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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die russische Volksvertretung

uns auf den ersten Blick die Antwort: "Rußland könne seinem Entwicklungs¬
stande nicht vorauseilen," die verständigste. Wir erwarten deshalb, daß dieser
Gedanke vom Gesetzgeber zum Prinzip erhoben worden sei. Bnlygin hat
solches in seinem EntWurfe versucht. Das mächtigere Ministerkomitee unter
dem Vorsitz S. I. Wildes hat jedoch einen andern Punkt in den Vordergrund
geschoben. In seinem dem Zaren eingereichten Memorial führt das Minister¬
komitee wörtlich aus: "Eure Kaiserliche Majestät geruhten den Zeitpunkt für
gekommen zu erachten, Abgeordnete der Bevölkerung zur Teilnahme an gesetz¬
geberischen Arbeiten heranzuziehn. Die Berufung von Abgeordneten durch
den unmittelbaren Willen des Monarchen wird am besten der Allerhöchsten
Gewalt die Möglichkeit sichern, auf die fernern Geschicke der Abgeordneten¬
institution einen führenden Einfluß auszuüben. Dadurch wird am ehesten eine
folgerichtige und vorsichtige Entwicklung der Institution in Übereinstimmung
mit der jahrhundertealten Erfahrung des staatliche" Lebens Rußlands gewähr¬
leistet. Infolgedessen erkennt das Ministerkomitee an, ohne sich von irgend¬
welchen zweifelhaften Voraussagungen ablenken zu lassen, daß in den Prinzipien
der zu schaffenden Institution schon die Grundlagen zum Ausdruck kommen
müssen, die seine ruhige Beendigung in der von Eurer Kaiserlichen Majestät
vorgezeichneten Richtung möglich machen können. Von diesem Standpunkt
aus ist es von grundsätzlicher Bedeutung, festzustellen, welche Elemente in den
Bestand der Versammlung kommen, woraus folgt, daß das Wahlsystem eine
ganz besondre Beachtung verdient."

Also um das Gesagte kurz zusammenzufassen: das Wahlsystem muß so
eingerichtet sein, daß der Bestand der Abgeordneten keine Gefahr für die Auto¬
kratie in sich trägt.

Das Gesetz scheint diesem Grundprinzip Rechnung zu tragen dnrch Ein¬
führung eines Vermögenszensus. Im folgenden Kapitel werden wir sehen,
inwieweit der Schein echt ist.


2. Die wahlberechtigten Alassen

Die Reichsduma ist eine Versammlung von 412 Abgeordneten, die -- lassen
wir Polen, den Kaukasus, Sibirien und Finnland außer Betracht -- in 51 Gou¬
vernements aus einem vorberechtigten Teil der Bevölkerung nach drei ver-
schiednen Wahlgesetzen zu wählen sind. Es wühlen: erstens die Großstädte
(Paragraph 1b) Se. Petersburg, Moskau, Astrachan, Wilnn, Woronesh,
Jekaterinoslaw, Kasan, Kijew, Kischinjoff, Nishnij-Nowgorod. Odessa, Orjöl,
Riga, Rostow a. D., Ssamara, Ssarcitow, Tula, Charkow und Jaroslawl")
zusammen 20 Abgeordnete (Paragraph 19); zweitens die im Gemeindebesitz
vereinigten Bauern 90 (Paragraph 17), und drittens die ländlichen und die
städtischen Jmmobilbesitzer sowie die Pächter von Kirchenland -- die ich
unter der Bezeichnung "Provinzwählcr" zusammenfassen möchte -- 294 Ab¬
geordnete (Paragraph 12).



*) Die übrigen in Paragraph 1 d aufgezählten Städte Baku, Tiflis, Taschkend, Warschau,
Lodz, Jrkutsk bleiben aus meinen Betrachtungen ausgeschieden, weil für sie eine Wahlordnung
erst ausgearbeitet wird.
Die russische Volksvertretung

uns auf den ersten Blick die Antwort: „Rußland könne seinem Entwicklungs¬
stande nicht vorauseilen," die verständigste. Wir erwarten deshalb, daß dieser
Gedanke vom Gesetzgeber zum Prinzip erhoben worden sei. Bnlygin hat
solches in seinem EntWurfe versucht. Das mächtigere Ministerkomitee unter
dem Vorsitz S. I. Wildes hat jedoch einen andern Punkt in den Vordergrund
geschoben. In seinem dem Zaren eingereichten Memorial führt das Minister¬
komitee wörtlich aus: „Eure Kaiserliche Majestät geruhten den Zeitpunkt für
gekommen zu erachten, Abgeordnete der Bevölkerung zur Teilnahme an gesetz¬
geberischen Arbeiten heranzuziehn. Die Berufung von Abgeordneten durch
den unmittelbaren Willen des Monarchen wird am besten der Allerhöchsten
Gewalt die Möglichkeit sichern, auf die fernern Geschicke der Abgeordneten¬
institution einen führenden Einfluß auszuüben. Dadurch wird am ehesten eine
folgerichtige und vorsichtige Entwicklung der Institution in Übereinstimmung
mit der jahrhundertealten Erfahrung des staatliche» Lebens Rußlands gewähr¬
leistet. Infolgedessen erkennt das Ministerkomitee an, ohne sich von irgend¬
welchen zweifelhaften Voraussagungen ablenken zu lassen, daß in den Prinzipien
der zu schaffenden Institution schon die Grundlagen zum Ausdruck kommen
müssen, die seine ruhige Beendigung in der von Eurer Kaiserlichen Majestät
vorgezeichneten Richtung möglich machen können. Von diesem Standpunkt
aus ist es von grundsätzlicher Bedeutung, festzustellen, welche Elemente in den
Bestand der Versammlung kommen, woraus folgt, daß das Wahlsystem eine
ganz besondre Beachtung verdient."

Also um das Gesagte kurz zusammenzufassen: das Wahlsystem muß so
eingerichtet sein, daß der Bestand der Abgeordneten keine Gefahr für die Auto¬
kratie in sich trägt.

Das Gesetz scheint diesem Grundprinzip Rechnung zu tragen dnrch Ein¬
führung eines Vermögenszensus. Im folgenden Kapitel werden wir sehen,
inwieweit der Schein echt ist.


2. Die wahlberechtigten Alassen

Die Reichsduma ist eine Versammlung von 412 Abgeordneten, die — lassen
wir Polen, den Kaukasus, Sibirien und Finnland außer Betracht — in 51 Gou¬
vernements aus einem vorberechtigten Teil der Bevölkerung nach drei ver-
schiednen Wahlgesetzen zu wählen sind. Es wühlen: erstens die Großstädte
(Paragraph 1b) Se. Petersburg, Moskau, Astrachan, Wilnn, Woronesh,
Jekaterinoslaw, Kasan, Kijew, Kischinjoff, Nishnij-Nowgorod. Odessa, Orjöl,
Riga, Rostow a. D., Ssamara, Ssarcitow, Tula, Charkow und Jaroslawl")
zusammen 20 Abgeordnete (Paragraph 19); zweitens die im Gemeindebesitz
vereinigten Bauern 90 (Paragraph 17), und drittens die ländlichen und die
städtischen Jmmobilbesitzer sowie die Pächter von Kirchenland — die ich
unter der Bezeichnung „Provinzwählcr" zusammenfassen möchte — 294 Ab¬
geordnete (Paragraph 12).



*) Die übrigen in Paragraph 1 d aufgezählten Städte Baku, Tiflis, Taschkend, Warschau,
Lodz, Jrkutsk bleiben aus meinen Betrachtungen ausgeschieden, weil für sie eine Wahlordnung
erst ausgearbeitet wird.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/306>, abgerufen am 15.01.2025.