Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Die russische Volksvertretung rechten aus dem angeführten Grunde in der Praxis den Ackerbau treibenden Die russische Volksvertretung rechten aus dem angeführten Grunde in der Praxis den Ackerbau treibenden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296320"/> <fw type="header" place="top"> Die russische Volksvertretung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1844" prev="#ID_1843" next="#ID_1845"> rechten aus dem angeführten Grunde in der Praxis den Ackerbau treibenden<lb/> Bauern vollständig und sind mit einer der Hauptgründe für die Unzufrieden¬<lb/> heit dieser Klasse. Sie festigen des Bauern wirtschaftliche Abhängigkeit von<lb/> den Kulaki, die als ehemalige Branntweinpüchter, als hausindustrielle Unter¬<lb/> nehmer, als Getreidehändler die wirklichen Herren der Provinz sind. Es ist<lb/> möglich, daß die Wahl beeinflußt werden kann durch die Adelsmarschülle, die<lb/> bei der bäuerlichen Wahlmännerwahl im Kreise die Aufsicht führen. Nehmen<lb/> wir jedoch den normalen Lauf der Dinge an, wie er sich seit Jahren in der<lb/> Praxis vollzieht, so können wir nicht rechnen, daß eine größere Zahl von<lb/> echten, Ackerbau als Hauptgewerbe treibenden Bauern Eingang in die Duma<lb/> findet. Die aber, die doch hineinkommen, werden aus Südrußland vou den<lb/> Kosaken, vielleicht auch von den deutschen Kolonisten stammen. Die im Aus¬<lb/> lande wiederholt aufgestellte Behauptung, die Duma würde ein Bauern-<lb/> Parlament werden, scheint mir, wenigstens in der Form, wie sie aufgestellt<lb/> wurde, nicht haltbar. Sie fußt auf einer mißverstandnen, ganz schematisch<lb/> aufgebauten Berechnung S. P. Nikonows (Slowo 228/29). Nikonow stellt<lb/> einfach die Zahl der Wahlmänner aus dem dem Gesetz beigefügten Verzeichnis<lb/> der Kreise den verschiednen Bevölkerungsziffern gegenüber und folgert aus<lb/> der Tatsache, daß zum Beispiel auf die 2S000 städtischen Bewohner des<lb/> Kreises Rybinsk vier Wahlmänner fallen, auf 20700 des Kreises Ssarapulsk<lb/> (Gouvernement Wjatka) acht, auf 24090 des Kreises Wjatka wieder nur vier,<lb/> während auf die 158000 des Kreises Wilna (ohne Stadt) gar nur ein einziger<lb/> städtischer Wahlmann entfällt, daß die Gesetzgeber bei der Verteilung der Wahl¬<lb/> männer willkürlich vorgegangen seien, und daß dadurch der Bauernstand ein<lb/> großes Übergewicht über die andern Klassen der Bevölkerung habe. Das<lb/> ist durchaus uicht geschehen. Schon die richtige Beleuchtung des Umstandes,<lb/> daß der Sitz des Gouvernements Wjatka vier städtische Wahlmänner, der an¬<lb/> grenzende Kreis Ssarapulsk desselben Gouvernements trotz einer um 4000 Köpfe<lb/> geringern städtischen Bevölkerung aber acht städtische Wahlmänner stellen muß,<lb/> würde das Leitprinzip erkennen lassen, hätte das Ministerkomitee auch nicht<lb/> ausdrücklich gesagt, die Zusammensetzung der Duma bedürfe eiuer besondern<lb/> Fürsorge. In der Gouvernementsstadt Wjatka gibt es eine ganze Anzahl von<lb/> dort freiwillig und unfreiwillig lebender Intelligenz — Ssarapulsk dagegen<lb/> ist ein Handels- und Hausindustriezentrum, wo sich der einflußreichste Teil<lb/> der Bevölkerung aus den schon als Kulaki gekennzeichneten Personen zusammen¬<lb/> setzt. Da nun aber diese Leute zum großen Teil noch Bauernpüsse führen,<lb/> hat bei der bureaukratischen Auffassung des Begriffs „Bauer" der Bauern¬<lb/> stand wohl ein gewisses Übergewicht, ohne jedoch das Interesse von Acker¬<lb/> bauern zu vertreten. Nur vom formalen Standpunkt aus kann von einem<lb/> Bauernparlament gesprochen werden, nicht vom wirtschaftlichen. Der bäuer¬<lb/> liche Abgeordnete kann unter den herrschenden Verhältnissen kein Vertreter<lb/> agrarischer Interessen sein, sondern nur ein solcher des Handels und der primitiv<lb/> organisierten Verarbeitungsgewerbe. Doch nicht genug damit, daß die Acker¬<lb/> bauern zu kurz gekommen sind, der Gesetzgeber hat auch versucht, den auf dem<lb/> Platten Lande wohnenden Industriearbeiter, der als Mitglied des Mir an den</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0309]
Die russische Volksvertretung
rechten aus dem angeführten Grunde in der Praxis den Ackerbau treibenden
Bauern vollständig und sind mit einer der Hauptgründe für die Unzufrieden¬
heit dieser Klasse. Sie festigen des Bauern wirtschaftliche Abhängigkeit von
den Kulaki, die als ehemalige Branntweinpüchter, als hausindustrielle Unter¬
nehmer, als Getreidehändler die wirklichen Herren der Provinz sind. Es ist
möglich, daß die Wahl beeinflußt werden kann durch die Adelsmarschülle, die
bei der bäuerlichen Wahlmännerwahl im Kreise die Aufsicht führen. Nehmen
wir jedoch den normalen Lauf der Dinge an, wie er sich seit Jahren in der
Praxis vollzieht, so können wir nicht rechnen, daß eine größere Zahl von
echten, Ackerbau als Hauptgewerbe treibenden Bauern Eingang in die Duma
findet. Die aber, die doch hineinkommen, werden aus Südrußland vou den
Kosaken, vielleicht auch von den deutschen Kolonisten stammen. Die im Aus¬
lande wiederholt aufgestellte Behauptung, die Duma würde ein Bauern-
Parlament werden, scheint mir, wenigstens in der Form, wie sie aufgestellt
wurde, nicht haltbar. Sie fußt auf einer mißverstandnen, ganz schematisch
aufgebauten Berechnung S. P. Nikonows (Slowo 228/29). Nikonow stellt
einfach die Zahl der Wahlmänner aus dem dem Gesetz beigefügten Verzeichnis
der Kreise den verschiednen Bevölkerungsziffern gegenüber und folgert aus
der Tatsache, daß zum Beispiel auf die 2S000 städtischen Bewohner des
Kreises Rybinsk vier Wahlmänner fallen, auf 20700 des Kreises Ssarapulsk
(Gouvernement Wjatka) acht, auf 24090 des Kreises Wjatka wieder nur vier,
während auf die 158000 des Kreises Wilna (ohne Stadt) gar nur ein einziger
städtischer Wahlmann entfällt, daß die Gesetzgeber bei der Verteilung der Wahl¬
männer willkürlich vorgegangen seien, und daß dadurch der Bauernstand ein
großes Übergewicht über die andern Klassen der Bevölkerung habe. Das
ist durchaus uicht geschehen. Schon die richtige Beleuchtung des Umstandes,
daß der Sitz des Gouvernements Wjatka vier städtische Wahlmänner, der an¬
grenzende Kreis Ssarapulsk desselben Gouvernements trotz einer um 4000 Köpfe
geringern städtischen Bevölkerung aber acht städtische Wahlmänner stellen muß,
würde das Leitprinzip erkennen lassen, hätte das Ministerkomitee auch nicht
ausdrücklich gesagt, die Zusammensetzung der Duma bedürfe eiuer besondern
Fürsorge. In der Gouvernementsstadt Wjatka gibt es eine ganze Anzahl von
dort freiwillig und unfreiwillig lebender Intelligenz — Ssarapulsk dagegen
ist ein Handels- und Hausindustriezentrum, wo sich der einflußreichste Teil
der Bevölkerung aus den schon als Kulaki gekennzeichneten Personen zusammen¬
setzt. Da nun aber diese Leute zum großen Teil noch Bauernpüsse führen,
hat bei der bureaukratischen Auffassung des Begriffs „Bauer" der Bauern¬
stand wohl ein gewisses Übergewicht, ohne jedoch das Interesse von Acker¬
bauern zu vertreten. Nur vom formalen Standpunkt aus kann von einem
Bauernparlament gesprochen werden, nicht vom wirtschaftlichen. Der bäuer¬
liche Abgeordnete kann unter den herrschenden Verhältnissen kein Vertreter
agrarischer Interessen sein, sondern nur ein solcher des Handels und der primitiv
organisierten Verarbeitungsgewerbe. Doch nicht genug damit, daß die Acker¬
bauern zu kurz gekommen sind, der Gesetzgeber hat auch versucht, den auf dem
Platten Lande wohnenden Industriearbeiter, der als Mitglied des Mir an den
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