Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel. Der Abgeordnete Müller-Meiningen hat sich bewogen gefühlt, Herr Müller meinte, die englischen Verhältnisse seien geradezu ein typisches Hierin irrt Herr Müller wieder einmal, wie er sich leider in so vielen Dingen Es ist einmal das Wort gesprochen worden: In England schreibt sich das Grenzboten IV 1905 15
Maßgebliches und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel. Der Abgeordnete Müller-Meiningen hat sich bewogen gefühlt, Herr Müller meinte, die englischen Verhältnisse seien geradezu ein typisches Hierin irrt Herr Müller wieder einmal, wie er sich leider in so vielen Dingen Es ist einmal das Wort gesprochen worden: In England schreibt sich das Grenzboten IV 1905 15
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296126"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> </div> </div> <div n="1"> <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/> <div n="2"> <head> Reichsspiegel.</head> <p xml:id="ID_737"> Der Abgeordnete Müller-Meiningen hat sich bewogen gefühlt,<lb/> dem freisinnigen Parteitage in Wiesbaden seine Meinung über die deutsche aus¬<lb/> wärtige Politik vorzutragen, und die Frankfurter Zeitung hat ihm den Dienst ge¬<lb/> leistet, diese Rede auf ein Piedestal zustellen, damit sie der Mitwelt nicht verloren<lb/> gehe. Die Frankfurterin selbst ist dabei der Ansicht: „Eine den Parteitagen der<lb/> letzten Woche gemeinsame Erscheinung war das lebhafte Interesse für die aus¬<lb/> wärtige Politik, das Mißtrauen in die Haltung oder in das Geschick (sie) der<lb/> leitenden Kreise und die starke Betonung der Friedenslust des Volkes; man will<lb/> mit England ebenso ein gutes Verhältnis, wie man es nicht begreifen könnte, wenn<lb/> wegen des bißchen Marokko ein Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland ent¬<lb/> stünde." Dieses solchergestalt bekundete Mißtrauen der Frankfurter Zeitung in die<lb/> Leitung der deutschen Politik ist freilich um so auffälliger, als sie in Berlin be¬<lb/> kanntlich über einen der bestiufvrmierten Korrespondenten verfügt, wie deren der<lb/> deutschen und der ausländischen Presse in Berlin nur sehr wenig zur Verfügung<lb/> stehn, vou dem sie wohl auch über die Spannungen mit England ebenso wie über<lb/> das „bißchen Marokko" sorgfältig und korrekt auf dem laufenden gehalten wordeu<lb/> ist. Die Parteitage „der letzten Woche" waren doch nur die Jenenser Blamage<lb/> der Sozialdemokratie und die vergnügliche Zusammenkunft der Freisinnigen im<lb/> Rheingau. Ob die Frankfurterin den Freisinnigen eine Ehre erweist, wenn sie<lb/> diese mit den Sozialdemokraten in eine Kategorie bringt und ihre politische Weis¬<lb/> heit mit den sozialdemokratischen Verrücktheiten in einen Topf wirft?</p><lb/> <p xml:id="ID_738"> Herr Müller meinte, die englischen Verhältnisse seien geradezu ein typisches<lb/> Beispiel dafür, was eine fanatische und kurzsichtige Presse in der auswärtigen Politik<lb/> sündigen könne. „Die großen Massen des Volks wollen weder in England noch<lb/> in Deutschland etwas vou diesen blöden Hetzereien wissen. In England sitzt der<lb/> von der Presse künstlich aufgestachelte Haß in einem Teile des politisch völlig ver¬<lb/> setzten Kleinbürgertums."</p><lb/> <p xml:id="ID_739"> Hierin irrt Herr Müller wieder einmal, wie er sich leider in so vielen Dingen<lb/> zu irren pflegt. Die großen Massen sind in England ausgesprochen antideutsch,<lb/> antideutsch ist die Stimmung der Arbeiter gegen ihre in England arbeitenden<lb/> deutschen Berufsgenossen, die der Handlungsgehilfen gegen ihre deutschen Kollegen usw.<lb/> Das U^nig in Sol-nao,? war doch auch nicht etwa aus einem Wohlwollen gegen<lb/> Deutschland, und keineswegs aus deu Kreisen des Kleinbürgertums, der Gevatter<lb/> Schneider und Handschuhmacher, hervorgegangen, sondern aus den Kreisen der<lb/> englischen Exportindustrie; die Bewegung reichte weit nach Indien, Kanada und<lb/> Australien hinein und strömte von dort in das Mutterland zurück. „Den Kreisen<lb/> des Kleinbürgertums" gehört doch auch wohl der bekannte Seelord Mr. Lee nicht<lb/> an, auch nicht den Kreisen, die sich von der Presse in einen künstlichen Haß hinein¬<lb/> setzen lassen, ebensowenig der Admiral Fisher, die Seele der gegen Deutschland<lb/> gerichteten Neuorganisation der englischen Flotte. Jenen Kreisen gehört auch der<lb/> Hof nicht an, dessen Verhalten bei der Vermählung des deutschen Kronprinzen so<lb/> allgemein aufgefallen ist. Auch irrt der sonst so allwissende Abgeordnete Müller<lb/> i» der Annahme, daß die englische Presse, gleich der deutschen freisinnigen und der<lb/> sozialdemokratischen, ihr Publikum jahrelang künstlich in einen Haß hineinsetzen<lb/> könnte. Der Engländer, der ja freilich von den andern europäischen Völkern oft<lb/> recht wenig weiß und das Wenige nur aus seinen Zeitungen, pflegt sich doch in<lb/> sehr viel höherm Maße, als die deutschen Zeitungsleser es im allgemeinen tun,<lb/> seine Meinung selbständig und unabhängig zu bilden.</p><lb/> <p xml:id="ID_740" next="#ID_741"> Es ist einmal das Wort gesprochen worden: In England schreibt sich das<lb/> Publikum seine Zeitung selbst. Das ist bis zu einem gewissen Grade auch heute<lb/> noch richtig. Kein Editor im Vereinigten Königreich könnte es wagen, seinen Lesern<lb/> jahrein jahraus Verdächtigungen aller Art gegen Deutschland vorzusetzen, wenn er</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1905 15</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0115]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel. Der Abgeordnete Müller-Meiningen hat sich bewogen gefühlt,
dem freisinnigen Parteitage in Wiesbaden seine Meinung über die deutsche aus¬
wärtige Politik vorzutragen, und die Frankfurter Zeitung hat ihm den Dienst ge¬
leistet, diese Rede auf ein Piedestal zustellen, damit sie der Mitwelt nicht verloren
gehe. Die Frankfurterin selbst ist dabei der Ansicht: „Eine den Parteitagen der
letzten Woche gemeinsame Erscheinung war das lebhafte Interesse für die aus¬
wärtige Politik, das Mißtrauen in die Haltung oder in das Geschick (sie) der
leitenden Kreise und die starke Betonung der Friedenslust des Volkes; man will
mit England ebenso ein gutes Verhältnis, wie man es nicht begreifen könnte, wenn
wegen des bißchen Marokko ein Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland ent¬
stünde." Dieses solchergestalt bekundete Mißtrauen der Frankfurter Zeitung in die
Leitung der deutschen Politik ist freilich um so auffälliger, als sie in Berlin be¬
kanntlich über einen der bestiufvrmierten Korrespondenten verfügt, wie deren der
deutschen und der ausländischen Presse in Berlin nur sehr wenig zur Verfügung
stehn, vou dem sie wohl auch über die Spannungen mit England ebenso wie über
das „bißchen Marokko" sorgfältig und korrekt auf dem laufenden gehalten wordeu
ist. Die Parteitage „der letzten Woche" waren doch nur die Jenenser Blamage
der Sozialdemokratie und die vergnügliche Zusammenkunft der Freisinnigen im
Rheingau. Ob die Frankfurterin den Freisinnigen eine Ehre erweist, wenn sie
diese mit den Sozialdemokraten in eine Kategorie bringt und ihre politische Weis¬
heit mit den sozialdemokratischen Verrücktheiten in einen Topf wirft?
Herr Müller meinte, die englischen Verhältnisse seien geradezu ein typisches
Beispiel dafür, was eine fanatische und kurzsichtige Presse in der auswärtigen Politik
sündigen könne. „Die großen Massen des Volks wollen weder in England noch
in Deutschland etwas vou diesen blöden Hetzereien wissen. In England sitzt der
von der Presse künstlich aufgestachelte Haß in einem Teile des politisch völlig ver¬
setzten Kleinbürgertums."
Hierin irrt Herr Müller wieder einmal, wie er sich leider in so vielen Dingen
zu irren pflegt. Die großen Massen sind in England ausgesprochen antideutsch,
antideutsch ist die Stimmung der Arbeiter gegen ihre in England arbeitenden
deutschen Berufsgenossen, die der Handlungsgehilfen gegen ihre deutschen Kollegen usw.
Das U^nig in Sol-nao,? war doch auch nicht etwa aus einem Wohlwollen gegen
Deutschland, und keineswegs aus deu Kreisen des Kleinbürgertums, der Gevatter
Schneider und Handschuhmacher, hervorgegangen, sondern aus den Kreisen der
englischen Exportindustrie; die Bewegung reichte weit nach Indien, Kanada und
Australien hinein und strömte von dort in das Mutterland zurück. „Den Kreisen
des Kleinbürgertums" gehört doch auch wohl der bekannte Seelord Mr. Lee nicht
an, auch nicht den Kreisen, die sich von der Presse in einen künstlichen Haß hinein¬
setzen lassen, ebensowenig der Admiral Fisher, die Seele der gegen Deutschland
gerichteten Neuorganisation der englischen Flotte. Jenen Kreisen gehört auch der
Hof nicht an, dessen Verhalten bei der Vermählung des deutschen Kronprinzen so
allgemein aufgefallen ist. Auch irrt der sonst so allwissende Abgeordnete Müller
i» der Annahme, daß die englische Presse, gleich der deutschen freisinnigen und der
sozialdemokratischen, ihr Publikum jahrelang künstlich in einen Haß hineinsetzen
könnte. Der Engländer, der ja freilich von den andern europäischen Völkern oft
recht wenig weiß und das Wenige nur aus seinen Zeitungen, pflegt sich doch in
sehr viel höherm Maße, als die deutschen Zeitungsleser es im allgemeinen tun,
seine Meinung selbständig und unabhängig zu bilden.
Es ist einmal das Wort gesprochen worden: In England schreibt sich das
Publikum seine Zeitung selbst. Das ist bis zu einem gewissen Grade auch heute
noch richtig. Kein Editor im Vereinigten Königreich könnte es wagen, seinen Lesern
jahrein jahraus Verdächtigungen aller Art gegen Deutschland vorzusetzen, wenn er
Grenzboten IV 1905 15
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |