Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.vom Zuge zu einem innerlichen Leben beherrscht, aus dem durch Lektüre und Der Ton, in dem Ricks "die hysterische Jungfer, das Nönnchen" be¬ vom Zuge zu einem innerlichen Leben beherrscht, aus dem durch Lektüre und Der Ton, in dem Ricks „die hysterische Jungfer, das Nönnchen" be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0160" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296171"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_858" prev="#ID_857"> vom Zuge zu einem innerlichen Leben beherrscht, aus dem durch Lektüre und<lb/> mündliche Mitteilungen gelieferten Material eine innere Welt aufbauen, die<lb/> ihre Heimat wird. Ein durch die heilige Geschichte und durch Heiligenlegenden<lb/> genährter mächtiger Liebes- und Leideusdrang tritt hinzu und erzeugt am<lb/> Körper Erscheinungen, die nach dem heutigen Stande der Wissenschaft als<lb/> Wirkungen von Autosuggestion erklärt werden dürfen; und sollte die interessierte<lb/> Umgebung mit frommem Betrug ein wenig nachgeholfen haben, so braucht<lb/> deshalb die Kranke noch nicht zur bewußten Betrügerin gestempelt zu werden,<lb/> da man ja weiß, wie sehr es phantasievollen Personen, namentlich Kindern<lb/> und hysterischen Frauen, schwer fällt, die Wirklichkeit von ihren Einbildungen<lb/> und Wünschen zu unterscheiden. Fest steht mir nur, daß die Mitteilungen<lb/> der Nonne keine Offenbarungen sein können und auch von den Katholiken<lb/> nicht dafür gehalten werden dürfen, die nicht gleich den orthodoxen Protestanten<lb/> glauben, daß der Tod des letzten Apostels das Zeitalter der Offenbarungen<lb/> abgeschlossen habe. Tolle Einbildungen wie die von dem hellsehender Täuf¬<lb/> ling müßten auch dann für Halluzination gehalten werden, wenn Anna<lb/> Katharina nicht zu einer andern Zeit auf die Frage Overbergs, von welchem<lb/> Jahre ihres Lebens an sie sich an etwas erinnern könne, geantwortet hätte:<lb/> vom dritten Jahre an. Ihre biblischen, weltgeschichtlichen und geographischen<lb/> Visionen aber verlieren durch zwei Umstände auch für den katholisch Gläubigen<lb/> alle Glaubwürdigkeit; es kommen darin Sachen aus den apokryphen, von der<lb/> Kirche verworfnen Evangelien vor, und Clemens Brentano ist es, der diese<lb/> Visionen aufgezeichnet — zuerst suggeriert, sagten mir in München Personen,<lb/> die Personen des Münsterschen Kreises nahe gestanden hatten — und dann<lb/> ausgearbeitet hat. Daß dieser Mann imstande gewesen sein sollte, über irgend<lb/> etwas Wahrgenommnes objektiv und genau zu berichten, zwischen dem Wahr-<lb/> genommnen und seinen eignen Einfällen und Phantasien zu unterscheiden,<lb/> glaubt kein Mensch, der ihn kennt. Er ist zeitlebens ein Virtuos im Lügen<lb/> geblieben, hat als genialer, dichterisch hochbegabter Narr die Wirklichkeit in<lb/> Phantastik aufgelöst, und wenn man bei einem Menschen, der seine Phantasie<lb/> zügellos einhertollen läßt, überhaupt von Charakter sprechen darf, so muß man<lb/> sagen, daß dieser Charakter geradezu häßliche Seiten hatte. Er vermochte<lb/> zwar durch Liebenswürdigkeit für den Augenblick zu bezaubern wie seine<lb/> Schwester Bettina, erscheint aber weniger achtungswert als diese. Ein solches<lb/> Wesen ist kein geeignetes Sprachrohr für die Mitteilung gewöhnlicher Vor¬<lb/> fälle an eine Zeitung, geschweige denn für göttliche Offenbarungen.</p><lb/> <p xml:id="ID_859" next="#ID_860"> Der Ton, in dem Ricks „die hysterische Jungfer, das Nönnchen" be¬<lb/> handelt, entfließt dem mir seit dreißig Jahren bekannten Naturell des Mannes,<lb/> und die Katholiken haben wahrhaftig kein Recht, sich darüber zu beschweren,<lb/> nachdem Leo der Dreizehnte und Denifle Luthern und die Reformation, die<lb/> doch ganz andre Heiligtümer sind als eine fromme Schwärmerin, in einem<lb/> noch weit ärgern Tone behandelt haben. Auch wird der Evangelische Bund<lb/> für das ihm gelieferte neue Agitationsmaterial dankbar sein. Im Interesse<lb/> der Verständigung Hütte ich jedoch gewünscht, daß ein andrer Verfasser den<lb/> Gegenstand behandelt Hütte. Zwischen dem philiströsen, hausbacknen Verstandes-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0160]
vom Zuge zu einem innerlichen Leben beherrscht, aus dem durch Lektüre und
mündliche Mitteilungen gelieferten Material eine innere Welt aufbauen, die
ihre Heimat wird. Ein durch die heilige Geschichte und durch Heiligenlegenden
genährter mächtiger Liebes- und Leideusdrang tritt hinzu und erzeugt am
Körper Erscheinungen, die nach dem heutigen Stande der Wissenschaft als
Wirkungen von Autosuggestion erklärt werden dürfen; und sollte die interessierte
Umgebung mit frommem Betrug ein wenig nachgeholfen haben, so braucht
deshalb die Kranke noch nicht zur bewußten Betrügerin gestempelt zu werden,
da man ja weiß, wie sehr es phantasievollen Personen, namentlich Kindern
und hysterischen Frauen, schwer fällt, die Wirklichkeit von ihren Einbildungen
und Wünschen zu unterscheiden. Fest steht mir nur, daß die Mitteilungen
der Nonne keine Offenbarungen sein können und auch von den Katholiken
nicht dafür gehalten werden dürfen, die nicht gleich den orthodoxen Protestanten
glauben, daß der Tod des letzten Apostels das Zeitalter der Offenbarungen
abgeschlossen habe. Tolle Einbildungen wie die von dem hellsehender Täuf¬
ling müßten auch dann für Halluzination gehalten werden, wenn Anna
Katharina nicht zu einer andern Zeit auf die Frage Overbergs, von welchem
Jahre ihres Lebens an sie sich an etwas erinnern könne, geantwortet hätte:
vom dritten Jahre an. Ihre biblischen, weltgeschichtlichen und geographischen
Visionen aber verlieren durch zwei Umstände auch für den katholisch Gläubigen
alle Glaubwürdigkeit; es kommen darin Sachen aus den apokryphen, von der
Kirche verworfnen Evangelien vor, und Clemens Brentano ist es, der diese
Visionen aufgezeichnet — zuerst suggeriert, sagten mir in München Personen,
die Personen des Münsterschen Kreises nahe gestanden hatten — und dann
ausgearbeitet hat. Daß dieser Mann imstande gewesen sein sollte, über irgend
etwas Wahrgenommnes objektiv und genau zu berichten, zwischen dem Wahr-
genommnen und seinen eignen Einfällen und Phantasien zu unterscheiden,
glaubt kein Mensch, der ihn kennt. Er ist zeitlebens ein Virtuos im Lügen
geblieben, hat als genialer, dichterisch hochbegabter Narr die Wirklichkeit in
Phantastik aufgelöst, und wenn man bei einem Menschen, der seine Phantasie
zügellos einhertollen läßt, überhaupt von Charakter sprechen darf, so muß man
sagen, daß dieser Charakter geradezu häßliche Seiten hatte. Er vermochte
zwar durch Liebenswürdigkeit für den Augenblick zu bezaubern wie seine
Schwester Bettina, erscheint aber weniger achtungswert als diese. Ein solches
Wesen ist kein geeignetes Sprachrohr für die Mitteilung gewöhnlicher Vor¬
fälle an eine Zeitung, geschweige denn für göttliche Offenbarungen.
Der Ton, in dem Ricks „die hysterische Jungfer, das Nönnchen" be¬
handelt, entfließt dem mir seit dreißig Jahren bekannten Naturell des Mannes,
und die Katholiken haben wahrhaftig kein Recht, sich darüber zu beschweren,
nachdem Leo der Dreizehnte und Denifle Luthern und die Reformation, die
doch ganz andre Heiligtümer sind als eine fromme Schwärmerin, in einem
noch weit ärgern Tone behandelt haben. Auch wird der Evangelische Bund
für das ihm gelieferte neue Agitationsmaterial dankbar sein. Im Interesse
der Verständigung Hütte ich jedoch gewünscht, daß ein andrer Verfasser den
Gegenstand behandelt Hütte. Zwischen dem philiströsen, hausbacknen Verstandes-
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