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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die Tage von Lhampigny und villiers

Verteidigungszustand zu setzen begann, und namentlich als der am 9. Oktober
nach kühner Luftfahrt in Tours angelangte Diktator Gambetta, um das
Unmögliche möglich zu machen, durch das kühnste Wagen und die rücksichts¬
loseste Hinopferung von französischem Gut und Blut den patriotischen Traum
des "Volks in Waffen" wahr zu machen versuchte. Es handelte sich -- das
muß man im Auge behalten -- für die Franzosen nicht um die Fortsetzung
eines Verlornen Krieges, denn die Verantwortung für diesen glaubten sie einzig
und allein dem kaiserlichen Frankreich zuschieben zu dürfen, sondern um einen
zweiten völlig neuen, für den ihnen die Erfolge der Revolutionsheere ver¬
heißungsvoll vorschwebten, und dessen Verschiedenheit von dem, den man als
abgetan ansah, sich, wie man hoffte, in jeder Beziehung, was Truppenmaterial
und Leitung, Elan und Ausdauer anlangte, der preußisch-deutschen Heeres¬
leitung als ein Fortschritt vom Marasmus zum Leben fühlbar machen sollte.
Nur fehlte freilich -- und das war allerdings entscheidend -- von vornherein
in der massenhaft aufgerufnen Bevölkerung, in der Leitung und der Verpflegung
der rechte Zusammenhang, der rechte Kitt, den nur die Zeit bringt; auch ver¬
vielfachten demagogische Gelüste und Machenschaften die Gefahr eines zu losen
und deshalb nicht widerstandsfähigen Zusammenhalts der weder durch aus¬
reichende Disziplin noch durch rechtes Vertrauen in die Führung zu einem
wirklichen Ganzen zusammengeschweißten Haufen.

Die Einschließung und die Verteidigung von Paris, deren Ausgang, auch
abgesehen von spätern ernsten Kämpfen, in der Hauptsache am 30. November
und am 2. Dezember entschieden worden zu sein scheint, werden besonders
merkwürdig, wenn man die völlige Verschiedenheit der Verhältnisse und Per¬
sönlichkeiten bei der eingeschlossenen Stadt und bei der sie umklammert haltenden
deutschen Armee in Betracht zieht. Strategisch war das zu lösende Problem
ja einfach genug, denn es kam nur darauf an, ob man auf der deutschen Seite
imstande sein würde, die Einschließung mit den verhältnismäßig wenig zahlreichen
Truppen, die hierfür verwendbar waren, trotz Ausfällen und etwaigen Ersatz¬
versuchen so lange aufrecht zu erhalten, bis der Mangel an Lebensmitteln die be¬
festigte Stadt zur Übergabe zwingen würde. Von dem Erfolg einer notwendiger¬
weise auf einzelne Sektoren der Kreisfläche beschränkten Beschießung versprach
sich der Chef des Großen Generalstabs in Anbetracht der die Stadt in einem
Umkreise von siebeneinhalb deutschen Meilen schützend umschließenden Forts
nur verhältnismüßig wenig; als aber ziemlich laute Stimmen daheim wie im
Heere die vielbesprochne Beschießungsfrage in den Vordergrund rückten, machte
er seinen Einfluß nicht gegen eine Maßregel geltend, die, wenn man Mittel
und Wege fand, die nötigen Geschütze und genügende Munition herbeizuschaffen,
ohne daß dadurch die zur Verpflegung, Bekleidung und Ergänzung der Truppen
unentbehrlichen Eisenbahntransporte unterbrochen wurden, seine Pläne nur
fördern konnten.

Man kann sich von den unglaublichen Schwierigkeiten, mit denen die
französischen Befehlshaber, soweit sie Berufssoldaten und nicht patriotische
Dilettanten waren, vom August 1870 an kämpfen mußten, nur dadurch
annähernd einen Begriff machen, daß man in Paris sowie in Tours und in


Die Tage von Lhampigny und villiers

Verteidigungszustand zu setzen begann, und namentlich als der am 9. Oktober
nach kühner Luftfahrt in Tours angelangte Diktator Gambetta, um das
Unmögliche möglich zu machen, durch das kühnste Wagen und die rücksichts¬
loseste Hinopferung von französischem Gut und Blut den patriotischen Traum
des „Volks in Waffen" wahr zu machen versuchte. Es handelte sich — das
muß man im Auge behalten — für die Franzosen nicht um die Fortsetzung
eines Verlornen Krieges, denn die Verantwortung für diesen glaubten sie einzig
und allein dem kaiserlichen Frankreich zuschieben zu dürfen, sondern um einen
zweiten völlig neuen, für den ihnen die Erfolge der Revolutionsheere ver¬
heißungsvoll vorschwebten, und dessen Verschiedenheit von dem, den man als
abgetan ansah, sich, wie man hoffte, in jeder Beziehung, was Truppenmaterial
und Leitung, Elan und Ausdauer anlangte, der preußisch-deutschen Heeres¬
leitung als ein Fortschritt vom Marasmus zum Leben fühlbar machen sollte.
Nur fehlte freilich — und das war allerdings entscheidend — von vornherein
in der massenhaft aufgerufnen Bevölkerung, in der Leitung und der Verpflegung
der rechte Zusammenhang, der rechte Kitt, den nur die Zeit bringt; auch ver¬
vielfachten demagogische Gelüste und Machenschaften die Gefahr eines zu losen
und deshalb nicht widerstandsfähigen Zusammenhalts der weder durch aus¬
reichende Disziplin noch durch rechtes Vertrauen in die Führung zu einem
wirklichen Ganzen zusammengeschweißten Haufen.

Die Einschließung und die Verteidigung von Paris, deren Ausgang, auch
abgesehen von spätern ernsten Kämpfen, in der Hauptsache am 30. November
und am 2. Dezember entschieden worden zu sein scheint, werden besonders
merkwürdig, wenn man die völlige Verschiedenheit der Verhältnisse und Per¬
sönlichkeiten bei der eingeschlossenen Stadt und bei der sie umklammert haltenden
deutschen Armee in Betracht zieht. Strategisch war das zu lösende Problem
ja einfach genug, denn es kam nur darauf an, ob man auf der deutschen Seite
imstande sein würde, die Einschließung mit den verhältnismäßig wenig zahlreichen
Truppen, die hierfür verwendbar waren, trotz Ausfällen und etwaigen Ersatz¬
versuchen so lange aufrecht zu erhalten, bis der Mangel an Lebensmitteln die be¬
festigte Stadt zur Übergabe zwingen würde. Von dem Erfolg einer notwendiger¬
weise auf einzelne Sektoren der Kreisfläche beschränkten Beschießung versprach
sich der Chef des Großen Generalstabs in Anbetracht der die Stadt in einem
Umkreise von siebeneinhalb deutschen Meilen schützend umschließenden Forts
nur verhältnismüßig wenig; als aber ziemlich laute Stimmen daheim wie im
Heere die vielbesprochne Beschießungsfrage in den Vordergrund rückten, machte
er seinen Einfluß nicht gegen eine Maßregel geltend, die, wenn man Mittel
und Wege fand, die nötigen Geschütze und genügende Munition herbeizuschaffen,
ohne daß dadurch die zur Verpflegung, Bekleidung und Ergänzung der Truppen
unentbehrlichen Eisenbahntransporte unterbrochen wurden, seine Pläne nur
fördern konnten.

Man kann sich von den unglaublichen Schwierigkeiten, mit denen die
französischen Befehlshaber, soweit sie Berufssoldaten und nicht patriotische
Dilettanten waren, vom August 1870 an kämpfen mußten, nur dadurch
annähernd einen Begriff machen, daß man in Paris sowie in Tours und in


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[0375] Die Tage von Lhampigny und villiers Verteidigungszustand zu setzen begann, und namentlich als der am 9. Oktober nach kühner Luftfahrt in Tours angelangte Diktator Gambetta, um das Unmögliche möglich zu machen, durch das kühnste Wagen und die rücksichts¬ loseste Hinopferung von französischem Gut und Blut den patriotischen Traum des „Volks in Waffen" wahr zu machen versuchte. Es handelte sich — das muß man im Auge behalten — für die Franzosen nicht um die Fortsetzung eines Verlornen Krieges, denn die Verantwortung für diesen glaubten sie einzig und allein dem kaiserlichen Frankreich zuschieben zu dürfen, sondern um einen zweiten völlig neuen, für den ihnen die Erfolge der Revolutionsheere ver¬ heißungsvoll vorschwebten, und dessen Verschiedenheit von dem, den man als abgetan ansah, sich, wie man hoffte, in jeder Beziehung, was Truppenmaterial und Leitung, Elan und Ausdauer anlangte, der preußisch-deutschen Heeres¬ leitung als ein Fortschritt vom Marasmus zum Leben fühlbar machen sollte. Nur fehlte freilich — und das war allerdings entscheidend — von vornherein in der massenhaft aufgerufnen Bevölkerung, in der Leitung und der Verpflegung der rechte Zusammenhang, der rechte Kitt, den nur die Zeit bringt; auch ver¬ vielfachten demagogische Gelüste und Machenschaften die Gefahr eines zu losen und deshalb nicht widerstandsfähigen Zusammenhalts der weder durch aus¬ reichende Disziplin noch durch rechtes Vertrauen in die Führung zu einem wirklichen Ganzen zusammengeschweißten Haufen. Die Einschließung und die Verteidigung von Paris, deren Ausgang, auch abgesehen von spätern ernsten Kämpfen, in der Hauptsache am 30. November und am 2. Dezember entschieden worden zu sein scheint, werden besonders merkwürdig, wenn man die völlige Verschiedenheit der Verhältnisse und Per¬ sönlichkeiten bei der eingeschlossenen Stadt und bei der sie umklammert haltenden deutschen Armee in Betracht zieht. Strategisch war das zu lösende Problem ja einfach genug, denn es kam nur darauf an, ob man auf der deutschen Seite imstande sein würde, die Einschließung mit den verhältnismäßig wenig zahlreichen Truppen, die hierfür verwendbar waren, trotz Ausfällen und etwaigen Ersatz¬ versuchen so lange aufrecht zu erhalten, bis der Mangel an Lebensmitteln die be¬ festigte Stadt zur Übergabe zwingen würde. Von dem Erfolg einer notwendiger¬ weise auf einzelne Sektoren der Kreisfläche beschränkten Beschießung versprach sich der Chef des Großen Generalstabs in Anbetracht der die Stadt in einem Umkreise von siebeneinhalb deutschen Meilen schützend umschließenden Forts nur verhältnismüßig wenig; als aber ziemlich laute Stimmen daheim wie im Heere die vielbesprochne Beschießungsfrage in den Vordergrund rückten, machte er seinen Einfluß nicht gegen eine Maßregel geltend, die, wenn man Mittel und Wege fand, die nötigen Geschütze und genügende Munition herbeizuschaffen, ohne daß dadurch die zur Verpflegung, Bekleidung und Ergänzung der Truppen unentbehrlichen Eisenbahntransporte unterbrochen wurden, seine Pläne nur fördern konnten. Man kann sich von den unglaublichen Schwierigkeiten, mit denen die französischen Befehlshaber, soweit sie Berufssoldaten und nicht patriotische Dilettanten waren, vom August 1870 an kämpfen mußten, nur dadurch annähernd einen Begriff machen, daß man in Paris sowie in Tours und in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/375>, abgerufen am 15.01.2025.