Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.wohl der lediglich geographische Begriff "Deutschland" bequem war, nicht aber die Selbstverständlich hatte sich die Leitung der deutschen Politik, als sie sich zu Von welchem Gewicht dieser Umstand in der Rechnung der deutscheu Politik Man mag jetzt noch die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich so sehr im Es hieße den Kopf in den Sand stecken, wollte man sich verhehlen, daß die wohl der lediglich geographische Begriff „Deutschland" bequem war, nicht aber die Selbstverständlich hatte sich die Leitung der deutschen Politik, als sie sich zu Von welchem Gewicht dieser Umstand in der Rechnung der deutscheu Politik Man mag jetzt noch die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich so sehr im Es hieße den Kopf in den Sand stecken, wollte man sich verhehlen, daß die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0231" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296242"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1434" prev="#ID_1433"> wohl der lediglich geographische Begriff „Deutschland" bequem war, nicht aber die<lb/> Kraft einer geeinten Nation von sechzig Millionen. Es ist deshalb weder die deutsche<lb/> Politik, noch sind es die leitenden Persönlichkeiten in Deutschland, es sind lediglich<lb/> die englischen Interessen, die uns in England entgegenstehn und dauernd entgegen<lb/> bleiben werden unter jeder britischen Regierung.</p><lb/> <p xml:id="ID_1435"> Selbstverständlich hatte sich die Leitung der deutschen Politik, als sie sich zu<lb/> ihrem Eingreifen entschloß, alle Eventualitäten, die daraus hervorgehn konnten, voll¬<lb/> kommen klar gemacht. Sie hatte sorgfältig geprüft, wie weit wir einem vollen<lb/> Ernst der Lage gewachsen sein würden, und hatte auf das Ergebnis dieser Prüfung<lb/> ihre Entschließungen aufgebaut. Sie konnte aber dabei in Rechnung stellen, daß wenn<lb/> einerseits eine sehr starke und vor allen Dingen sehr einflußreiche deutschfeindliche<lb/> Strömung in England geneigt war, eine Kriegsgelegenheit gegen Deutschland an<lb/> der Seite einer starken Landmacht nicht unbenutzt zu lassen, es wiederum in Frank¬<lb/> reich eine sehr starke friedliche Strömung gab, die von einem Kriege gegen Deutsch¬<lb/> land, zumal um ein Mehr oder Minder in Marokko, nichts wissen wollte, weil sie<lb/> von der Überlegenheit der deutschen Waffen mehr als von dem Segen eines eng¬<lb/> lischen Bündnisses überzeugt war.</p><lb/> <p xml:id="ID_1436"> Von welchem Gewicht dieser Umstand in der Rechnung der deutscheu Politik<lb/> gewesen ist, entzieht sich der Erörterung, aber er berechtigte dazu, daß man, ohne<lb/> auf den Kriegsfall hinzusteuern, doch entschlossen blieb, ihm nicht auszuweichen,<lb/> wenn Ehre und Interessen keine friedliche Lösung erlaubten. Die öffentliche Meinung<lb/> in Deutschland würde einen verhängnisvollen Fehler begehn, wenn sie etwa diese<lb/> marokkanischen Händel uuter die Kategorie der ehemaligen gusrelles Mswanäss<lb/> rechnete, und wenn sich die Ansicht festsetzen sollte, man habe diesesmal nur mit den<lb/> Sporen geklirrt, um nach außen hin einigen Eindruck zu machen, tatsächlich habe nie¬<lb/> mand an Krieg gedacht. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Als sich Fürst Bülow<lb/> entschloß, in das englisch-französische Gewebe mit fester Hand hineinzugreifen, um<lb/> es zu durchreißen, mußte er mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, daß daraus eine<lb/> ernste Verwicklung hervorgehn könne: es konnte der Krieg in sehr kurzer Frist sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_1437"> Man mag jetzt noch die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich so sehr im<lb/> nationalen Interesse lag, daß es nicht zum Kriege kam. Der Friede und seine<lb/> Segnungen sind gewiß für einen Herrscher und eine Regierung, die sich ihrer<lb/> Verantwortlichkeit vor der Geschichte, vor Gott und den Menschen bewußt sind,<lb/> ein erstrebenswertes Ziel. Aber er kann nicht auf ewige Zeiten das ausschließliche<lb/> Ziel der Regierungstätigkeit sein. Es gibt Situationen, in denen der Friede gut,<lb/> der Krieg aber besser ist. Solche Situationen treten namentlich dann ein, wenn es<lb/> sich herausstellt, daß ein allzu langer Friede den zu gut genährten Volkskörper<lb/> mit ungesunden Wucherungen erfüllt, und daß die großen nationalen Zwecke durch<lb/> zentrifugale Strömungen und Parteiinteressen in den Hintergrund gedrängt werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1438" next="#ID_1439"> Es hieße den Kopf in den Sand stecken, wollte man sich verhehlen, daß die<lb/> heutige Lage in Deutschland von dem Überwuchern zentrifugaler, antinationaler<lb/> Kräfte ernst genug bedroht ist, und daß sich ein Ki-leg, der den nationalen Ge¬<lb/> danken und die nationalen Ziele mit einem Schlage wieder in den Vordergrund<lb/> rücken, der die Charaktere und die Mäuner der Tat wieder an die Stelle der<lb/> Phrasendrescher und der Redner setzen würde, als ein größerer Segen für Deutsch¬<lb/> land erweisen möchte als ein verlängerter und immer mehr zersetzend wirkender<lb/> Friede. Auch diese Erwägungen haben im Rate der deutschen Politik sicherlich<lb/> eine Rolle gespielt, und sie sind mitbestimmend gewesen zu der Entschließung,<lb/> so oder so Klarheit über die politische Situation zu schaffen. Daß die Armee<lb/> den Wunsch hat, sich einem ebenbürtigen Gegner gegenüber zu bewähren, ist<lb/> selbstverständlich. Sie empfindet die Gleichgiltigkeit tief, mit der breite Schichten<lb/> der Nation, und leider nicht allein diese, an den über jedes Lob erhabnen<lb/> Leistungen unsrer Truppen in Südafrika, an ihrem Opfermut und ihrem Helden¬<lb/> tum vorübergehn. Sie wünscht in Deutschland die hochgeachtete Stellung zu be¬<lb/> haupten, die einst dem Heere Kaiser Wilhelms des Ersten in dankbarster Alter-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0231]
wohl der lediglich geographische Begriff „Deutschland" bequem war, nicht aber die
Kraft einer geeinten Nation von sechzig Millionen. Es ist deshalb weder die deutsche
Politik, noch sind es die leitenden Persönlichkeiten in Deutschland, es sind lediglich
die englischen Interessen, die uns in England entgegenstehn und dauernd entgegen
bleiben werden unter jeder britischen Regierung.
Selbstverständlich hatte sich die Leitung der deutschen Politik, als sie sich zu
ihrem Eingreifen entschloß, alle Eventualitäten, die daraus hervorgehn konnten, voll¬
kommen klar gemacht. Sie hatte sorgfältig geprüft, wie weit wir einem vollen
Ernst der Lage gewachsen sein würden, und hatte auf das Ergebnis dieser Prüfung
ihre Entschließungen aufgebaut. Sie konnte aber dabei in Rechnung stellen, daß wenn
einerseits eine sehr starke und vor allen Dingen sehr einflußreiche deutschfeindliche
Strömung in England geneigt war, eine Kriegsgelegenheit gegen Deutschland an
der Seite einer starken Landmacht nicht unbenutzt zu lassen, es wiederum in Frank¬
reich eine sehr starke friedliche Strömung gab, die von einem Kriege gegen Deutsch¬
land, zumal um ein Mehr oder Minder in Marokko, nichts wissen wollte, weil sie
von der Überlegenheit der deutschen Waffen mehr als von dem Segen eines eng¬
lischen Bündnisses überzeugt war.
Von welchem Gewicht dieser Umstand in der Rechnung der deutscheu Politik
gewesen ist, entzieht sich der Erörterung, aber er berechtigte dazu, daß man, ohne
auf den Kriegsfall hinzusteuern, doch entschlossen blieb, ihm nicht auszuweichen,
wenn Ehre und Interessen keine friedliche Lösung erlaubten. Die öffentliche Meinung
in Deutschland würde einen verhängnisvollen Fehler begehn, wenn sie etwa diese
marokkanischen Händel uuter die Kategorie der ehemaligen gusrelles Mswanäss
rechnete, und wenn sich die Ansicht festsetzen sollte, man habe diesesmal nur mit den
Sporen geklirrt, um nach außen hin einigen Eindruck zu machen, tatsächlich habe nie¬
mand an Krieg gedacht. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Als sich Fürst Bülow
entschloß, in das englisch-französische Gewebe mit fester Hand hineinzugreifen, um
es zu durchreißen, mußte er mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, daß daraus eine
ernste Verwicklung hervorgehn könne: es konnte der Krieg in sehr kurzer Frist sein.
Man mag jetzt noch die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich so sehr im
nationalen Interesse lag, daß es nicht zum Kriege kam. Der Friede und seine
Segnungen sind gewiß für einen Herrscher und eine Regierung, die sich ihrer
Verantwortlichkeit vor der Geschichte, vor Gott und den Menschen bewußt sind,
ein erstrebenswertes Ziel. Aber er kann nicht auf ewige Zeiten das ausschließliche
Ziel der Regierungstätigkeit sein. Es gibt Situationen, in denen der Friede gut,
der Krieg aber besser ist. Solche Situationen treten namentlich dann ein, wenn es
sich herausstellt, daß ein allzu langer Friede den zu gut genährten Volkskörper
mit ungesunden Wucherungen erfüllt, und daß die großen nationalen Zwecke durch
zentrifugale Strömungen und Parteiinteressen in den Hintergrund gedrängt werden.
Es hieße den Kopf in den Sand stecken, wollte man sich verhehlen, daß die
heutige Lage in Deutschland von dem Überwuchern zentrifugaler, antinationaler
Kräfte ernst genug bedroht ist, und daß sich ein Ki-leg, der den nationalen Ge¬
danken und die nationalen Ziele mit einem Schlage wieder in den Vordergrund
rücken, der die Charaktere und die Mäuner der Tat wieder an die Stelle der
Phrasendrescher und der Redner setzen würde, als ein größerer Segen für Deutsch¬
land erweisen möchte als ein verlängerter und immer mehr zersetzend wirkender
Friede. Auch diese Erwägungen haben im Rate der deutschen Politik sicherlich
eine Rolle gespielt, und sie sind mitbestimmend gewesen zu der Entschließung,
so oder so Klarheit über die politische Situation zu schaffen. Daß die Armee
den Wunsch hat, sich einem ebenbürtigen Gegner gegenüber zu bewähren, ist
selbstverständlich. Sie empfindet die Gleichgiltigkeit tief, mit der breite Schichten
der Nation, und leider nicht allein diese, an den über jedes Lob erhabnen
Leistungen unsrer Truppen in Südafrika, an ihrem Opfermut und ihrem Helden¬
tum vorübergehn. Sie wünscht in Deutschland die hochgeachtete Stellung zu be¬
haupten, die einst dem Heere Kaiser Wilhelms des Ersten in dankbarster Alter-
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