Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Adalbert Stifter schrieben hat.*) Es sei erwähnt, daß wir neuerdings auch von Wilhelm Kosch Mitunter hört man wohl die Klage ertönen, daß wir keine wahrhafte Ich meine, daß wir, wenn Stifter auch jene Aufzeichnungen unterbrach Wer etwa im Jahre 1856 nach Linz kam und den Schulrat Stifter be¬ ") Adalbert Stifter. Sein Leben und seine Werke. Mit bisher ungedruckten Briefen
und Handschriften, einem faksimilierten Stammbuchblatte, 7 Heliogravüren, 3 Kupferradierungen, 2 Photolithographien und 114 Textbildern. Prag, 1S04, Im Selbstverlage des Vereins sür Geschichte der Deutschen in Böhmen. 691 Seiten. , Adalbert Stifter schrieben hat.*) Es sei erwähnt, daß wir neuerdings auch von Wilhelm Kosch Mitunter hört man wohl die Klage ertönen, daß wir keine wahrhafte Ich meine, daß wir, wenn Stifter auch jene Aufzeichnungen unterbrach Wer etwa im Jahre 1856 nach Linz kam und den Schulrat Stifter be¬ ") Adalbert Stifter. Sein Leben und seine Werke. Mit bisher ungedruckten Briefen
und Handschriften, einem faksimilierten Stammbuchblatte, 7 Heliogravüren, 3 Kupferradierungen, 2 Photolithographien und 114 Textbildern. Prag, 1S04, Im Selbstverlage des Vereins sür Geschichte der Deutschen in Böhmen. 691 Seiten. , <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0479" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296490"/> <fw type="header" place="top"> Adalbert Stifter</fw><lb/> <p xml:id="ID_2533" prev="#ID_2532"> schrieben hat.*) Es sei erwähnt, daß wir neuerdings auch von Wilhelm Kosch<lb/> eine Schrift über den Dichter haben: Adalbert Stifter und die Romantik. Prager<lb/> deutsche Studien, herausgegeben von C. von Kraus und A. Sauer. Prag,<lb/> Bellmann. 118 Seiten.</p><lb/> <p xml:id="ID_2534"> Mitunter hört man wohl die Klage ertönen, daß wir keine wahrhafte<lb/> Autobiographie hätten, woraus sich dann wohl ergeben müßte, daß auch unsre<lb/> Biographien einen traurigen Anteil an der UnVollkommenheit alles menschlichen<lb/> haben. Sind die, die trotz Augustin, Rousseau, Franklin, Goethe usw. so klagen,<lb/> nur neugierige Sensationsschnüffler, die uns mit gedankenvoll gerunzelter Stirn<lb/> auf diesen Mangel der Welt aufmerksam machen, oder sind es übergewissenhafte<lb/> Historiker, die für die geschichtliche Darstellung mit einem zu schwächlichen Ge¬<lb/> wissen auf die Welt gekommen sind, wie es die liebe Hilde Mangel an ihrem<lb/> Baumeister Solneß rügt (II, 6)? Wissen wir wirklich noch nicht genug davon,<lb/> wie die Menschen sind, oder hat sich unsre zudringliche Neugier so zu krank¬<lb/> haftem Heißhunger gesteigert, daß wir von einem Dichter usw. jeden Gedanken,<lb/> jedes Gefühl, besonders etwas schlechtes oder pathologisches erfahren wollen?<lb/> Wollen jene Historiker bestätigt finden, was Schopenhauer in den Nachträgen<lb/> zur Lehre vom Leiden der Welt behauptet: keiner verträgt, daß man ihn auf¬<lb/> merksam betrachte? Auch daß Aufzeichnungen Stifters über seine früheste Jugend<lb/> unvollständig geblieben sind, wird nicht so tragisch zu nehmen sein, wie Hein<lb/> es meint: „Das Buch, vollendet, hätte das Geistesevangelium werden müssen<lb/> jedes echten Menschensohnes, die Darlegung und Geschichte einer edeln Seele,<lb/> von den ersten Regungen und Strebungen, von den frühesten noch unbewußten<lb/> Empfindungen des Kindes bis hinauf zur glühenden Begeisterung des die ganze<lb/> Welt mit Liebe umfassenden, stolz zu den Sternen sich aufschwingenden Jüng¬<lb/> lings — und wieder ausklingend zu den Erfahrungen des gereiften Mannes."</p><lb/> <p xml:id="ID_2535"> Ich meine, daß wir, wenn Stifter auch jene Aufzeichnungen unterbrach<lb/> und nicht alle Entwürfe fertig machen konnte, in seinen zwanzig Bänden einen<lb/> hinlänglichen Schatz des Besten, was er geben konnte, und eine völlig aus¬<lb/> reichende Bekundung seines Wesens haben. Zudem beurteilen auch sehr wahrheit¬<lb/> liebende Menschen sich selbst nicht immer mit voller Sicherheit. Daß wir von<lb/> jedem Menschen etwas zu viel wissen, wie Nietzsche sagte, enthält viel wahres;<lb/> nur wird es oft ebenso zutreffend sein, daß wir von Menschen zu wenig wissen,<lb/> nämlich ihre Mühen, Leiden, guten Taten und Gedanken. Daß wir von Stifter<lb/> noch etwas böses erfahren könnten, glaube ich nicht; aber auch gutes nicht mehr,<lb/> als wir so von ihm wissen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2536" next="#ID_2537"> Wer etwa im Jahre 1856 nach Linz kam und den Schulrat Stifter be¬<lb/> suchte, fand ihn in einer hübschen, geräumigen Wohnung, die auf die Donau<lb/> hinaussah. Der Herr des Hauses war klein, recht wohlbeleibt, hatte ein breites,<lb/> ruhiges, etwas blatternarbiges Gesicht, schlicht herabgestrichnes glänzendes Haar,<lb/> eine sanfte, etwas umflorte Stimme. Von den Kennzeichen, die nach Schopen-</p><lb/> <note xml:id="FID_32" place="foot"> ") Adalbert Stifter. Sein Leben und seine Werke. Mit bisher ungedruckten Briefen<lb/> und Handschriften, einem faksimilierten Stammbuchblatte, 7 Heliogravüren, 3 Kupferradierungen,<lb/> 2 Photolithographien und 114 Textbildern. Prag, 1S04, Im Selbstverlage des Vereins sür<lb/> Geschichte der Deutschen in Böhmen. 691 Seiten. ,</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0479]
Adalbert Stifter
schrieben hat.*) Es sei erwähnt, daß wir neuerdings auch von Wilhelm Kosch
eine Schrift über den Dichter haben: Adalbert Stifter und die Romantik. Prager
deutsche Studien, herausgegeben von C. von Kraus und A. Sauer. Prag,
Bellmann. 118 Seiten.
Mitunter hört man wohl die Klage ertönen, daß wir keine wahrhafte
Autobiographie hätten, woraus sich dann wohl ergeben müßte, daß auch unsre
Biographien einen traurigen Anteil an der UnVollkommenheit alles menschlichen
haben. Sind die, die trotz Augustin, Rousseau, Franklin, Goethe usw. so klagen,
nur neugierige Sensationsschnüffler, die uns mit gedankenvoll gerunzelter Stirn
auf diesen Mangel der Welt aufmerksam machen, oder sind es übergewissenhafte
Historiker, die für die geschichtliche Darstellung mit einem zu schwächlichen Ge¬
wissen auf die Welt gekommen sind, wie es die liebe Hilde Mangel an ihrem
Baumeister Solneß rügt (II, 6)? Wissen wir wirklich noch nicht genug davon,
wie die Menschen sind, oder hat sich unsre zudringliche Neugier so zu krank¬
haftem Heißhunger gesteigert, daß wir von einem Dichter usw. jeden Gedanken,
jedes Gefühl, besonders etwas schlechtes oder pathologisches erfahren wollen?
Wollen jene Historiker bestätigt finden, was Schopenhauer in den Nachträgen
zur Lehre vom Leiden der Welt behauptet: keiner verträgt, daß man ihn auf¬
merksam betrachte? Auch daß Aufzeichnungen Stifters über seine früheste Jugend
unvollständig geblieben sind, wird nicht so tragisch zu nehmen sein, wie Hein
es meint: „Das Buch, vollendet, hätte das Geistesevangelium werden müssen
jedes echten Menschensohnes, die Darlegung und Geschichte einer edeln Seele,
von den ersten Regungen und Strebungen, von den frühesten noch unbewußten
Empfindungen des Kindes bis hinauf zur glühenden Begeisterung des die ganze
Welt mit Liebe umfassenden, stolz zu den Sternen sich aufschwingenden Jüng¬
lings — und wieder ausklingend zu den Erfahrungen des gereiften Mannes."
Ich meine, daß wir, wenn Stifter auch jene Aufzeichnungen unterbrach
und nicht alle Entwürfe fertig machen konnte, in seinen zwanzig Bänden einen
hinlänglichen Schatz des Besten, was er geben konnte, und eine völlig aus¬
reichende Bekundung seines Wesens haben. Zudem beurteilen auch sehr wahrheit¬
liebende Menschen sich selbst nicht immer mit voller Sicherheit. Daß wir von
jedem Menschen etwas zu viel wissen, wie Nietzsche sagte, enthält viel wahres;
nur wird es oft ebenso zutreffend sein, daß wir von Menschen zu wenig wissen,
nämlich ihre Mühen, Leiden, guten Taten und Gedanken. Daß wir von Stifter
noch etwas böses erfahren könnten, glaube ich nicht; aber auch gutes nicht mehr,
als wir so von ihm wissen.
Wer etwa im Jahre 1856 nach Linz kam und den Schulrat Stifter be¬
suchte, fand ihn in einer hübschen, geräumigen Wohnung, die auf die Donau
hinaussah. Der Herr des Hauses war klein, recht wohlbeleibt, hatte ein breites,
ruhiges, etwas blatternarbiges Gesicht, schlicht herabgestrichnes glänzendes Haar,
eine sanfte, etwas umflorte Stimme. Von den Kennzeichen, die nach Schopen-
") Adalbert Stifter. Sein Leben und seine Werke. Mit bisher ungedruckten Briefen
und Handschriften, einem faksimilierten Stammbuchblatte, 7 Heliogravüren, 3 Kupferradierungen,
2 Photolithographien und 114 Textbildern. Prag, 1S04, Im Selbstverlage des Vereins sür
Geschichte der Deutschen in Böhmen. 691 Seiten. ,
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |