgedacht, vielmehr den Gegensatz zu den übrigen Leuten, der ihn und seinen Vater zu Fremden stempelte, durch dessen Gewerbe oder durch das Fehlen der Mutter erklärt. Er hatte es bisher noch nicht erfaßt, daß es etwas so unvergleichlich seltsames mit ihnen sei. Und nun hörte er ihn, den bescheidnen Hausierer, von einem königlichen Geschlecht un¬ berechenbaren Alters erzählen, wie aus Familienanfzeichnungen! Er dachte jetzt nicht mehr an die Stadt. Keinmal wandte er mehr den Kopf zurück. Ohne es zu wissen, hatte er seine kleine Hand in die des Vaters geschoben und achtete nicht auf den holprigen Weg. Ein feines Knistern war in der Luft, und dichte, körnige Schneekristalle Prickelten ihnen das Gesicht; der Wind über¬ schüttete sie manchmal damit. Sie aber zogen durch das Gebirge Juda und die Ebne Jesreel und sahen die Schlachten, in denen Jehova ihre Rosse, ihre Wagen und ihr Fußvolk zum Siege geführt hatte. Und dann zogen sie durch die Glut blendenden Sonnenscheins zum Tempel hinauf. Meyer Plutus schilderte, durchglüht von Schmerz und Stolz, die Herrlichkeit Salomos, und wie die Königin von Saba gekommen wäre, seine Weisheit zu hören und seinen Reichtum zu sehen — und wie die Völker seine Bundesfreundschaft ge¬ sucht hätten; wie Jehova seine Auserwählten selbst geleitet, selbst zu ihnen ge¬ sprochen und sie zu immer höherer Glorie hinangeführt hätte; wie ringsum die Heiden nicht wert gewesen seien, das Angesicht zu Israel zu erheben. Ein heftiger Windstoß warf den Kleinen fast um und weckte ihn aus seinem Traume. Und du — sagte er, sich langsam auf die Wirklichkeit besinnend, du — warum gehst denn du jetzt hier? Der Vater blieb stehn und sah ganz erschrocken aus, als sei er von irgendwo herabgestürzt. Sein Atem flog, und sein Gesicht war erhitzt von der doppelten Anstrengung des Tragens und des Sprechens im Winde. Ja warum? erwiderte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/624>, abgerufen am 15.01.2025.