Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Die Ästhetik als Norm der Menschenwürdignng In der Schlußszene des Hohenliedes steht ja gleichsam eine Verkörperung Denn wenn wir zunächst auf die formalen Tugenden, die, wie zum Bei¬ Ferner wieviel Trägerinnen materialer Tugenden, die in den einzelnen In dem gestaltenreichen Hintergrunde, der sich um die Schlußszene des Hohen¬ Die Ästhetik als Norm der Menschenwürdignng In der Schlußszene des Hohenliedes steht ja gleichsam eine Verkörperung Denn wenn wir zunächst auf die formalen Tugenden, die, wie zum Bei¬ Ferner wieviel Trägerinnen materialer Tugenden, die in den einzelnen In dem gestaltenreichen Hintergrunde, der sich um die Schlußszene des Hohen¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0550" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296561"/> <fw type="header" place="top"> Die Ästhetik als Norm der Menschenwürdignng</fw><lb/> <p xml:id="ID_2830"> In der Schlußszene des Hohenliedes steht ja gleichsam eine Verkörperung<lb/> der Grundsentenz vor uns, die im hebräischen Geistesleben über das richtige<lb/> Verhältnis von ästhetischer und ethischer Würdigung des Menschenwesens gefällt<lb/> worden ist. Die Veranschaulichung dieses Grundurteils wirkt um so eindrucks¬<lb/> voller, als sie in der übrigen althebräischen Literatur eines reichen, weiten Hinter¬<lb/> grundes keineswegs entbehrt. Einen solchen Hintergrund der Schlußszene des<lb/> Hohenliedes darf man aber in allen den Gruppen und Einzelgestalten des alt¬<lb/> hebräischen Schrifttums finden, aus deren Zügen uns der Adel geistiger Tugend<lb/> entgegenleuchtet.</p><lb/> <p xml:id="ID_2831"> Denn wenn wir zunächst auf die formalen Tugenden, die, wie zum Bei¬<lb/> spiel Opferfreudigkeit und Treue, in allen Pflichtenkreisen betätigt werden können,<lb/> einen Blick werfen wollen, wer steht nicht voll Bewunderung vor der Auf¬<lb/> opferungsfähigkeit von Jephthas Tochter (Richt. 11, 30ff.)? Anstatt zusammen¬<lb/> zuknicken, steht sie aufrecht. Anstatt zu jammern, ermutigt sie ihren Vater zur<lb/> Leistung des gegen Gott ausgesprochnen Gelübdes. Eine wahrhaft große Tochter,<lb/> die lieber geopfert werden will, als daß ihr Vater wortbrüchig werden soll!<lb/> Sie erinnert uns an Esthers Wagemut, die einen Bittgang zum Könige für<lb/> ihr Volk mit den Worten „Komme ich um, so komme ich um" unternimmt<lb/> (Esth. 4, 16). Übersehen wir doch auch die Tugend des Fleißes nicht, die<lb/> einem Veilchen gleich oft im Verborgnen blüht! Der hebräische Spruchdichter<lb/> wenigstens hat sich nicht gescheut, dieser Tugend das schöne Wort „Ein fleißiges<lb/> Weib ist die Krone ihres Mannes" zu widmen (12, 4). Ein solches Weib ist<lb/> gewiß auch keine „Zarte und Weichliche, die nicht versucht hat, ihre Fußsohle<lb/> auf die Erde zu setzen" (5. Mos. 28, 56).</p><lb/> <p xml:id="ID_2832"> Ferner wieviel Trägerinnen materialer Tugenden, die in den einzelnen<lb/> Pflichtenkreisen ihre Werkstätte haben, werden vor unserm Geistesauge wieder<lb/> wach, wenn wir es nur nicht verschmähen, auch der althebrüischen Literatur<lb/> wieder einmal unsern Blick zuzuwenden! Oder kannst du dich wirklich nicht auf<lb/> Rizpa besinnen? Der König David hat ihr jedenfalls seine Bewunderung nicht<lb/> versagt. Sie hat ja während eines ganzen wolkenlosen Sommers Palästinas<lb/> bei den Leichnamen ihrer Söhne und Stiefkinder gesessen, hat bei Tage die<lb/> Raubvögel und in der Nacht die Schakale abgewehrt (2. Sam. 21, 10). O herz¬<lb/> erschütterndes Bild der Mutterliebe! Daneben hat die hebräische Geschicht¬<lb/> schreibung auch ein Ohr für den klassischen Ausdruck der kindlichen Pietät, den<lb/> Ruth in den Worten „Wo du hingehest, da gehe ich auch hin . . . nur der<lb/> Tod soll mich von dir scheide»" geprägt hat. Zu ihnen gesellt der Griffel des<lb/> israelitischen Erzählers als eine dritte Pflegerin einer im Familienleben zu be-<lb/> endigenden Tugend die Prinzessin Michal, die spätere Gemahlin Davids. Denn<lb/> was tat sie, als die Pflichten der Tochter und der Gattin in ihrem Leben<lb/> zusammenstießen? Sie bewährte zugleich ihren Vater vor einer Gewalttat und<lb/> rettete ihrem Manne das Leben.</p><lb/> <p xml:id="ID_2833" next="#ID_2834"> In dem gestaltenreichen Hintergrunde, der sich um die Schlußszene des Hohen¬<lb/> liedes im althebräischen Schrifttum aufbaut, reihen sich weiter die Musterbilder<lb/> des Patriotismus an. An der Spitze dieser Schar läßt der hebräische Geschicht¬<lb/> schreiber Moses Schwester Mirjam einherschreiten, die unter Paukenschlag im</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0550]
Die Ästhetik als Norm der Menschenwürdignng
In der Schlußszene des Hohenliedes steht ja gleichsam eine Verkörperung
der Grundsentenz vor uns, die im hebräischen Geistesleben über das richtige
Verhältnis von ästhetischer und ethischer Würdigung des Menschenwesens gefällt
worden ist. Die Veranschaulichung dieses Grundurteils wirkt um so eindrucks¬
voller, als sie in der übrigen althebräischen Literatur eines reichen, weiten Hinter¬
grundes keineswegs entbehrt. Einen solchen Hintergrund der Schlußszene des
Hohenliedes darf man aber in allen den Gruppen und Einzelgestalten des alt¬
hebräischen Schrifttums finden, aus deren Zügen uns der Adel geistiger Tugend
entgegenleuchtet.
Denn wenn wir zunächst auf die formalen Tugenden, die, wie zum Bei¬
spiel Opferfreudigkeit und Treue, in allen Pflichtenkreisen betätigt werden können,
einen Blick werfen wollen, wer steht nicht voll Bewunderung vor der Auf¬
opferungsfähigkeit von Jephthas Tochter (Richt. 11, 30ff.)? Anstatt zusammen¬
zuknicken, steht sie aufrecht. Anstatt zu jammern, ermutigt sie ihren Vater zur
Leistung des gegen Gott ausgesprochnen Gelübdes. Eine wahrhaft große Tochter,
die lieber geopfert werden will, als daß ihr Vater wortbrüchig werden soll!
Sie erinnert uns an Esthers Wagemut, die einen Bittgang zum Könige für
ihr Volk mit den Worten „Komme ich um, so komme ich um" unternimmt
(Esth. 4, 16). Übersehen wir doch auch die Tugend des Fleißes nicht, die
einem Veilchen gleich oft im Verborgnen blüht! Der hebräische Spruchdichter
wenigstens hat sich nicht gescheut, dieser Tugend das schöne Wort „Ein fleißiges
Weib ist die Krone ihres Mannes" zu widmen (12, 4). Ein solches Weib ist
gewiß auch keine „Zarte und Weichliche, die nicht versucht hat, ihre Fußsohle
auf die Erde zu setzen" (5. Mos. 28, 56).
Ferner wieviel Trägerinnen materialer Tugenden, die in den einzelnen
Pflichtenkreisen ihre Werkstätte haben, werden vor unserm Geistesauge wieder
wach, wenn wir es nur nicht verschmähen, auch der althebrüischen Literatur
wieder einmal unsern Blick zuzuwenden! Oder kannst du dich wirklich nicht auf
Rizpa besinnen? Der König David hat ihr jedenfalls seine Bewunderung nicht
versagt. Sie hat ja während eines ganzen wolkenlosen Sommers Palästinas
bei den Leichnamen ihrer Söhne und Stiefkinder gesessen, hat bei Tage die
Raubvögel und in der Nacht die Schakale abgewehrt (2. Sam. 21, 10). O herz¬
erschütterndes Bild der Mutterliebe! Daneben hat die hebräische Geschicht¬
schreibung auch ein Ohr für den klassischen Ausdruck der kindlichen Pietät, den
Ruth in den Worten „Wo du hingehest, da gehe ich auch hin . . . nur der
Tod soll mich von dir scheide»" geprägt hat. Zu ihnen gesellt der Griffel des
israelitischen Erzählers als eine dritte Pflegerin einer im Familienleben zu be-
endigenden Tugend die Prinzessin Michal, die spätere Gemahlin Davids. Denn
was tat sie, als die Pflichten der Tochter und der Gattin in ihrem Leben
zusammenstießen? Sie bewährte zugleich ihren Vater vor einer Gewalttat und
rettete ihrem Manne das Leben.
In dem gestaltenreichen Hintergrunde, der sich um die Schlußszene des Hohen¬
liedes im althebräischen Schrifttum aufbaut, reihen sich weiter die Musterbilder
des Patriotismus an. An der Spitze dieser Schar läßt der hebräische Geschicht¬
schreiber Moses Schwester Mirjam einherschreiten, die unter Paukenschlag im
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