Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Alosterwesen Die Evangelischen werden sich also in dieser Beziehung noch ein Weilchen Grenzboten IV 1905 5K
von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Alosterwesen Die Evangelischen werden sich also in dieser Beziehung noch ein Weilchen Grenzboten IV 1905 5K
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von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Alosterwesen
Die Evangelischen werden sich also in dieser Beziehung noch ein Weilchen
gedulden müssen, wenn man es ihnen auch nicht verargen kann, daß sie einem
Institut gram sind, dessen Begründung eine Beleidigung für ihre eignen Geist¬
lichen ist; denn diese Begründung soll ja die katholischen Geistlichen als reinere,
heiligere und vollkommnere Menschen über ihre evangelischen Amtsbruder hoch
erhaben zeigen. Und die angemaßte Erhabenheit muß um so mehr Entrüstung
erregen, da man ja weiß, daß sie zu allen Zeiten vielfach nur ein mühsam
aufrecht erhaltner Schein gewesen ist, und daß zu manchen Zeiten nicht einmal
der Schein mehr aufrecht erhalten werden konnte. Zum Beispiel im Reformations¬
zeitalter, wo erst die Durchführung des züchtigen Ehclebens der evangelischen
Geistlichen den andern Teil zwang, wenigstens den Schein wiederherzustellen.
Es soll nicht geleugnet werden, daß die Jesuiten und die übrigen katholischen
Reformatoren ehrlich bemüht gewesen sind, das Innere dem Äußern entsprechend
zu gestalten, und daß in dieser Beziehung heroische Anstrengungen gemacht
worden sind. Aber es muß auch gesagt werden, daß diese Anstrengungen keinen
allgemeinen Erfolg gehabt haben und solchen niemals haben werden. Freilich
gibt es heute weit mehr alte Junggesellen bürgerlichen Standes als katholische
Geistliche. Aber ein lediger Kaufmann oder Steuerbeamtcr braucht seinen Mit¬
menschen nicht die christlichen Tugenden zu predigen und nicht täglich zu
kommunizieren. Der katholische Geistliche muß glauben, daß jede auch nur in
Gedanken begaugne Keuschheitssündc eine Todsünde, eine im Zustande der
Todsünde empfnngne Kommunion oder gefeierte Messe ein Sakrileg ist. Wer
die menschliche Natur kennt, der weiß, wie leicht es einem sonst vortrefflichen
katholischen Geistlichen begegnen kann, daß er jahraus jahrein täglich ein
solches Sakrileg verübt. Diesem wenigstens könnte er ja entgeh», wenn er
täglich vor der Messe beichtete, aber das ist meist unmöglich, vielleicht keinem
möglich. Und nun überlege man, zu welchem Grade von Verruchtheit diese
Lage die rohem. zu welchem Grade von Verzweiflung sie die feinern Seelen
treiben kauu! Das Gros besteht ja freilich aus mittelmäßigen Menschen,
die in jämmerlichen Kompromissen fortwursteln. Wenn die geistlichen Skandale
heute weit seltner sind als in irgendeiner frühern Zeit, und wenn auch das
Innere der äußern Haltung öfter entspricht, so ist das nicht den gut ge¬
meinten geistlichen Übungen (den von Loyola eingeführten Exerzitien) und den
heißen Gebeten zu danken, sondern die vorsichtige äußere Haltung wird von
der unerbittlichen Justiz sowie von der Kontrolle der antiklerikalen Presse er¬
zwungen «noch vor fünfzig Jahren büßte ein schlesischer Pfarrer, der seine
Pensionäre gemißbraucht hatte, in der geistlichen Strafanstalt und bekam dann
eine andre Pfarrei; weder der Staatsanwalt noch die Presse hat sich mit
ihm beschäftigt). Den Seelenzustand aber dem geistlichen Ideal mehr anzu¬
nähern, gelingt heute vielen, weil ihnen die Politik und die Sozialpolitik,
das Vereinswesen, die Wahlen, die Parlamente und die Presse reichliche
Arbeit bescheren. Was ein Dorfgeistlichcr in einer kleinen Gemeinde, der
an den meisten Tagen mit seinen Berufsgeschäften fertig ist, wenn er die
Messe gelesen hat, schlechterdings nicht vermag, das ist einem Manne, dessen
Gedanken durch vielfache Interessen nach außen abgelenkt werden, und der
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