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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Nach der Hühnersnchl:

waren alle möglichen Kleidungsstücke verstreut, aus dem Waschnapf war ein hand¬
großes Stück am Rande ausgebrochen, und im Halse der Wasserflasche steckte die
Kerze, die an ihrem untern Ende mit Werg umwickelt war, damit sie nicht in den
sonderbaren Leuchter hineinrutschte. Wohin der Blick auch fiel, überall stand es
mit unsichtbarer Schrift geschrieben, daß in diese tolle Wirtschaft niemals eine
weibliche Hand ordnend eingriff!

Nachdem ich die Taschen verschiedner Kleidungsstücke vergebens durchsucht hatte,
fand ich endlich das Beinkleid, von dem ich mich zu entsinnen glaubte, daß es der
Professor am letzten Abend getragen hatte. Richtig: da war auch der mir wohl¬
bekannte Schlüssel! Ich holte ihn aus dem Versteck, worin ein wurmstichiges
Äpfelchen, ein Fingerhut und ein Patronenzieher seine Gefährten gewesen waren,
hervor und eilte mit meiner Beute die Treppe hinab. Wenig Augenblicke später
stand ich in der Bibliothek, suchte mir den ominösen Band aus dem Schrank und
trennte mit einem einzigen Schnitt meines Weidmessers das Blatt heraus, das
meinen Namenszug trug.

Zum Glück fand ich im Kamin noch ein paar glühende Kohlen, über denen
das unselige Papier bald in Flammen ausging. Ich hockte davor, bis das letzte
Fünkchen verglommen war, zerkrümelte die knittrige Asche zu feinem Staub, stellte
das Buch an seinen Platz, schloß sorgfältig wieder ab und brachte den Schlüssel
an den Ort zurück, wo ich ihn gefunden hatte. Dann eilte ich in mein Zimmer,
packte meinen Rucksack, nahm den Drilling über die Schulter, rannte zur Haustür,
riegelte sie auf, ergriff das Hirschgeweih und lief, so schnell mich die Füße trugen,
auf dem Wege davon, ans dem mich der Wagen nach Hellental gebracht hatte.

Ich hatte eben die Wiese erreicht, deren östlicher Zipfel schon zu dem Beck-
witzer Revier meines Gönners K. gehörte, als hinter mir die Turmuhr des Hellen¬
taler Schlosses dreiviertel eins schlug. Nun wußte ich, daß es eine alte Gepflogen¬
heit aller Spukgeister ist, ihre Exkursionen nicht über die Mitternachtsstunde
auszudehnen, und glaubte deshalb münchner zu dürfen, daß Baron Sparr mit
seiner Jagdgesellschaft auf dem Heimwege begriffen sein müsse. Da sie vermutlich
von Osten oder von Nordosten her kamen, so hätte ich also leicht noch auf dein
Hellentaler Revier mit ihnen zusammenstoßen können, wobei dann peinliche
Auseinandersetzungen nicht zu vermeiden gewesen wären. Dem wollte ich be¬
greiflicherweise aus dem Wege gehn, nahm, obgleich ich kaum noch von der Stelle
konnte, meine letzte Kraft zusammen und ruhte nicht eher, als bis ich den "Stillen
Winkel" und damit den Damm der Benker Teiche erreicht hatte.

Nun war ich jeder Gefahr entronnen, jetzt durfte ich ein Weilchen stehn bleiben,
mich für einen Augenblick meiner Last entledigen und ein paar Minuten verschnaufen.
Aber die Nachtluft war eisigkalt, und ich fühlte, wie mein durch den Dauerlauf er¬
hitzter Körper unter dem scharfen Hauche des Nordostwindes zusammenschauderte.
Was sollte ich tun? Nach Beckwitz gehn und im Gasthause Unterkunft suchen?
Aber das wäre zwecklos gewesen: zu so später Stunde hätte ich dort sicherlich keinen
Einlaß gefunden. Am besten war es, ich wanderte nach Torgau und verbrachte
dort den Nest der Nacht im Wartcsanl des Bahnhofs.

Ich nahm also mein Geweih wieder auf, drückte den Hut fest in die Stirn
und kämpfte rüstig gegen den Wind an, bis ich den Wald erreicht hatte. Dann
aber war ich mit meinen Kräften zu Ende, ich mußte mich niedersetzen und meinen
brennenden Füßen Ruhe gönnen. Zum Glück fand ich unter einer alten Kiefer
ein Plätzchen, das mir hinreichend Schutz gegen den Wind bot und mir erlaubte,
es mir einigermaßen bequem zu machen.

^ Als ich dort saß, war es mir, als ob ich in weiter Ferne Enlengeschrei und
Hundegebell vernähme. Da kommt die Hellentaler Gesellschaft zurück, dachte ich,
sehr pünktlich scheinen die Herrschaften gerade nicht zu sein! Und es versetzte mich
in die behaglichste Stimmung, als ich mir vorstellte, was für ein langes Gesicht
Herr Samiel machen würde, wenn er am nächsten Morgen dahinter kam, daß der
Vogel ausgeflogen war. Ich griff noch einmal nach dem Hirschgeweih, zog es


Nach der Hühnersnchl:

waren alle möglichen Kleidungsstücke verstreut, aus dem Waschnapf war ein hand¬
großes Stück am Rande ausgebrochen, und im Halse der Wasserflasche steckte die
Kerze, die an ihrem untern Ende mit Werg umwickelt war, damit sie nicht in den
sonderbaren Leuchter hineinrutschte. Wohin der Blick auch fiel, überall stand es
mit unsichtbarer Schrift geschrieben, daß in diese tolle Wirtschaft niemals eine
weibliche Hand ordnend eingriff!

Nachdem ich die Taschen verschiedner Kleidungsstücke vergebens durchsucht hatte,
fand ich endlich das Beinkleid, von dem ich mich zu entsinnen glaubte, daß es der
Professor am letzten Abend getragen hatte. Richtig: da war auch der mir wohl¬
bekannte Schlüssel! Ich holte ihn aus dem Versteck, worin ein wurmstichiges
Äpfelchen, ein Fingerhut und ein Patronenzieher seine Gefährten gewesen waren,
hervor und eilte mit meiner Beute die Treppe hinab. Wenig Augenblicke später
stand ich in der Bibliothek, suchte mir den ominösen Band aus dem Schrank und
trennte mit einem einzigen Schnitt meines Weidmessers das Blatt heraus, das
meinen Namenszug trug.

Zum Glück fand ich im Kamin noch ein paar glühende Kohlen, über denen
das unselige Papier bald in Flammen ausging. Ich hockte davor, bis das letzte
Fünkchen verglommen war, zerkrümelte die knittrige Asche zu feinem Staub, stellte
das Buch an seinen Platz, schloß sorgfältig wieder ab und brachte den Schlüssel
an den Ort zurück, wo ich ihn gefunden hatte. Dann eilte ich in mein Zimmer,
packte meinen Rucksack, nahm den Drilling über die Schulter, rannte zur Haustür,
riegelte sie auf, ergriff das Hirschgeweih und lief, so schnell mich die Füße trugen,
auf dem Wege davon, ans dem mich der Wagen nach Hellental gebracht hatte.

Ich hatte eben die Wiese erreicht, deren östlicher Zipfel schon zu dem Beck-
witzer Revier meines Gönners K. gehörte, als hinter mir die Turmuhr des Hellen¬
taler Schlosses dreiviertel eins schlug. Nun wußte ich, daß es eine alte Gepflogen¬
heit aller Spukgeister ist, ihre Exkursionen nicht über die Mitternachtsstunde
auszudehnen, und glaubte deshalb münchner zu dürfen, daß Baron Sparr mit
seiner Jagdgesellschaft auf dem Heimwege begriffen sein müsse. Da sie vermutlich
von Osten oder von Nordosten her kamen, so hätte ich also leicht noch auf dein
Hellentaler Revier mit ihnen zusammenstoßen können, wobei dann peinliche
Auseinandersetzungen nicht zu vermeiden gewesen wären. Dem wollte ich be¬
greiflicherweise aus dem Wege gehn, nahm, obgleich ich kaum noch von der Stelle
konnte, meine letzte Kraft zusammen und ruhte nicht eher, als bis ich den „Stillen
Winkel" und damit den Damm der Benker Teiche erreicht hatte.

Nun war ich jeder Gefahr entronnen, jetzt durfte ich ein Weilchen stehn bleiben,
mich für einen Augenblick meiner Last entledigen und ein paar Minuten verschnaufen.
Aber die Nachtluft war eisigkalt, und ich fühlte, wie mein durch den Dauerlauf er¬
hitzter Körper unter dem scharfen Hauche des Nordostwindes zusammenschauderte.
Was sollte ich tun? Nach Beckwitz gehn und im Gasthause Unterkunft suchen?
Aber das wäre zwecklos gewesen: zu so später Stunde hätte ich dort sicherlich keinen
Einlaß gefunden. Am besten war es, ich wanderte nach Torgau und verbrachte
dort den Nest der Nacht im Wartcsanl des Bahnhofs.

Ich nahm also mein Geweih wieder auf, drückte den Hut fest in die Stirn
und kämpfte rüstig gegen den Wind an, bis ich den Wald erreicht hatte. Dann
aber war ich mit meinen Kräften zu Ende, ich mußte mich niedersetzen und meinen
brennenden Füßen Ruhe gönnen. Zum Glück fand ich unter einer alten Kiefer
ein Plätzchen, das mir hinreichend Schutz gegen den Wind bot und mir erlaubte,
es mir einigermaßen bequem zu machen.

^ Als ich dort saß, war es mir, als ob ich in weiter Ferne Enlengeschrei und
Hundegebell vernähme. Da kommt die Hellentaler Gesellschaft zurück, dachte ich,
sehr pünktlich scheinen die Herrschaften gerade nicht zu sein! Und es versetzte mich
in die behaglichste Stimmung, als ich mir vorstellte, was für ein langes Gesicht
Herr Samiel machen würde, wenn er am nächsten Morgen dahinter kam, daß der
Vogel ausgeflogen war. Ich griff noch einmal nach dem Hirschgeweih, zog es


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[0561] Nach der Hühnersnchl: waren alle möglichen Kleidungsstücke verstreut, aus dem Waschnapf war ein hand¬ großes Stück am Rande ausgebrochen, und im Halse der Wasserflasche steckte die Kerze, die an ihrem untern Ende mit Werg umwickelt war, damit sie nicht in den sonderbaren Leuchter hineinrutschte. Wohin der Blick auch fiel, überall stand es mit unsichtbarer Schrift geschrieben, daß in diese tolle Wirtschaft niemals eine weibliche Hand ordnend eingriff! Nachdem ich die Taschen verschiedner Kleidungsstücke vergebens durchsucht hatte, fand ich endlich das Beinkleid, von dem ich mich zu entsinnen glaubte, daß es der Professor am letzten Abend getragen hatte. Richtig: da war auch der mir wohl¬ bekannte Schlüssel! Ich holte ihn aus dem Versteck, worin ein wurmstichiges Äpfelchen, ein Fingerhut und ein Patronenzieher seine Gefährten gewesen waren, hervor und eilte mit meiner Beute die Treppe hinab. Wenig Augenblicke später stand ich in der Bibliothek, suchte mir den ominösen Band aus dem Schrank und trennte mit einem einzigen Schnitt meines Weidmessers das Blatt heraus, das meinen Namenszug trug. Zum Glück fand ich im Kamin noch ein paar glühende Kohlen, über denen das unselige Papier bald in Flammen ausging. Ich hockte davor, bis das letzte Fünkchen verglommen war, zerkrümelte die knittrige Asche zu feinem Staub, stellte das Buch an seinen Platz, schloß sorgfältig wieder ab und brachte den Schlüssel an den Ort zurück, wo ich ihn gefunden hatte. Dann eilte ich in mein Zimmer, packte meinen Rucksack, nahm den Drilling über die Schulter, rannte zur Haustür, riegelte sie auf, ergriff das Hirschgeweih und lief, so schnell mich die Füße trugen, auf dem Wege davon, ans dem mich der Wagen nach Hellental gebracht hatte. Ich hatte eben die Wiese erreicht, deren östlicher Zipfel schon zu dem Beck- witzer Revier meines Gönners K. gehörte, als hinter mir die Turmuhr des Hellen¬ taler Schlosses dreiviertel eins schlug. Nun wußte ich, daß es eine alte Gepflogen¬ heit aller Spukgeister ist, ihre Exkursionen nicht über die Mitternachtsstunde auszudehnen, und glaubte deshalb münchner zu dürfen, daß Baron Sparr mit seiner Jagdgesellschaft auf dem Heimwege begriffen sein müsse. Da sie vermutlich von Osten oder von Nordosten her kamen, so hätte ich also leicht noch auf dein Hellentaler Revier mit ihnen zusammenstoßen können, wobei dann peinliche Auseinandersetzungen nicht zu vermeiden gewesen wären. Dem wollte ich be¬ greiflicherweise aus dem Wege gehn, nahm, obgleich ich kaum noch von der Stelle konnte, meine letzte Kraft zusammen und ruhte nicht eher, als bis ich den „Stillen Winkel" und damit den Damm der Benker Teiche erreicht hatte. Nun war ich jeder Gefahr entronnen, jetzt durfte ich ein Weilchen stehn bleiben, mich für einen Augenblick meiner Last entledigen und ein paar Minuten verschnaufen. Aber die Nachtluft war eisigkalt, und ich fühlte, wie mein durch den Dauerlauf er¬ hitzter Körper unter dem scharfen Hauche des Nordostwindes zusammenschauderte. Was sollte ich tun? Nach Beckwitz gehn und im Gasthause Unterkunft suchen? Aber das wäre zwecklos gewesen: zu so später Stunde hätte ich dort sicherlich keinen Einlaß gefunden. Am besten war es, ich wanderte nach Torgau und verbrachte dort den Nest der Nacht im Wartcsanl des Bahnhofs. Ich nahm also mein Geweih wieder auf, drückte den Hut fest in die Stirn und kämpfte rüstig gegen den Wind an, bis ich den Wald erreicht hatte. Dann aber war ich mit meinen Kräften zu Ende, ich mußte mich niedersetzen und meinen brennenden Füßen Ruhe gönnen. Zum Glück fand ich unter einer alten Kiefer ein Plätzchen, das mir hinreichend Schutz gegen den Wind bot und mir erlaubte, es mir einigermaßen bequem zu machen. ^ Als ich dort saß, war es mir, als ob ich in weiter Ferne Enlengeschrei und Hundegebell vernähme. Da kommt die Hellentaler Gesellschaft zurück, dachte ich, sehr pünktlich scheinen die Herrschaften gerade nicht zu sein! Und es versetzte mich in die behaglichste Stimmung, als ich mir vorstellte, was für ein langes Gesicht Herr Samiel machen würde, wenn er am nächsten Morgen dahinter kam, daß der Vogel ausgeflogen war. Ich griff noch einmal nach dem Hirschgeweih, zog es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/561>, abgerufen am 15.01.2025.