Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Das neue Griechenland im neuen So geht der Egoismus schließlich in soziale Gleichgiltigkeit und Passivität Und damit rühren wir schon an dem dritten und schwersten Übel des "Aber, so ruft der Verfasser in gerechter Entrüstung, was haben uns die Die Folgen dieses Pedantentums geben der ganzen Literatur und Bildung Grenzboten IV 1905 17
Das neue Griechenland im neuen So geht der Egoismus schließlich in soziale Gleichgiltigkeit und Passivität Und damit rühren wir schon an dem dritten und schwersten Übel des „Aber, so ruft der Verfasser in gerechter Entrüstung, was haben uns die Die Folgen dieses Pedantentums geben der ganzen Literatur und Bildung Grenzboten IV 1905 17
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Das neue Griechenland im neuen
So geht der Egoismus schließlich in soziale Gleichgiltigkeit und Passivität
über, die sich u. a. in dem Anrufen fremder Hilfe und in dem Verleugnen aller
volkstümlichen Eigentümlichkeit äußert. Die Ausländerei im politischen und im
sozialen Leben hat hier ihren Ursprung. Hieraus hat sich auch der Philhelle¬
nismus entwickelt, von dem der Verfasser mit Recht sagt, daß er den Griechen
schwer geschadet hat. „Er hat bewirkt, daß wir von Andern erwarteten, was
unsre Sache war. Die Geschäfte des Landes muß der Fremde verrichten. Was
weiß der »Patriot« davon, daß es dem Vaterlande gut ergehn, und er Ent¬
behrungen tragen muß! Was sind das für Theorien? Hilfe, Hilfe, Freund!
Europa, Diplomatie, Gesandtschaften!" Mit diesem Mangel an Selbstvertrauen
geht Hand in Hand die Verachtung und die Vernichtung alles heimatlichen
Volkstums: „Was man auch im Griechentum sieht, in Dorf und Stadt, bei
Burschen und Mädchen, immer nur beobachtet man eins: was uns Eignes ge¬
blieben ist, kehren wir allmählich aus: unsre Sprache haben wir fortgeworfen;
unsre Lieder haben wir fortgeworfen; unsre Reigentänze haben wir verleugnet____
Unsre Musik muß aus Europa, unsre Sprache aus dem Altertum kommen____"
Und damit rühren wir schon an dem dritten und schwersten Übel des
Griechentums, an dem sprachlichen Epigonentum und seinen großen Gefahren für
das politische und das geistige Leben. Darum sind auch Eftaliotis Mahnungen
in diesem Punkte besonders eindringlich, sein Tadel besonders scharf. „Wer hört
dich an, auch wenn dus ihnen sagst, daß ein Volk, wenn es eigne Kraft und
eignes Leben haben will, auch eine eigne Sprache haben muß? Daß wir es,
um Kultur in sein Herz zu träufeln, in seiner Sprache belehren müssen und
nicht in einer, die man nie ganz in einem Hauswesen gehört hat, sondern die
zum Teil gesprochen wurde, als Christus, zum Teil, als Mohammed erschien,
und zum Teil gesprochen werden wird, wenn der Messias wiederkehren wird!"
Diese Verrenkung der natürlichen Sprache bedeutet eine unerhörte Tyrannei der
Geister: „Das Türkenjoch hält keinen Vergleich aus mit dem Druck der Schul¬
meistern." Und wie die Sprache, so war auch die Literatur ein Produkt der
Schulmeister: „Da sie nur daran dachten, was dieser und jener große Kopf
geschrieben und gesagt hatte, wie sollte der Pedant darauf kommen, sein eignes
Köpfchen zu fragen? So setzten sie sich also auf ihren Richterstuhl und de¬
kretierten: das Metrum müsse so sein, die Lösung so, die Katharsis so."
„Aber, so ruft der Verfasser in gerechter Entrüstung, was haben uns die
Partizipien und Infinitive bis jetzt Gutes gebracht, die ihr wie Kartoffeln in
Rumelien, Makedonien und Epirus einsetzt? Wie lange werden wir diese taten¬
lose Nation mit eiteln Worten und alten Geschichten einlullen?" Die Sprach¬
frage ist ihm eine nationale Lebensfrage: „Es handelt sich nicht darum, ob wir
Neugriechisch oder Attisch reden sollen, sondern darum, ob Neugriechisch oder
Bulgarisch, Türkisch oder Albcmesisch!"
Die Folgen dieses Pedantentums geben der ganzen Literatur und Bildung
einen künstlichen, unwahren Charakter; man verkennt das Notwendige und
kultiviert das Überflüssige. Im griechischen Verein zu Konstantinopel hält man
Vorlesungen über allerlei Wissenschaften. „Siehst du, bemerkt dazu Eftaliotis,
man fängt die Sache von hinten an. Man beginnt mit dem nationalen Fort-
Grenzboten IV 1905 17
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