Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ungarn

bilden sich diese nach den ausschlaggebenden Lebensfragen im Laufe der Zeiten
um. Einige dem anscheinend widerstreitende Jahrzehnte ändern an dieser
politischen Wahrheit nichts, wenn sie auch einen Staat vielleicht dauernd
zurückzubringen vermögen. Weder der große politische Fehler von 1867, noch
die parlamentarische Zerfahrenheit in Österreich, auch schließlich nicht die un¬
endliche Nachgiebigkeit eines Monarchen, bei dem noch Jugendeindrücke ans
den Jahren 1848/49 lebendig sind, können auf die Dauer verhindern, daß
unmögliche Zustände einer vernünftigem Ordnung Platz machen. An die
Selbständigkeit Ungarns ist in keinem Falle zu denken, da die Aufrollung
dieser Frage nicht nur auf den Widerstand der Dynastie, sondern auch auf
den Rußlands und Deutschlands stoßen würde, ebensowenig an die Umwand¬
lung des Dualismus in die reine Personalunion. Der "König von Ungarn"
hat endlich genug gegeben und so wenig Dank dafür gehabt, als daß sich
nicht auch einmal der "Kaiser von Österreich" in ihm regen sollte. Bei der
Heeresfrage hat sich das schon gezeigt, und die staatsmännisch angelegten oder
erfahrnen Männer in Ungarn wissen ganz genau, daß in diesen Richtungen
weder bei Kaiser Franz Joseph noch bei seinem Nachfolger etwas zu er¬
reichen ist. Daran wird weder der von der neuen Banffypartei und von dem
neuerstandnen "ungarischen kaufmännischen Landesverband" adoptierte Ruf
"Los von Österreich," noch die aus Kreisen der Unabhüugigkeitspartei an den
Thronfolger gebrachte Insinuation, man werde seinen in morganatischer Ehe
gebornen Sohn in Ungarn als König anerkennen, etwas ändern. Wir leben
nicht mehr in den Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs; im Zeitalter der Gro߬
staatswirtschaft und Weltpolitik wirken solche kleinpolitische Ideen einfach ab¬
geschmackt.

Bei aller Anerkennung der formellen politischen Tüchtigkeit der Magyaren
kann nicht übersehen werden, daß sie ihren Höhepunkt, den sie auch nur in¬
folge der gewollten Revanchepolitik für Königgrätz und der damit zusammen¬
hängenden Folgen in und für Österreich erreichen konnten, überschritten haben.
Sie entbehren der wirtschaftlichen Eigenschaften, die allein einer politischen
Staatenbildung den festen Rückhalt gewähren können. Ihre Industrie ist krank
und schwach, ihr Ackerbau geht rascher zurück als in andern Ländern, die
heute durch Begünstigung oder eigne geschäftliche Fähigkeit zu etwas gekommen
sind, gehören nicht zum Stamme der Magyaren, wenn sie sich auch geschwind
für fünfzig Kreuzer einen ungarischen Namen kaufen. Die Magyarisiernng
hat trotz allem Regierungsdruck keineswegs die erwarteten und die Zukunft
sichernden Fortschritte gemacht, die härtern Maßregeln der letzten Jahre und
namentlich das Verlangen nach einer magyarischen Armee haben den Wider¬
stand noch verschärft, und man kann doch nicht alle der Cunardlinie über¬
liefern, die durchaus keine Magyaren werden wollen. Schwere Fehler der
liberalen Partei, namentlich der von Wekerle ganz unnötig geführte Kultur¬
kampf und die mehr oder weniger offen betriebne Korruption haben eine
Parteizersetzung eingeleitet, die noch in den Anfängen steckt, aber durch den
immer schärfer hervortretenden Gegensatz der agrarischen und der kapitalistischen
Interessen die liberale Partei sprengen oder zersetzen wird. Das wird nicht


Ungarn

bilden sich diese nach den ausschlaggebenden Lebensfragen im Laufe der Zeiten
um. Einige dem anscheinend widerstreitende Jahrzehnte ändern an dieser
politischen Wahrheit nichts, wenn sie auch einen Staat vielleicht dauernd
zurückzubringen vermögen. Weder der große politische Fehler von 1867, noch
die parlamentarische Zerfahrenheit in Österreich, auch schließlich nicht die un¬
endliche Nachgiebigkeit eines Monarchen, bei dem noch Jugendeindrücke ans
den Jahren 1848/49 lebendig sind, können auf die Dauer verhindern, daß
unmögliche Zustände einer vernünftigem Ordnung Platz machen. An die
Selbständigkeit Ungarns ist in keinem Falle zu denken, da die Aufrollung
dieser Frage nicht nur auf den Widerstand der Dynastie, sondern auch auf
den Rußlands und Deutschlands stoßen würde, ebensowenig an die Umwand¬
lung des Dualismus in die reine Personalunion. Der „König von Ungarn"
hat endlich genug gegeben und so wenig Dank dafür gehabt, als daß sich
nicht auch einmal der „Kaiser von Österreich" in ihm regen sollte. Bei der
Heeresfrage hat sich das schon gezeigt, und die staatsmännisch angelegten oder
erfahrnen Männer in Ungarn wissen ganz genau, daß in diesen Richtungen
weder bei Kaiser Franz Joseph noch bei seinem Nachfolger etwas zu er¬
reichen ist. Daran wird weder der von der neuen Banffypartei und von dem
neuerstandnen „ungarischen kaufmännischen Landesverband" adoptierte Ruf
„Los von Österreich," noch die aus Kreisen der Unabhüugigkeitspartei an den
Thronfolger gebrachte Insinuation, man werde seinen in morganatischer Ehe
gebornen Sohn in Ungarn als König anerkennen, etwas ändern. Wir leben
nicht mehr in den Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs; im Zeitalter der Gro߬
staatswirtschaft und Weltpolitik wirken solche kleinpolitische Ideen einfach ab¬
geschmackt.

Bei aller Anerkennung der formellen politischen Tüchtigkeit der Magyaren
kann nicht übersehen werden, daß sie ihren Höhepunkt, den sie auch nur in¬
folge der gewollten Revanchepolitik für Königgrätz und der damit zusammen¬
hängenden Folgen in und für Österreich erreichen konnten, überschritten haben.
Sie entbehren der wirtschaftlichen Eigenschaften, die allein einer politischen
Staatenbildung den festen Rückhalt gewähren können. Ihre Industrie ist krank
und schwach, ihr Ackerbau geht rascher zurück als in andern Ländern, die
heute durch Begünstigung oder eigne geschäftliche Fähigkeit zu etwas gekommen
sind, gehören nicht zum Stamme der Magyaren, wenn sie sich auch geschwind
für fünfzig Kreuzer einen ungarischen Namen kaufen. Die Magyarisiernng
hat trotz allem Regierungsdruck keineswegs die erwarteten und die Zukunft
sichernden Fortschritte gemacht, die härtern Maßregeln der letzten Jahre und
namentlich das Verlangen nach einer magyarischen Armee haben den Wider¬
stand noch verschärft, und man kann doch nicht alle der Cunardlinie über¬
liefern, die durchaus keine Magyaren werden wollen. Schwere Fehler der
liberalen Partei, namentlich der von Wekerle ganz unnötig geführte Kultur¬
kampf und die mehr oder weniger offen betriebne Korruption haben eine
Parteizersetzung eingeleitet, die noch in den Anfängen steckt, aber durch den
immer schärfer hervortretenden Gegensatz der agrarischen und der kapitalistischen
Interessen die liberale Partei sprengen oder zersetzen wird. Das wird nicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0678" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295897"/>
          <fw type="header" place="top"> Ungarn</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_3430" prev="#ID_3429"> bilden sich diese nach den ausschlaggebenden Lebensfragen im Laufe der Zeiten<lb/>
um. Einige dem anscheinend widerstreitende Jahrzehnte ändern an dieser<lb/>
politischen Wahrheit nichts, wenn sie auch einen Staat vielleicht dauernd<lb/>
zurückzubringen vermögen. Weder der große politische Fehler von 1867, noch<lb/>
die parlamentarische Zerfahrenheit in Österreich, auch schließlich nicht die un¬<lb/>
endliche Nachgiebigkeit eines Monarchen, bei dem noch Jugendeindrücke ans<lb/>
den Jahren 1848/49 lebendig sind, können auf die Dauer verhindern, daß<lb/>
unmögliche Zustände einer vernünftigem Ordnung Platz machen. An die<lb/>
Selbständigkeit Ungarns ist in keinem Falle zu denken, da die Aufrollung<lb/>
dieser Frage nicht nur auf den Widerstand der Dynastie, sondern auch auf<lb/>
den Rußlands und Deutschlands stoßen würde, ebensowenig an die Umwand¬<lb/>
lung des Dualismus in die reine Personalunion. Der &#x201E;König von Ungarn"<lb/>
hat endlich genug gegeben und so wenig Dank dafür gehabt, als daß sich<lb/>
nicht auch einmal der &#x201E;Kaiser von Österreich" in ihm regen sollte. Bei der<lb/>
Heeresfrage hat sich das schon gezeigt, und die staatsmännisch angelegten oder<lb/>
erfahrnen Männer in Ungarn wissen ganz genau, daß in diesen Richtungen<lb/>
weder bei Kaiser Franz Joseph noch bei seinem Nachfolger etwas zu er¬<lb/>
reichen ist. Daran wird weder der von der neuen Banffypartei und von dem<lb/>
neuerstandnen &#x201E;ungarischen kaufmännischen Landesverband" adoptierte Ruf<lb/>
&#x201E;Los von Österreich," noch die aus Kreisen der Unabhüugigkeitspartei an den<lb/>
Thronfolger gebrachte Insinuation, man werde seinen in morganatischer Ehe<lb/>
gebornen Sohn in Ungarn als König anerkennen, etwas ändern. Wir leben<lb/>
nicht mehr in den Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs; im Zeitalter der Gro߬<lb/>
staatswirtschaft und Weltpolitik wirken solche kleinpolitische Ideen einfach ab¬<lb/>
geschmackt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3431" next="#ID_3432"> Bei aller Anerkennung der formellen politischen Tüchtigkeit der Magyaren<lb/>
kann nicht übersehen werden, daß sie ihren Höhepunkt, den sie auch nur in¬<lb/>
folge der gewollten Revanchepolitik für Königgrätz und der damit zusammen¬<lb/>
hängenden Folgen in und für Österreich erreichen konnten, überschritten haben.<lb/>
Sie entbehren der wirtschaftlichen Eigenschaften, die allein einer politischen<lb/>
Staatenbildung den festen Rückhalt gewähren können. Ihre Industrie ist krank<lb/>
und schwach, ihr Ackerbau geht rascher zurück als in andern Ländern, die<lb/>
heute durch Begünstigung oder eigne geschäftliche Fähigkeit zu etwas gekommen<lb/>
sind, gehören nicht zum Stamme der Magyaren, wenn sie sich auch geschwind<lb/>
für fünfzig Kreuzer einen ungarischen Namen kaufen. Die Magyarisiernng<lb/>
hat trotz allem Regierungsdruck keineswegs die erwarteten und die Zukunft<lb/>
sichernden Fortschritte gemacht, die härtern Maßregeln der letzten Jahre und<lb/>
namentlich das Verlangen nach einer magyarischen Armee haben den Wider¬<lb/>
stand noch verschärft, und man kann doch nicht alle der Cunardlinie über¬<lb/>
liefern, die durchaus keine Magyaren werden wollen. Schwere Fehler der<lb/>
liberalen Partei, namentlich der von Wekerle ganz unnötig geführte Kultur¬<lb/>
kampf und die mehr oder weniger offen betriebne Korruption haben eine<lb/>
Parteizersetzung eingeleitet, die noch in den Anfängen steckt, aber durch den<lb/>
immer schärfer hervortretenden Gegensatz der agrarischen und der kapitalistischen<lb/>
Interessen die liberale Partei sprengen oder zersetzen wird. Das wird nicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0678] Ungarn bilden sich diese nach den ausschlaggebenden Lebensfragen im Laufe der Zeiten um. Einige dem anscheinend widerstreitende Jahrzehnte ändern an dieser politischen Wahrheit nichts, wenn sie auch einen Staat vielleicht dauernd zurückzubringen vermögen. Weder der große politische Fehler von 1867, noch die parlamentarische Zerfahrenheit in Österreich, auch schließlich nicht die un¬ endliche Nachgiebigkeit eines Monarchen, bei dem noch Jugendeindrücke ans den Jahren 1848/49 lebendig sind, können auf die Dauer verhindern, daß unmögliche Zustände einer vernünftigem Ordnung Platz machen. An die Selbständigkeit Ungarns ist in keinem Falle zu denken, da die Aufrollung dieser Frage nicht nur auf den Widerstand der Dynastie, sondern auch auf den Rußlands und Deutschlands stoßen würde, ebensowenig an die Umwand¬ lung des Dualismus in die reine Personalunion. Der „König von Ungarn" hat endlich genug gegeben und so wenig Dank dafür gehabt, als daß sich nicht auch einmal der „Kaiser von Österreich" in ihm regen sollte. Bei der Heeresfrage hat sich das schon gezeigt, und die staatsmännisch angelegten oder erfahrnen Männer in Ungarn wissen ganz genau, daß in diesen Richtungen weder bei Kaiser Franz Joseph noch bei seinem Nachfolger etwas zu er¬ reichen ist. Daran wird weder der von der neuen Banffypartei und von dem neuerstandnen „ungarischen kaufmännischen Landesverband" adoptierte Ruf „Los von Österreich," noch die aus Kreisen der Unabhüugigkeitspartei an den Thronfolger gebrachte Insinuation, man werde seinen in morganatischer Ehe gebornen Sohn in Ungarn als König anerkennen, etwas ändern. Wir leben nicht mehr in den Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs; im Zeitalter der Gro߬ staatswirtschaft und Weltpolitik wirken solche kleinpolitische Ideen einfach ab¬ geschmackt. Bei aller Anerkennung der formellen politischen Tüchtigkeit der Magyaren kann nicht übersehen werden, daß sie ihren Höhepunkt, den sie auch nur in¬ folge der gewollten Revanchepolitik für Königgrätz und der damit zusammen¬ hängenden Folgen in und für Österreich erreichen konnten, überschritten haben. Sie entbehren der wirtschaftlichen Eigenschaften, die allein einer politischen Staatenbildung den festen Rückhalt gewähren können. Ihre Industrie ist krank und schwach, ihr Ackerbau geht rascher zurück als in andern Ländern, die heute durch Begünstigung oder eigne geschäftliche Fähigkeit zu etwas gekommen sind, gehören nicht zum Stamme der Magyaren, wenn sie sich auch geschwind für fünfzig Kreuzer einen ungarischen Namen kaufen. Die Magyarisiernng hat trotz allem Regierungsdruck keineswegs die erwarteten und die Zukunft sichernden Fortschritte gemacht, die härtern Maßregeln der letzten Jahre und namentlich das Verlangen nach einer magyarischen Armee haben den Wider¬ stand noch verschärft, und man kann doch nicht alle der Cunardlinie über¬ liefern, die durchaus keine Magyaren werden wollen. Schwere Fehler der liberalen Partei, namentlich der von Wekerle ganz unnötig geführte Kultur¬ kampf und die mehr oder weniger offen betriebne Korruption haben eine Parteizersetzung eingeleitet, die noch in den Anfängen steckt, aber durch den immer schärfer hervortretenden Gegensatz der agrarischen und der kapitalistischen Interessen die liberale Partei sprengen oder zersetzen wird. Das wird nicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/678
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/678>, abgerufen am 23.07.2024.