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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die Vereinfachung der Arbeiterversicherung

seltsame Verschwendung der Mittel aufweisen. Es gibt 23000 Krankenkassen,
die sich in sieben Kassenarten zerteilen; zum Teil Kassen mit 10 bis 30 Mit¬
gliedern, bei denen die angestrebte Verteilung der Lasten auf breiten Schultern
natürlich illusorisch ist. Die Durchschnittszahl ist 430 Mitglieder auf jede
Krankenkasse im Deutschen Reich, und jede noch so kleine Krankenkasse
hat ihre besondre Verwaltung. Die Unfallversicherung ist in 113 Berufs¬
genossenschaften und 930 Sektionen, 7000 Vorstandsmitglieder und über
26000 örtliche Vertrauensmänner gegliedert. Die Beamten bekommen über
fünf Millionen Mark Gehalt. An der Jnvaliditüts - und Altersversicherung
sind 31 Landesversicherungsanstalten, 9 besondre Kasseneinrichtungen, 3000 Be¬
amte. 5000 Markenverkaufsanstalten und mehr als 7000 Beitragseinziehstellen
beteiligt. Es kommt alles in allem auf 18 Millionen Versicherter eine Viertel
Million Beamte; die Verwnltungskosten werden auf jährlich 35 Millionen
Mark geschätzt. Ferner ist die Aufbringung der Mittel und die Art der
Organisation über die Maßen buntscheckig geworden. Die Kosten der Unfall¬
versicherung bringen die Unternehmer allein auf, und sie allein entscheiden in
den Verufsgenosscuschaften. Bei der Invalidenversicherung zahlen Arbeiter
und Unternehmer zu gleichen Teilen, bei der Krankenversicherung die Arbeiter
zu zwei Dritteln, die Unternehmer zu einem Drittel; entsprechend dieser Bei¬
tragsleistung ist der Einfluß von Arbeitern und Unternehmern auf die Ver¬
waltung. Diese historische Gestaltung soll nun die Reform zugleich berück¬
sichtigen und überwinden -- ein außerordentlich schwieriges Unterfangen. Man
will darum, um nicht gleich zu viel aus die Hörner zu nehmen, stückweise
reformieren, und zunächst die Unfallversicherung beiseite lassen, vorerst nur
Kranken- und Invalidenversicherung in Einklang bringen. Die Mängel in
der Unfallversicherung glaubt man für sich behandeln zu können. Dagegen
ist die Tätigkeit der Jnvaliditütsversicherungsanstalten vielfach nur eine Fort¬
setzung des Heilungsprozesses, den die Krankenkassen begonnen haben. Mängel
auf dem Gebiete der Krankenbehandlung verspürt die Invalidenversicherung.
indem die Kranken nicht geheilt und bald Invaliden werden, bessere Kranken¬
fürsorge entlastet demnach die Invalidenversicherung. Jetzt arbeiten sich vielfach
Kranken- und Invalidenversicherung entgegen durch falsche Sparsamkeit und
durch verschiedne Auffassung der Erwerbsunfähigkeit; der leidende Teil sind
die Arbeiter. Aus deu gemeinsamen Interessen der beiden Bersicherungszweige
ergibt sich die besondre Dringlichkeit des Wunschs ihrer Ausgleichung und
Verschmelzung.

Zwei Pläne sind es. die bis jetzt am ehesten darauf hoffen können, ver¬
wirklicht zu werden, und die nach den Andeutungen des Grafen Posadowsky
im Reichsamt des Innern weiter verfolgt werden, nämlich die Vorschlüge der Vor¬
sitzenden der Landesversicheruugsanstalten Berlin und Oldenburg: Dr. Freund
und Regierungsrat Düttmann. Wir geben das Wesentliche wieder. Dr. Freund
will die Durchführung der Krankenversicherung den Landesvcrsicherungsanstalten
übertragen, diesen soll das Vermögen der bestehenden Krankenkassen nach Aus¬
scheidung eines den Mehrleistungen entsprechenden Teils überwiesen werden. Der
ausgeschiedne Vermögensteil darf nur für die Zwecke einer Zuschußversicherung


Die Vereinfachung der Arbeiterversicherung

seltsame Verschwendung der Mittel aufweisen. Es gibt 23000 Krankenkassen,
die sich in sieben Kassenarten zerteilen; zum Teil Kassen mit 10 bis 30 Mit¬
gliedern, bei denen die angestrebte Verteilung der Lasten auf breiten Schultern
natürlich illusorisch ist. Die Durchschnittszahl ist 430 Mitglieder auf jede
Krankenkasse im Deutschen Reich, und jede noch so kleine Krankenkasse
hat ihre besondre Verwaltung. Die Unfallversicherung ist in 113 Berufs¬
genossenschaften und 930 Sektionen, 7000 Vorstandsmitglieder und über
26000 örtliche Vertrauensmänner gegliedert. Die Beamten bekommen über
fünf Millionen Mark Gehalt. An der Jnvaliditüts - und Altersversicherung
sind 31 Landesversicherungsanstalten, 9 besondre Kasseneinrichtungen, 3000 Be¬
amte. 5000 Markenverkaufsanstalten und mehr als 7000 Beitragseinziehstellen
beteiligt. Es kommt alles in allem auf 18 Millionen Versicherter eine Viertel
Million Beamte; die Verwnltungskosten werden auf jährlich 35 Millionen
Mark geschätzt. Ferner ist die Aufbringung der Mittel und die Art der
Organisation über die Maßen buntscheckig geworden. Die Kosten der Unfall¬
versicherung bringen die Unternehmer allein auf, und sie allein entscheiden in
den Verufsgenosscuschaften. Bei der Invalidenversicherung zahlen Arbeiter
und Unternehmer zu gleichen Teilen, bei der Krankenversicherung die Arbeiter
zu zwei Dritteln, die Unternehmer zu einem Drittel; entsprechend dieser Bei¬
tragsleistung ist der Einfluß von Arbeitern und Unternehmern auf die Ver¬
waltung. Diese historische Gestaltung soll nun die Reform zugleich berück¬
sichtigen und überwinden — ein außerordentlich schwieriges Unterfangen. Man
will darum, um nicht gleich zu viel aus die Hörner zu nehmen, stückweise
reformieren, und zunächst die Unfallversicherung beiseite lassen, vorerst nur
Kranken- und Invalidenversicherung in Einklang bringen. Die Mängel in
der Unfallversicherung glaubt man für sich behandeln zu können. Dagegen
ist die Tätigkeit der Jnvaliditütsversicherungsanstalten vielfach nur eine Fort¬
setzung des Heilungsprozesses, den die Krankenkassen begonnen haben. Mängel
auf dem Gebiete der Krankenbehandlung verspürt die Invalidenversicherung.
indem die Kranken nicht geheilt und bald Invaliden werden, bessere Kranken¬
fürsorge entlastet demnach die Invalidenversicherung. Jetzt arbeiten sich vielfach
Kranken- und Invalidenversicherung entgegen durch falsche Sparsamkeit und
durch verschiedne Auffassung der Erwerbsunfähigkeit; der leidende Teil sind
die Arbeiter. Aus deu gemeinsamen Interessen der beiden Bersicherungszweige
ergibt sich die besondre Dringlichkeit des Wunschs ihrer Ausgleichung und
Verschmelzung.

Zwei Pläne sind es. die bis jetzt am ehesten darauf hoffen können, ver¬
wirklicht zu werden, und die nach den Andeutungen des Grafen Posadowsky
im Reichsamt des Innern weiter verfolgt werden, nämlich die Vorschlüge der Vor¬
sitzenden der Landesversicheruugsanstalten Berlin und Oldenburg: Dr. Freund
und Regierungsrat Düttmann. Wir geben das Wesentliche wieder. Dr. Freund
will die Durchführung der Krankenversicherung den Landesvcrsicherungsanstalten
übertragen, diesen soll das Vermögen der bestehenden Krankenkassen nach Aus¬
scheidung eines den Mehrleistungen entsprechenden Teils überwiesen werden. Der
ausgeschiedne Vermögensteil darf nur für die Zwecke einer Zuschußversicherung


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[0021] Die Vereinfachung der Arbeiterversicherung seltsame Verschwendung der Mittel aufweisen. Es gibt 23000 Krankenkassen, die sich in sieben Kassenarten zerteilen; zum Teil Kassen mit 10 bis 30 Mit¬ gliedern, bei denen die angestrebte Verteilung der Lasten auf breiten Schultern natürlich illusorisch ist. Die Durchschnittszahl ist 430 Mitglieder auf jede Krankenkasse im Deutschen Reich, und jede noch so kleine Krankenkasse hat ihre besondre Verwaltung. Die Unfallversicherung ist in 113 Berufs¬ genossenschaften und 930 Sektionen, 7000 Vorstandsmitglieder und über 26000 örtliche Vertrauensmänner gegliedert. Die Beamten bekommen über fünf Millionen Mark Gehalt. An der Jnvaliditüts - und Altersversicherung sind 31 Landesversicherungsanstalten, 9 besondre Kasseneinrichtungen, 3000 Be¬ amte. 5000 Markenverkaufsanstalten und mehr als 7000 Beitragseinziehstellen beteiligt. Es kommt alles in allem auf 18 Millionen Versicherter eine Viertel Million Beamte; die Verwnltungskosten werden auf jährlich 35 Millionen Mark geschätzt. Ferner ist die Aufbringung der Mittel und die Art der Organisation über die Maßen buntscheckig geworden. Die Kosten der Unfall¬ versicherung bringen die Unternehmer allein auf, und sie allein entscheiden in den Verufsgenosscuschaften. Bei der Invalidenversicherung zahlen Arbeiter und Unternehmer zu gleichen Teilen, bei der Krankenversicherung die Arbeiter zu zwei Dritteln, die Unternehmer zu einem Drittel; entsprechend dieser Bei¬ tragsleistung ist der Einfluß von Arbeitern und Unternehmern auf die Ver¬ waltung. Diese historische Gestaltung soll nun die Reform zugleich berück¬ sichtigen und überwinden — ein außerordentlich schwieriges Unterfangen. Man will darum, um nicht gleich zu viel aus die Hörner zu nehmen, stückweise reformieren, und zunächst die Unfallversicherung beiseite lassen, vorerst nur Kranken- und Invalidenversicherung in Einklang bringen. Die Mängel in der Unfallversicherung glaubt man für sich behandeln zu können. Dagegen ist die Tätigkeit der Jnvaliditütsversicherungsanstalten vielfach nur eine Fort¬ setzung des Heilungsprozesses, den die Krankenkassen begonnen haben. Mängel auf dem Gebiete der Krankenbehandlung verspürt die Invalidenversicherung. indem die Kranken nicht geheilt und bald Invaliden werden, bessere Kranken¬ fürsorge entlastet demnach die Invalidenversicherung. Jetzt arbeiten sich vielfach Kranken- und Invalidenversicherung entgegen durch falsche Sparsamkeit und durch verschiedne Auffassung der Erwerbsunfähigkeit; der leidende Teil sind die Arbeiter. Aus deu gemeinsamen Interessen der beiden Bersicherungszweige ergibt sich die besondre Dringlichkeit des Wunschs ihrer Ausgleichung und Verschmelzung. Zwei Pläne sind es. die bis jetzt am ehesten darauf hoffen können, ver¬ wirklicht zu werden, und die nach den Andeutungen des Grafen Posadowsky im Reichsamt des Innern weiter verfolgt werden, nämlich die Vorschlüge der Vor¬ sitzenden der Landesversicheruugsanstalten Berlin und Oldenburg: Dr. Freund und Regierungsrat Düttmann. Wir geben das Wesentliche wieder. Dr. Freund will die Durchführung der Krankenversicherung den Landesvcrsicherungsanstalten übertragen, diesen soll das Vermögen der bestehenden Krankenkassen nach Aus¬ scheidung eines den Mehrleistungen entsprechenden Teils überwiesen werden. Der ausgeschiedne Vermögensteil darf nur für die Zwecke einer Zuschußversicherung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/21>, abgerufen am 15.01.2025.