Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Das neue Griechenland im neuen furchtbare Anklage gegen das herrschende griechische Schulerziehnngssystem und Man steht, daß Photiadis nichts geringeres erstrebt als eine Reform der Das neue Griechenland im neuen furchtbare Anklage gegen das herrschende griechische Schulerziehnngssystem und Man steht, daß Photiadis nichts geringeres erstrebt als eine Reform der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0135" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296146"/> <fw type="header" place="top"> Das neue Griechenland im neuen</fw><lb/> <p xml:id="ID_792" prev="#ID_791"> furchtbare Anklage gegen das herrschende griechische Schulerziehnngssystem und<lb/> eine Anklage gegen die Nation, die es stillschweigend billigt, daß es ihre zarten<lb/> Blüten in der Zeit ihrer entscheidenden Entwicklung tötet und erstickt. Er schildert<lb/> mit eindrucksvoller Darstellungsgabe, wie die Sprachblume, die dem Kinde unter<lb/> dem liebevollen Sonnenauge der Mutter auf den Lippen erblüht, in der Schule er¬<lb/> bleicht und welkt; denn Lehrer und Lehrerinnen arbeiten in töricht unbewußter<lb/> Verblendung nicht daran, sie zu veredeln und zu bereichern, sondern sie töten<lb/> ihn: die eigne Sprache, ohne ihm dafür eine andre einimpfen zu können; so<lb/> lernt das Kind die Muttersprache verachten, ohne dafür die alte wirklich zu er¬<lb/> lernen. Man treibt ihm diese in sein Gehirn hinein wie Nägel in einen Baum¬<lb/> stamm. Aber dadurch wird der Mensch, und damit der Bürger, und damit die<lb/> Nation getötet. Es ist genau so unnatürlich, als wollte man unsern Kindern<lb/> ihre neuhochdeutsche Muttersprache austreiben und durch die mittelhochdeutsche<lb/> gewaltsam ersetzen. Dagegen bemerkt Photiadis treffend und für uns völlig<lb/> selbstverständlich, daß dieses erste häusliche Leben der Sprache gepflegt werden<lb/> müsse, weil es die Wurzeln des Verstandes tränkt, ernährt und stärkt. „Dieser<lb/> Sprachkern, den sich das Kind auf den Knien der Mutter erwirbt, ist der<lb/> wahre, lebendige Organismus, der die wesensgleiche und untrennbare Dreiheit<lb/> umschließt, den Verstand, das Gefühl, den Willen. Diesen kleinen aber voll-<lb/> kommnen Organismus muß auch die Schule Pflegen und zur nationalen Sprache<lb/> erheben. Ohne ihn ist sie eine Stätte, an der die Entwicklung des Kindes,<lb/> d. h. der Nation stillsteht." Es ist hier nicht der Ort, auf die Ausführungen<lb/> und Vorschläge des Verfassers näher einzugehn; nur einige charakteristische<lb/> Sätze aus der wuchtigen Vorrede seines Buches seien zur Veranschaulichung<lb/> seines Wesens und seiner Ideen hier wiedergegeben. So heißt es über das<lb/> rechte Verhältnis der neuen Bildung, für die er eintritt, zum sozialen Leben:<lb/> «Wenn das Erziehungssystem seine richtige Stellung im sozialen Organismus<lb/> einnimmt, dann wird auch seine Wirkung ganz beginnen; es wird sich dann<lb/> nicht nur auf die konservativen Werke beschränken .... sondern dann wird<lb/> sich die Erziehungs- und Bildungstätigkeit auch an andre fortschrittliche Auf¬<lb/> gaben machen. Sie wird sich bemühen, uns zu Formen zu führen, die das<lb/> Glück des gesamten sozialen Organismus zu bringen suchen werden." Von dem<lb/> Kinde muß man ausgehn. „Das ist der organische Trieb. Wir verstehn nicht,<lb/> ihn zum Nutzen des Organismus zu organisieren. ... Wenn wir aber be¬<lb/> denken, daß die sozialen Erscheinungen in unaufhörlichem Wandel begriffen sind,<lb/> wenn wir verstehn, daß dies bedeutet, daß das organische Material sich leichter<lb/> kneten und bearbeiten läßt, dann werden wir auch einsehen, daß es nicht un¬<lb/> möglich ist, durch die rechte Bildung und mit der Zeit bessere Seelen in schönern<lb/> Körpern zustande zu bringen. ... Der junge Mensch muß fühlen, daß Sprach¬<lb/> frage, Erziehungsfrage, Bildungsfrage, geistige und seelische Gesundheitsfrage —<lb/> daß alle diese Fragen eine sind: die nationale Frage."</p><lb/> <p xml:id="ID_793" next="#ID_794"> Man steht, daß Photiadis nichts geringeres erstrebt als eine Reform der<lb/> gesamten Nationalerziehung auf moderner Grundlage. Und er hat durchaus<lb/> das Zeug zum Reformator: er ist ein Mann von weitem Blick und umfassender<lb/> Bildung, geschult an der deutschen und an der englischen Philosophie und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0135]
Das neue Griechenland im neuen
furchtbare Anklage gegen das herrschende griechische Schulerziehnngssystem und
eine Anklage gegen die Nation, die es stillschweigend billigt, daß es ihre zarten
Blüten in der Zeit ihrer entscheidenden Entwicklung tötet und erstickt. Er schildert
mit eindrucksvoller Darstellungsgabe, wie die Sprachblume, die dem Kinde unter
dem liebevollen Sonnenauge der Mutter auf den Lippen erblüht, in der Schule er¬
bleicht und welkt; denn Lehrer und Lehrerinnen arbeiten in töricht unbewußter
Verblendung nicht daran, sie zu veredeln und zu bereichern, sondern sie töten
ihn: die eigne Sprache, ohne ihm dafür eine andre einimpfen zu können; so
lernt das Kind die Muttersprache verachten, ohne dafür die alte wirklich zu er¬
lernen. Man treibt ihm diese in sein Gehirn hinein wie Nägel in einen Baum¬
stamm. Aber dadurch wird der Mensch, und damit der Bürger, und damit die
Nation getötet. Es ist genau so unnatürlich, als wollte man unsern Kindern
ihre neuhochdeutsche Muttersprache austreiben und durch die mittelhochdeutsche
gewaltsam ersetzen. Dagegen bemerkt Photiadis treffend und für uns völlig
selbstverständlich, daß dieses erste häusliche Leben der Sprache gepflegt werden
müsse, weil es die Wurzeln des Verstandes tränkt, ernährt und stärkt. „Dieser
Sprachkern, den sich das Kind auf den Knien der Mutter erwirbt, ist der
wahre, lebendige Organismus, der die wesensgleiche und untrennbare Dreiheit
umschließt, den Verstand, das Gefühl, den Willen. Diesen kleinen aber voll-
kommnen Organismus muß auch die Schule Pflegen und zur nationalen Sprache
erheben. Ohne ihn ist sie eine Stätte, an der die Entwicklung des Kindes,
d. h. der Nation stillsteht." Es ist hier nicht der Ort, auf die Ausführungen
und Vorschläge des Verfassers näher einzugehn; nur einige charakteristische
Sätze aus der wuchtigen Vorrede seines Buches seien zur Veranschaulichung
seines Wesens und seiner Ideen hier wiedergegeben. So heißt es über das
rechte Verhältnis der neuen Bildung, für die er eintritt, zum sozialen Leben:
«Wenn das Erziehungssystem seine richtige Stellung im sozialen Organismus
einnimmt, dann wird auch seine Wirkung ganz beginnen; es wird sich dann
nicht nur auf die konservativen Werke beschränken .... sondern dann wird
sich die Erziehungs- und Bildungstätigkeit auch an andre fortschrittliche Auf¬
gaben machen. Sie wird sich bemühen, uns zu Formen zu führen, die das
Glück des gesamten sozialen Organismus zu bringen suchen werden." Von dem
Kinde muß man ausgehn. „Das ist der organische Trieb. Wir verstehn nicht,
ihn zum Nutzen des Organismus zu organisieren. ... Wenn wir aber be¬
denken, daß die sozialen Erscheinungen in unaufhörlichem Wandel begriffen sind,
wenn wir verstehn, daß dies bedeutet, daß das organische Material sich leichter
kneten und bearbeiten läßt, dann werden wir auch einsehen, daß es nicht un¬
möglich ist, durch die rechte Bildung und mit der Zeit bessere Seelen in schönern
Körpern zustande zu bringen. ... Der junge Mensch muß fühlen, daß Sprach¬
frage, Erziehungsfrage, Bildungsfrage, geistige und seelische Gesundheitsfrage —
daß alle diese Fragen eine sind: die nationale Frage."
Man steht, daß Photiadis nichts geringeres erstrebt als eine Reform der
gesamten Nationalerziehung auf moderner Grundlage. Und er hat durchaus
das Zeug zum Reformator: er ist ein Mann von weitem Blick und umfassender
Bildung, geschult an der deutschen und an der englischen Philosophie und
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |