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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sie sahen alle zu dem dänischen Fräulein auf. Es schien ihnen "die Jung¬
frau so fein" zu sein. Die Sonne schien auf die blondlockigen kleinen Mädchen, und
in der Ferne brauste der Gießbach.

Die Lehrerin ging durch die Reihen der Kinder und sprach flüsternd zu ihnen.

Und auf einmal huben die klaren schwedischen Kinderstimmen an:

Da wurde Helene so bewegt, wie sie es seit langer Zeit nicht mehr gewesen
war. Es war ihr unmöglich, sich zu beherrschen. Schnell dankte sie den Kindern
und der Lehrerin und eilte hinaus.

Sie ging in den Wald, und nun strömten die Tränen aus ihren Augen. Sie
sehnte sich, sehnte sich -- wie nie zuvor.

Da hörte sie die Kinder schwatzend und lachend aus der Schule kommen. Und
nach einer Weile kam die kleine Edda ganz allein an der Stelle vorüber, wo sie
verborgen saß.

Da kam Helene ein Gedanke. Sie sprang ans und folgte langsam dem Kinde.
Eine Strecke die große Landstraße lang, dann in den Wald hinein. Und wieder
auf das Feld hinaus, in das niedrige Gestrüpp.

Edda war während der ganzen Zeit vorwärts geeilt, ohne sich umzusehen,
plötzlich aber wandte sie sich um und entdeckte wohl Helene, die eben noch zur
rechten Zeit kam, sie in einem kleinen, armseligen Hanse verschwinden zu sehen.

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

Durch die Trinksprüche, die der Kaiser in Dresden und bei
der Moltkefeier in Berlin ausgebracht hat, klingt zum erstenmal ein ernster Ton,
dessen Bedeutung um so größer ist, als er von der autoritativsten Stelle ausgeht
und bei besondrer Gelegenheit angeschlagen worden ist. Es liegt darin eine Warnung
in die Nation, die augenblickliche Minderung in der Spannung der Lage nicht
als endgiltig anzusehen, die uns aller Sorge f-ur die Zukunft enthöbe. Im Gegen¬
teil mag das deutsche Publikum daraus entnehmen, nicht nur daß Kriegsgefahr nahe
genug an uns vorübergezogen, sondern anch daß die Situation immer noch so ist,
daß wir genötigt sind, "das Schwert scharf und das Pulver trocken" zu halten.
Wenn einige Blätter geneigt sind, diese Wendung mit der Wahrscheinlichkeit eines
englisch-russischen Abkommens, das zu verhüten sich Deutschland vergeblich - bemüht
habe, also mit einer Niederlage der dentschen Politik in Zusammenhang zu bringen,
so waltet dabei ein sehr großer Irrtum ob. Ein englisch-russisches Abkommen über
asiatische Grenzfragen wäre bekanntlich nicht das erste seiner Art und hätte als
solches auf unser Verhältnis zu Rußland nicht den geringsten Einfluß, ganz abge¬
sehen von der Frage, auf wie lange etwa eine aktive Betätigung der russischen Politik
aus den internationalen Verhältnissen überhaupt ausscheidet. England hat sehr nahe¬
liegende Gründe, trotz seinem Bündnisse mit Japan eine allzu große Schwächung
Rußlands in Asien nicht zu wünschen. Denn schließlich ist Rußland die europäische
Macht, die dort bei weitem die größte Widerstandsfähigkeit und Kraftentfaltung zu
leisten imstande ist. Würde die russische Macht dort gänzlich außer Betracht kommen,
so würde die englische wahrscheinlich bald schwer gefährdet sein. Nach dem Siege


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sie sahen alle zu dem dänischen Fräulein auf. Es schien ihnen „die Jung¬
frau so fein" zu sein. Die Sonne schien auf die blondlockigen kleinen Mädchen, und
in der Ferne brauste der Gießbach.

Die Lehrerin ging durch die Reihen der Kinder und sprach flüsternd zu ihnen.

Und auf einmal huben die klaren schwedischen Kinderstimmen an:

Da wurde Helene so bewegt, wie sie es seit langer Zeit nicht mehr gewesen
war. Es war ihr unmöglich, sich zu beherrschen. Schnell dankte sie den Kindern
und der Lehrerin und eilte hinaus.

Sie ging in den Wald, und nun strömten die Tränen aus ihren Augen. Sie
sehnte sich, sehnte sich — wie nie zuvor.

Da hörte sie die Kinder schwatzend und lachend aus der Schule kommen. Und
nach einer Weile kam die kleine Edda ganz allein an der Stelle vorüber, wo sie
verborgen saß.

Da kam Helene ein Gedanke. Sie sprang ans und folgte langsam dem Kinde.
Eine Strecke die große Landstraße lang, dann in den Wald hinein. Und wieder
auf das Feld hinaus, in das niedrige Gestrüpp.

Edda war während der ganzen Zeit vorwärts geeilt, ohne sich umzusehen,
plötzlich aber wandte sie sich um und entdeckte wohl Helene, die eben noch zur
rechten Zeit kam, sie in einem kleinen, armseligen Hanse verschwinden zu sehen.

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

Durch die Trinksprüche, die der Kaiser in Dresden und bei
der Moltkefeier in Berlin ausgebracht hat, klingt zum erstenmal ein ernster Ton,
dessen Bedeutung um so größer ist, als er von der autoritativsten Stelle ausgeht
und bei besondrer Gelegenheit angeschlagen worden ist. Es liegt darin eine Warnung
in die Nation, die augenblickliche Minderung in der Spannung der Lage nicht
als endgiltig anzusehen, die uns aller Sorge f-ur die Zukunft enthöbe. Im Gegen¬
teil mag das deutsche Publikum daraus entnehmen, nicht nur daß Kriegsgefahr nahe
genug an uns vorübergezogen, sondern anch daß die Situation immer noch so ist,
daß wir genötigt sind, „das Schwert scharf und das Pulver trocken" zu halten.
Wenn einige Blätter geneigt sind, diese Wendung mit der Wahrscheinlichkeit eines
englisch-russischen Abkommens, das zu verhüten sich Deutschland vergeblich - bemüht
habe, also mit einer Niederlage der dentschen Politik in Zusammenhang zu bringen,
so waltet dabei ein sehr großer Irrtum ob. Ein englisch-russisches Abkommen über
asiatische Grenzfragen wäre bekanntlich nicht das erste seiner Art und hätte als
solches auf unser Verhältnis zu Rußland nicht den geringsten Einfluß, ganz abge¬
sehen von der Frage, auf wie lange etwa eine aktive Betätigung der russischen Politik
aus den internationalen Verhältnissen überhaupt ausscheidet. England hat sehr nahe¬
liegende Gründe, trotz seinem Bündnisse mit Japan eine allzu große Schwächung
Rußlands in Asien nicht zu wünschen. Denn schließlich ist Rußland die europäische
Macht, die dort bei weitem die größte Widerstandsfähigkeit und Kraftentfaltung zu
leisten imstande ist. Würde die russische Macht dort gänzlich außer Betracht kommen,
so würde die englische wahrscheinlich bald schwer gefährdet sein. Nach dem Siege


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[0285] Maßgebliches und Unmaßgebliches Sie sahen alle zu dem dänischen Fräulein auf. Es schien ihnen „die Jung¬ frau so fein" zu sein. Die Sonne schien auf die blondlockigen kleinen Mädchen, und in der Ferne brauste der Gießbach. Die Lehrerin ging durch die Reihen der Kinder und sprach flüsternd zu ihnen. Und auf einmal huben die klaren schwedischen Kinderstimmen an: Da wurde Helene so bewegt, wie sie es seit langer Zeit nicht mehr gewesen war. Es war ihr unmöglich, sich zu beherrschen. Schnell dankte sie den Kindern und der Lehrerin und eilte hinaus. Sie ging in den Wald, und nun strömten die Tränen aus ihren Augen. Sie sehnte sich, sehnte sich — wie nie zuvor. Da hörte sie die Kinder schwatzend und lachend aus der Schule kommen. Und nach einer Weile kam die kleine Edda ganz allein an der Stelle vorüber, wo sie verborgen saß. Da kam Helene ein Gedanke. Sie sprang ans und folgte langsam dem Kinde. Eine Strecke die große Landstraße lang, dann in den Wald hinein. Und wieder auf das Feld hinaus, in das niedrige Gestrüpp. Edda war während der ganzen Zeit vorwärts geeilt, ohne sich umzusehen, plötzlich aber wandte sie sich um und entdeckte wohl Helene, die eben noch zur rechten Zeit kam, sie in einem kleinen, armseligen Hanse verschwinden zu sehen. (Schluß folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel. Durch die Trinksprüche, die der Kaiser in Dresden und bei der Moltkefeier in Berlin ausgebracht hat, klingt zum erstenmal ein ernster Ton, dessen Bedeutung um so größer ist, als er von der autoritativsten Stelle ausgeht und bei besondrer Gelegenheit angeschlagen worden ist. Es liegt darin eine Warnung in die Nation, die augenblickliche Minderung in der Spannung der Lage nicht als endgiltig anzusehen, die uns aller Sorge f-ur die Zukunft enthöbe. Im Gegen¬ teil mag das deutsche Publikum daraus entnehmen, nicht nur daß Kriegsgefahr nahe genug an uns vorübergezogen, sondern anch daß die Situation immer noch so ist, daß wir genötigt sind, „das Schwert scharf und das Pulver trocken" zu halten. Wenn einige Blätter geneigt sind, diese Wendung mit der Wahrscheinlichkeit eines englisch-russischen Abkommens, das zu verhüten sich Deutschland vergeblich - bemüht habe, also mit einer Niederlage der dentschen Politik in Zusammenhang zu bringen, so waltet dabei ein sehr großer Irrtum ob. Ein englisch-russisches Abkommen über asiatische Grenzfragen wäre bekanntlich nicht das erste seiner Art und hätte als solches auf unser Verhältnis zu Rußland nicht den geringsten Einfluß, ganz abge¬ sehen von der Frage, auf wie lange etwa eine aktive Betätigung der russischen Politik aus den internationalen Verhältnissen überhaupt ausscheidet. England hat sehr nahe¬ liegende Gründe, trotz seinem Bündnisse mit Japan eine allzu große Schwächung Rußlands in Asien nicht zu wünschen. Denn schließlich ist Rußland die europäische Macht, die dort bei weitem die größte Widerstandsfähigkeit und Kraftentfaltung zu leisten imstande ist. Würde die russische Macht dort gänzlich außer Betracht kommen, so würde die englische wahrscheinlich bald schwer gefährdet sein. Nach dem Siege

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/285>, abgerufen am 15.01.2025.