Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Wenn es richtig ist, daß die Mehrforderungen des Ausgabcetats gegen das vorige Sehen wir uns im Auslande um, so fällt zunächst die Ankündigung aus Maßgebliches und Unmaßgebliches Wenn es richtig ist, daß die Mehrforderungen des Ausgabcetats gegen das vorige Sehen wir uns im Auslande um, so fällt zunächst die Ankündigung aus <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0508" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296519"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_2706" prev="#ID_2705"> Wenn es richtig ist, daß die Mehrforderungen des Ausgabcetats gegen das vorige<lb/> Jahr um 259 Millionen gestiegen sind, so kann man nur bedauern, daß nicht<lb/> dieser ganze Bedarf, den der Reichstag ja Wohl noch um 20 bis 25 Millionen<lb/> reduzieren wird, von Bier und von Tabak aufgebracht wird. Es würde trotzdem in<lb/> Deutschland weder weniger geraucht noch etwa weniger getrunken werden; sowohl<lb/> die wachsende Vermehrung als der steigende Wohlstand der Bevölkerung sind ein<lb/> ausreichendes „Korrektiv." Vou der freisinnigen Seite stellt man jedoch einer<lb/> Ordnung der Reichsfinauzen das hübsch erdachte Bedenken entgegen: je besser die<lb/> Finanzlage sei, desto mehr werde aus dem vollen gewirtschaftet! Nach dieser Theorie<lb/> wäre also Borg- und Schuldenwirtschaft das erstrebenswerteste aller Finanzideale!<lb/> Man denke sich das auf das Privatleben übertragen! Der Germania wiederum ist jede<lb/> finanzielle Erstarkung des Reichs unbequem, weil dadurch die Reichsgewalt unab¬<lb/> hängiger vom Zentrum wird, nicht nur die Reichsgewalt, sondern auch jede deutsche<lb/> Landesregierung. Die Germania vertritt eigentlich den Standpunkt, daß das Zentrum<lb/> an einer Ordnung der Reichsfinanzen gar kein Interesse habe, und zieht sich auf die<lb/> Matrikularbeiträge zurück, die dem Wort und dem Sinn der Verfassung entsprächen<lb/> und namentlich der Aufrechthaltung des Föderativprinzips zur Stütze gereichten.<lb/> Nun ist aber bekanntlich gerade das Gegenteil der Fall. Eine schlechte Lage der<lb/> Reichsfinanzen vernichtet das Föderativprinzip, weil die kleinern Staaten auf die<lb/> Dauer ohne völlige Zerrüttung die Matrikularbeiträge nicht aufbringen können, und<lb/> weil auch die größern Bundesstaaten, weil sie durch das Reich immer mehr in<lb/> Anspruch genommen werden, ihren innern Landesaufgabeu nicht zu genügen ver¬<lb/> mögen. Ganz unvermeidlich entsteht dadurch eine Verstimmung gegen das Reich<lb/> und damit gegen den Reichsgedanken, während bei einer verständigen Handhabung<lb/> der Reichsfinanzfrage durch den Reichstag das Reich sehr bald zum Wohltäter der<lb/> Einzelstaaten werden könnte. Augenscheinlich ist es gerade das, was das Zentrum<lb/> traditionell verhindern will, denn sowohl die Franckeusteinsche Klausel wie auch der<lb/> Antrag über die Witwen- und Waisenversicherung, mit der ja in dem Etat für<lb/> 1906 der Anfang gemacht wird, bewegen sich in dieser Richtung. Im übrigen<lb/> hat Artikel 70 der Reichsverfassung durch seinen Wortlaut die Matrikularbeiträge<lb/> ausdrücklich als ein Provisorium bezeichnet und ihre Ersetzung durch „Reichs¬<lb/> steuern" vorgesehen. — Hoffentlich erweisen sich die Parteien im Reichstage, zumal<lb/> bei dem Ernste der Lage, dem auch die Thronrede Ausdruck gibt, verständiger als<lb/> ihre Presse.</p><lb/> <p xml:id="ID_2707" next="#ID_2708"> Sehen wir uns im Auslande um, so fällt zunächst die Ankündigung aus<lb/> London angenehm auf, daß am 1. Dezember dort eine öffentliche Versammlung ab¬<lb/> gehalten werden soll, in der angesehene Männer, darunter eine Anzahl Parlaments¬<lb/> mitglieder der konservativen und der liberalen Richtung, zugunsten einer deutsch-<lb/> euglischen Verständigung das Wort ergreifen werden. In den Verhandlungen des<lb/> deutschen Reichstags wird diese Kundgebung, je nach ihrem Ausfall, ein Echo finden.<lb/> Um so befremdlicher ist es, daß ein Staatsmann wie Lord Rosebery für nötig ge¬<lb/> halten hat, seine Sympathien für Frankreich öffentlich zu erklären und dabei die<lb/> Versicherung abzugeben, daß er in Deutschland keine Freunde habe, auch kein Wort<lb/> Deutsch verstehe. Der erste Teil dieser Behauptung ist nur bedingt richtig, d. h.<lb/> seit dem 18. September 1904, wo Fürst Herbert Bismarck starb. Rosebery war<lb/> mit dem Verstorbnen mehr als zwanzig Jahre sehr intim befreundet, sie standen<lb/> fortwährend in Korrespondenz miteinander, und Herbert Bismarck wählte ihn im<lb/> Jahre 1897 zum Taufpaten seines ältesten Sohnes, was in diesen Gesellschafts¬<lb/> kreisen ohne besondre Intimität doch nicht zu geschehen pflegt. Der junge Fürst<lb/> Bismarck führt darum auch Roseberys Vornamen „Archibald" (Otto Christian<lb/> Archibald), und Rosebery hat immer viel Sympathie für sein Patenkind bezeugt.<lb/> Wenn wir nicht irren, wohnte er der Taufe persönlich bei. Das ist freilich neben¬<lb/> sächlich, aber wenn man Taufpate bei Bismarcks ist, soll man doch nicht so<lb/> apodiktisch behaupten, daß man in Deutschland keine Freunde habe. Rosebery war</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0508]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Wenn es richtig ist, daß die Mehrforderungen des Ausgabcetats gegen das vorige
Jahr um 259 Millionen gestiegen sind, so kann man nur bedauern, daß nicht
dieser ganze Bedarf, den der Reichstag ja Wohl noch um 20 bis 25 Millionen
reduzieren wird, von Bier und von Tabak aufgebracht wird. Es würde trotzdem in
Deutschland weder weniger geraucht noch etwa weniger getrunken werden; sowohl
die wachsende Vermehrung als der steigende Wohlstand der Bevölkerung sind ein
ausreichendes „Korrektiv." Vou der freisinnigen Seite stellt man jedoch einer
Ordnung der Reichsfinauzen das hübsch erdachte Bedenken entgegen: je besser die
Finanzlage sei, desto mehr werde aus dem vollen gewirtschaftet! Nach dieser Theorie
wäre also Borg- und Schuldenwirtschaft das erstrebenswerteste aller Finanzideale!
Man denke sich das auf das Privatleben übertragen! Der Germania wiederum ist jede
finanzielle Erstarkung des Reichs unbequem, weil dadurch die Reichsgewalt unab¬
hängiger vom Zentrum wird, nicht nur die Reichsgewalt, sondern auch jede deutsche
Landesregierung. Die Germania vertritt eigentlich den Standpunkt, daß das Zentrum
an einer Ordnung der Reichsfinanzen gar kein Interesse habe, und zieht sich auf die
Matrikularbeiträge zurück, die dem Wort und dem Sinn der Verfassung entsprächen
und namentlich der Aufrechthaltung des Föderativprinzips zur Stütze gereichten.
Nun ist aber bekanntlich gerade das Gegenteil der Fall. Eine schlechte Lage der
Reichsfinanzen vernichtet das Föderativprinzip, weil die kleinern Staaten auf die
Dauer ohne völlige Zerrüttung die Matrikularbeiträge nicht aufbringen können, und
weil auch die größern Bundesstaaten, weil sie durch das Reich immer mehr in
Anspruch genommen werden, ihren innern Landesaufgabeu nicht zu genügen ver¬
mögen. Ganz unvermeidlich entsteht dadurch eine Verstimmung gegen das Reich
und damit gegen den Reichsgedanken, während bei einer verständigen Handhabung
der Reichsfinanzfrage durch den Reichstag das Reich sehr bald zum Wohltäter der
Einzelstaaten werden könnte. Augenscheinlich ist es gerade das, was das Zentrum
traditionell verhindern will, denn sowohl die Franckeusteinsche Klausel wie auch der
Antrag über die Witwen- und Waisenversicherung, mit der ja in dem Etat für
1906 der Anfang gemacht wird, bewegen sich in dieser Richtung. Im übrigen
hat Artikel 70 der Reichsverfassung durch seinen Wortlaut die Matrikularbeiträge
ausdrücklich als ein Provisorium bezeichnet und ihre Ersetzung durch „Reichs¬
steuern" vorgesehen. — Hoffentlich erweisen sich die Parteien im Reichstage, zumal
bei dem Ernste der Lage, dem auch die Thronrede Ausdruck gibt, verständiger als
ihre Presse.
Sehen wir uns im Auslande um, so fällt zunächst die Ankündigung aus
London angenehm auf, daß am 1. Dezember dort eine öffentliche Versammlung ab¬
gehalten werden soll, in der angesehene Männer, darunter eine Anzahl Parlaments¬
mitglieder der konservativen und der liberalen Richtung, zugunsten einer deutsch-
euglischen Verständigung das Wort ergreifen werden. In den Verhandlungen des
deutschen Reichstags wird diese Kundgebung, je nach ihrem Ausfall, ein Echo finden.
Um so befremdlicher ist es, daß ein Staatsmann wie Lord Rosebery für nötig ge¬
halten hat, seine Sympathien für Frankreich öffentlich zu erklären und dabei die
Versicherung abzugeben, daß er in Deutschland keine Freunde habe, auch kein Wort
Deutsch verstehe. Der erste Teil dieser Behauptung ist nur bedingt richtig, d. h.
seit dem 18. September 1904, wo Fürst Herbert Bismarck starb. Rosebery war
mit dem Verstorbnen mehr als zwanzig Jahre sehr intim befreundet, sie standen
fortwährend in Korrespondenz miteinander, und Herbert Bismarck wählte ihn im
Jahre 1897 zum Taufpaten seines ältesten Sohnes, was in diesen Gesellschafts¬
kreisen ohne besondre Intimität doch nicht zu geschehen pflegt. Der junge Fürst
Bismarck führt darum auch Roseberys Vornamen „Archibald" (Otto Christian
Archibald), und Rosebery hat immer viel Sympathie für sein Patenkind bezeugt.
Wenn wir nicht irren, wohnte er der Taufe persönlich bei. Das ist freilich neben¬
sächlich, aber wenn man Taufpate bei Bismarcks ist, soll man doch nicht so
apodiktisch behaupten, daß man in Deutschland keine Freunde habe. Rosebery war
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