Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Adalbert Stifter sächlich sein Verhältnis zur Natur. Er hatte die Fähigkeit, sie im ganzen auf Dagegen macht ihn uns eine gewisse Verneinung der gewöhnlichen Wirklich¬ Stifter, das wissen wir ja, schildert die Natur unübertrefflich. Namentlich Adalbert Stifter sächlich sein Verhältnis zur Natur. Er hatte die Fähigkeit, sie im ganzen auf Dagegen macht ihn uns eine gewisse Verneinung der gewöhnlichen Wirklich¬ Stifter, das wissen wir ja, schildert die Natur unübertrefflich. Namentlich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0487" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296498"/> <fw type="header" place="top"> Adalbert Stifter</fw><lb/> <p xml:id="ID_2561" prev="#ID_2560"> sächlich sein Verhältnis zur Natur. Er hatte die Fähigkeit, sie im ganzen auf<lb/> sich wirken zu lassen wie ein volles Orchester; und doch außerdem sah und<lb/> liebte er ihre kleinen und einzelnen Gebilde und Schönheiten. Wer die Natur<lb/> fast immer bei weitem sympathischer findet als die Masse der Menschen, der<lb/> findet bei Stifter, was er sucht, obgleich der Dichter Welt und Leben fast immer<lb/> optimistisch beurteilt, woraus man ihm längst einen Vorwurf gemacht hat. Nach<lb/> Abschluß der Studien warf ihm ein anonymer Beurteiler vor: „Die Studien<lb/> sind keine Romane, Novellen oder Gedichte, sondern Studien. Was studiert<lb/> der Verfasser? Welt und Leben? Nein — davon gibt er keine Probe. Philister<lb/> rühmen die hohe Sittlichkeit; allein wo gar nichts geschieht, da ist es kein<lb/> Wunder, daß auch nichts unsittliches geschieht. Der Verfasser studiert also sich,<lb/> sein eignes Wesen ..." Es wurde ihm zeitig vorgeworfen, daß er nichts mächtiges<lb/> und tragisches schaffen könne, daß die Personen im Nachsommer unbegreiflich<lb/> leidenschaftslos seien. Auch damit gehört Stifter nicht in die Reihe der<lb/> Modernen, daß er niemals zugeben wollte, es könne etwas schön sein, was<lb/> nicht zugleich sittlich sei; daß er immer erheben, beglücken, reinigen wollte, daß<lb/> er seine Bücher nicht bloß als Dichtungen betrachtet wissen wollte, sondern<lb/> ihnen auch als sittlichen Offenbarungen Wert zutraute.</p><lb/> <p xml:id="ID_2562"> Dagegen macht ihn uns eine gewisse Verneinung der gewöhnlichen Wirklich¬<lb/> keit wert. Wie Goethe nach Wischers Ausdruck zu wenig Galle für das Drama<lb/> hatte, so Stifter von diesem Desiderat zu wenig für die volle Darstellung des<lb/> Lebens. Aber dafür gab er in reichster Fülle die Ergänzung zum Leben, die<lb/> Natur mit ihrer unerschöpflichen Schönheit, Mannigfaltigkeit im großen und<lb/> kleinen und idyllisch-idealisierte Ansichten vom Leben, die sich voll Duft und<lb/> Sonne über die qualmigen, dunstigen, widerwärtigen Tiefen erheben. Wir finden<lb/> in der Tat nicht selten an ihm eine „erhabne Friedfertigkeit, welche dem Ein-<lb/> samen abseits vom Wege erblüht," jene Stimmung, die Mörike in dem kleinen<lb/> Gedicht „Verborgenheit" ausspricht:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_14" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_2563" next="#ID_2564"> Stifter, das wissen wir ja, schildert die Natur unübertrefflich. Namentlich<lb/> Pflegte ihn der Aufgang des Mondes zu begeistern. In hellen Nächten brachte<lb/> er viele Stunden die Hände auf dem Rücken gekreuzt auf der Donaubrttcke<lb/> stehend zu, die farbigen °Lichtränder an den Wolkenbildungen laut bewundernd<lb/> und ihren malerischen Zauber Freunden und Bekannten erklärend, die sich ihm<lb/> zu gemeinsamem Genuß anschlössen. Wer die Natur schildern will, muß sie<lb/> natürlich beobachten. Stifter tat es mit der ihm eignen Gründlichkeit, wie er<lb/> denn von Pedanterie ja nicht frei war. Er führte verschiedne Tagebücher,<lb/> darunter eins über Wittemngserscheinungen, über Reisen und Auffahrten, über<lb/> seine Arbeiten. Bei seinen Malereien notierte er sich Gegenstand und Zeit der<lb/> Arbeit nach Stunden und Minuten. Aber auch Goethe legte sich manche<lb/> „Faszikel" um, und die Brüder Goncourt benutzte» ihre systematischen Tage¬<lb/> bücher für ihre Arbeiten. Bei den seinigen konnte sich Stifter nie genug tuu.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0487]
Adalbert Stifter
sächlich sein Verhältnis zur Natur. Er hatte die Fähigkeit, sie im ganzen auf
sich wirken zu lassen wie ein volles Orchester; und doch außerdem sah und
liebte er ihre kleinen und einzelnen Gebilde und Schönheiten. Wer die Natur
fast immer bei weitem sympathischer findet als die Masse der Menschen, der
findet bei Stifter, was er sucht, obgleich der Dichter Welt und Leben fast immer
optimistisch beurteilt, woraus man ihm längst einen Vorwurf gemacht hat. Nach
Abschluß der Studien warf ihm ein anonymer Beurteiler vor: „Die Studien
sind keine Romane, Novellen oder Gedichte, sondern Studien. Was studiert
der Verfasser? Welt und Leben? Nein — davon gibt er keine Probe. Philister
rühmen die hohe Sittlichkeit; allein wo gar nichts geschieht, da ist es kein
Wunder, daß auch nichts unsittliches geschieht. Der Verfasser studiert also sich,
sein eignes Wesen ..." Es wurde ihm zeitig vorgeworfen, daß er nichts mächtiges
und tragisches schaffen könne, daß die Personen im Nachsommer unbegreiflich
leidenschaftslos seien. Auch damit gehört Stifter nicht in die Reihe der
Modernen, daß er niemals zugeben wollte, es könne etwas schön sein, was
nicht zugleich sittlich sei; daß er immer erheben, beglücken, reinigen wollte, daß
er seine Bücher nicht bloß als Dichtungen betrachtet wissen wollte, sondern
ihnen auch als sittlichen Offenbarungen Wert zutraute.
Dagegen macht ihn uns eine gewisse Verneinung der gewöhnlichen Wirklich¬
keit wert. Wie Goethe nach Wischers Ausdruck zu wenig Galle für das Drama
hatte, so Stifter von diesem Desiderat zu wenig für die volle Darstellung des
Lebens. Aber dafür gab er in reichster Fülle die Ergänzung zum Leben, die
Natur mit ihrer unerschöpflichen Schönheit, Mannigfaltigkeit im großen und
kleinen und idyllisch-idealisierte Ansichten vom Leben, die sich voll Duft und
Sonne über die qualmigen, dunstigen, widerwärtigen Tiefen erheben. Wir finden
in der Tat nicht selten an ihm eine „erhabne Friedfertigkeit, welche dem Ein-
samen abseits vom Wege erblüht," jene Stimmung, die Mörike in dem kleinen
Gedicht „Verborgenheit" ausspricht:
Stifter, das wissen wir ja, schildert die Natur unübertrefflich. Namentlich
Pflegte ihn der Aufgang des Mondes zu begeistern. In hellen Nächten brachte
er viele Stunden die Hände auf dem Rücken gekreuzt auf der Donaubrttcke
stehend zu, die farbigen °Lichtränder an den Wolkenbildungen laut bewundernd
und ihren malerischen Zauber Freunden und Bekannten erklärend, die sich ihm
zu gemeinsamem Genuß anschlössen. Wer die Natur schildern will, muß sie
natürlich beobachten. Stifter tat es mit der ihm eignen Gründlichkeit, wie er
denn von Pedanterie ja nicht frei war. Er führte verschiedne Tagebücher,
darunter eins über Wittemngserscheinungen, über Reisen und Auffahrten, über
seine Arbeiten. Bei seinen Malereien notierte er sich Gegenstand und Zeit der
Arbeit nach Stunden und Minuten. Aber auch Goethe legte sich manche
„Faszikel" um, und die Brüder Goncourt benutzte» ihre systematischen Tage¬
bücher für ihre Arbeiten. Bei den seinigen konnte sich Stifter nie genug tuu.
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